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V.

»Ist Ihr Koffer geschlossen?« fragte die alte Frau von Grandpré, als Bersheim aus seinem Zimmer herabkam, um im Salon die letzte Stunde vor seiner Abreise zu verbringen. Er wollte den Nachmittagszug benutzen.

»Wegen unserer lieben Anina können Sie ganz beruhigt sein. Sie ist uns wie ein Kind des Hauses. Jedermann vergöttert sie. Sie werden sie ebenso schön und rosig wiederfinden, wie Sie sie verlassen. Sie versteht sich so gut mit Claire!« Sie lächelte: »Von einer anderen Person ganz zu schweigen!«

Angesichts des schweigenden Kummers der beiden Verlobten hatte sie sich voll mütterlichen Verständnisses ihrer eigenen Jugend und Liebe erinnert. Sie hatte Bersheim den Vorschlag gemacht, Anina hier zu lassen. Was brauchte er sie dort unten? Eine so umständliche und beschwerliche Reise ... Und da doch Frau Bersheim, sobald ihre Geschäfte erledigt waren, mit ihrem Manne zurückkehren wollte und Großmutter Sophia versprochen hatte, in einigen Monaten sich von Metz zu trennen, um der Hochzeit beizuwohnen ... Tiefgerührt dankte ihr Bersheim noch einmal.

Sein Blick umfing den traulich warmen Raum, den roten Brokat der Wände, die behaglich in der Kaminecke sitzende alte Frau. Ja, hier war Anina sicher geborgen! Mit dunklem Bangen dachte er an diese Reise, die er schon zu lange hinausgeschoben hatte. Trotz der Sehnsucht, seine Frau wiederzusehen, trotz der Notwendigkeit, sich mit seinen Interessen zu beschäftigen, sah er nur das Bittere, das ihn dort erwartete: in den alten, schlecht gepflasterten Straßen unter seinen Fenstern den rythmisch harten Schritt der schwerfälligen Stiefel, das arrogante Säbelgerassel ...

Fast bedauerte er, dieses Versailles zu verlassen, wo er noch am Morgen, trotz der herzlichen Gastfreundschaft der Grandprés, kaum atmen zu können geglaubt hatte. Würden sie ihm nicht fehlen, diese Couloirs, diese Sitzungen der Nationalversammlung, zu denen er unbezwinglich sich hingezogen gefühlt hatte? Ach, er durfte sich keine Illusionen machen! Die verlorenen Provinzen blieben für lange Zeit verloren; ehe das Land den Krieg wieder beginnen konnte gegen den Sieger, dessen Forderungen zu befriedigen es Jahre noch brauchen würde; ehe für diesen Krieg befähigte und tüchtige Armeen bereit waren, mußte noch viel Wasser unter den Brücken von Metz und Straßburg dahinfließen. Die Nationalversammlung, nur von ihrem inneren Traume absorbiert, ohne sich um das zu kümmern, was das Land sich dachte, kannte nur ein Ziel: zuerst in der Kommune die Republik vernichten und sodann die Monarchie wieder aufrichten ...

Noch brauste ihm in den Ohren das Hohngelächter und Gemurmel, womit die Majorität Jean Brunets neuen Vorschlag aufgenommen hatte: man möge sich bereit erklären, in Unterhandlungen mit Paris zu treten, um dem Bürgerkrieg ein Ende zu machen und jeden Angriff augenblicklich zu vereiteln ... Man zog es vor, unter dem fernen Lärm der Kanonade gähnend die endlosen Petitionen anzuhören, von denen die abgeschmacktesten diejenigen schienen, die den Frieden, die Versöhnung forderten; man zog es vor, in zahllosen Sitzungen über das Mietzinsgesetz zu beraten und zu diskutieren, als ob das Schicksal von Paris davon abhinge! ...

»George wird so früh als möglich nach Hause kommen«, sagte Frau von Grandpré. »Es liegt ihm viel daran, den letzten Abend mit Ihnen zu verbringen.«

Bersheim war darüber erfreut und beunruhigt. Er wollte nicht unter dem ungünstigen Eindruck einer allzu hitzigen Diskussion Abschied nehmen, und andererseits nahm er an Grandprés erstaunlichen Mitteilungen ein leidenschaftliches Interesse. Der Sekretär war ihm durch seine tägliche Berührung mit Thiers und dessen Vertrauten eine lebendige Zeitung, und zwar die ausführlichste und bestunterrichtetste. Durch ihn enthüllten sich ihm täglich die Vorder- und die Kehrseite der politischen Begebenheiten, die bald als Trauerspiel, bald als Komödie wirkten. Dem Kabinett Thiers blieb, dank den von allen Seiten bezahlten Spionen, nichts von dem verborgen, was im Rathaus, in den Delegationen und Kommissionen geschah. Eben diese Woche hatte Bersheim dank Grandprés Berichten, die wirren Fäden der großen Intriguen verfolgt, welche sich in den Beratungen der Kommune kreuzten, und welche die Schauspieler unsichtbar leiteten.

So hatte er von dem versteckten Antagonismus zwischen Rossel und Cluseret erfahren. Dieser haltlos, unsicher, von oben herab seine Ordres erlassend und sofort wieder in seine flotte, dem Vergnügen nachjagende Lebensweise zurückfallend, in den Augen vieler mehr als verdächtig; jener ein Mann aus einem Guß im Politischen wie im Militärischen, auch er verdächtig, doch durch sein wachsendes Ansehen, durch seine Reden voll Schneidigkeit und Schärfe, seine lebhafte und klare Intelligenz, welche die einen erschreckte, die anderen berückte, ja selbst durch sein Bestreben, der locker zusammengefügten Armee eine feste Disziplin aufzuzwingen. Ein Schiedsspruch des jungen Kriegsgerichtspräsidenten, der einen Bataillonschef wegen dessen Weigerung, gegen den Feind zu marschieren, zum Tode verurteilte, war von der Revisionskommission kassiert worden.

Das Rathaus witterte überall eine Diktatur und betrachtete seine Generäle mit Mißtrauen, – gezwungen, sie zu dulden, bereit, sie abzuschütteln und doch notgedrungen sie vorläufig noch schonend. So Lullier, der seit seiner Flucht aus der Conciergerie jeder Autorität trotzte und, von Leibwächtern umgeben, seine Taschen mit Revolvern vollstopfte; seine Getreuen, Ganier d'Abin, und Bisson, sicherten ihm in Montmartre und Ménilmontant eine Stütze und nährten angesichts der ausübenden Gewalt die Verschwörung der Unzufriedenen. Er selbst war umso unzufriedener, da er bei den Ergänzungswahlen am sechzehnten durchgefallen war. So Assi, in dem man vor allem den Vertreter des Zentralkomitees zu treffen suchte, und der, in Freiheit gesetzt, sich nun in der Munitionskommission breit machte, ganz stolz darauf, Lulliers Wahl bekämpft und vereitelt zu haben. So Bergeret, der am Tage nach seiner Freilassung bei der Sitzung im Rathaus präsidierte und auf irgend eine einträgliche Stelle lauerte ...

Mehr als alles aber, mehr als diese persönlichen Konflikte, fürchtete die Kommune das gänzlich neu konstruierte Zentralkomitee, das seine gierigen Hände immer weiter ausstreckte. Da es das Schiff in Gefahr sah, trachtete es, seinen früheren Platz, seine führende Stelle wiederzuerobern. In der letzten Sitzung griff Moreau die unfähigen Nachfolger an: das Komitee müsse seine revolutionäre Aufgabe wieder übernehmen; eine neuerliche Versammlung der Nationalgarde müsse ihm ein bestimmtes, deutlich umgrenztes Mandat übertragen, damit es die höchste Kontrolle ausüben könne.

Besonders aber hatten Raoul Rigaults letzte Taten und die gefährdete Lage des Polizeidelegierten Bersheim interessiert. Er erblickte in den beständigen Vergewaltigungen der individuellen Freiheit einen der schlimmsten Fehler der Kommune. Glücklicherweise hatte der Schurke durch seine Maßlosigkeit die Geduld selbst seiner Freunde erschöpft. Pilotell, der nicht nur die Schubfächer von Chaudey, sondern auch die Kasse des Blattes L'Eclipse geplündert hatte, indem er den Redakteur verhaften ließ, war abgesetzt worden. Auch hatte man der Gasgesellschaft die Summe von 183 000 Francs, die ihr bei einer Haussuchung abgenommen worden war, zurückerstattet. »Übereifer«, hatte der Offiziel konstatiert. Endlich wurde zur besseren Kontrolle jedes Mitglied der Kommune berechtigt, die Gefängnisse zu besuchen, und drei Delegierten wurde das Amt der Visitierung und der Enquete übertragen ... Kein Zweifel, daß Rigault, wenn er diesen Beschluß erfuhr, Skandal machen und sich gegen den darin ausgesprochenen Tadel zur Wehr setzen würde. Ungeduldig erwartete Bersheim die neuesten Nachrichten.

»Da ist Georges!« sagte Frau von Grandpré.

Ihre feinen Züge verklärten sich. Sie hatte ein ungemein scharfes Gehör, und ihr Mutterherz erriet in dem leisen Geräusch ferner Schritte die Nähe des Sohnes. In ihm, dem eleganten Manne mit dem sicheren Taktgefühl und den vortrefflichen Anschauungen, lebte sie selbst wieder auf.

Mit gemessener Ruhe trat Grandpré ein, küßte seiner Mutter die Stirn und drückte Bersheim die Hand:

»Hehe! Schöne Sitzung heute im Rathaus! Einer unserer ergebenen Freunde brachte uns eben den Bericht. Es geht ja gut zu in der Menagerie! Sie haben sich wieder einmal untereinander aufgefressen. Wenn das so fortgeht, findet man, wenn wir eines Tages die Tür öffnen, nichts weiter vor als »einen Haufen von Knochen und zerfetztem Fleisch für die Hunde«.« – Er lächelte über diesen Witz und fuhr dann fort: »Rigault hat verlangt, daß man den gestrigen Beschluß, wenigstens so weit er sich auf die Geheimgefangenen bezieht, widerrufe. Arnould fährt entrüstet auf, – was für Skrupel plagt diese Kerle? – protestiert gegen die Immoralität und die Ungerechtigkeit des Geheimverfahrens und fordert die Öffentlichkeit der Untersuchungen; Theiß tut desgleichen, Rigault erklärt, daß ohne Geheimverfahren keine Untersuchung und keine Polizei möglich sei und gibt seine Demission als Delegierter. Ferré schließt sich ihm an.«

»Bravo!« rief Bersheim. »Und wer tritt an seine Stelle?«

»Einer namens Cournet ... Freuen Sie sich nur nicht zu früh! Die doppelte Lücke in der Kommission mußte doch ausgefüllt werden; so ernannte man – wissen Sie, wen? – Ferré und Rigault. Wie gut die Kommission ist! Ganz wie die Clowns im Zirkus, die auf einer Seite die Tür zuschlagen und auf der anderen wieder erscheinen ... Es wäre komisch, wenn es nicht so traurig wäre.«

Die Bemerkung traf zu. Bersheim nickte zustimmend mit dem Kopfe Grandpré strich sich in heimlichem Triumph den Schnurrbart.

»Apropos, ich bin Du Breuil begegnet. Mit Geschäften überhäuft! Er kann nicht zum Diner kommen und wird Ihnen auf dem Bahnhof Lebewohl sagen ... Alles ist in Wirrwarr und Aufregung wegen der Ankunft und Unterbringung der neuen Korps von Clinchant und Douay. Die Armee ist nun komplett. Thiers hat allen Grund, stolz zu sein! Binnen sechs Wochen hundertvierzigtausend Mann zusammenbringen und diese imposante Belagerungsartillerie mit tausend Stück Munition per Geschütz – ein bisher für den Angriff eines befestigten Platzes unerhörtes Aufgebot, – vor Paris führen ...«

Nachdenklich wiederholte sich Bersheim die Ziffern. Hundertvierzigtausend Mann, mehr als die Hälfte dessen, was Frankreich zu Beginn des Krieges gegen die Deutschen geführt hatte! Hunderttausend Mann gegen Franzosen!... Taub gegen diese Bemerkung, – mit Empfindsamkeit regiert man nicht! – fuhr Grandpre fort:

»Haben Sie am Ufer des Schweizer Teiches die schönen Regimenter gesehen? Ihre feste, stolze Haltung erregt die Bewunderung aller.«

»Ich sah sie vor Metz«, versetzte Bersheim bitteren Tons.

Ein offizielles Zirkular hatte denselben Tag das Eintreffen der tapferen Soldaten von Gravelotte angekündigt und den Heldenmut ihrer Niederlage gerühmt. In einer gerechten, aber in solcher Zeit wie eine niedrige Speichelleckerei klingenden Huldigung feierte man die vom Schicksal Besiegten, die glorreich Geschlagenen als die zukünftigen Sieger. Mehr als einer unter ihnen mußte den Weihrauch allzu aufdringlich finden. Dieselbe Proklamation notifizierte mit befriedigter Härte die Kämpfe der letzten Tage und verkündete, daß am zwanzigsten Bagneux den Föderierten weggenommen, deren Angriff längs einer mit Leichen besäten Straße abgeschlagen, die verhaßte rote Fahne mitsamt ihrem Träger genommen worden war ...

Nach Beendigung der Geniearbeiten sollten die konzentrierten Truppen bald zu den aktiven Operationen übergehen. Der totale Effektivbestand wurde einzeln aufgezählt: dreiundfünfzig Batterien jeden Kalibers, sechzig Marinegeschütze, fünfundvierzig Infanterieregimenter, zwei aus republikanischen Garden und Gendarmen gebildete Regimenter, dreizehn Kavallerieregimenter, zehn Chasseurbataillone, zehn Geniekompagnien, außerdem eine Reserve von sechzigtausend Mann.

Grandpré rieb sich die Hände und betrachtete aufmerksam die glänzenden, wohlgepflegten Nägel.

»Was die, Kraft zu vollbringen bereit ist, bereitet die List vor! Domalain und Charpentier haben eine ganze kleine Armee am Platze. Arrohnson ist im Begriffe, Cluseret, Cournet – und noch etliche andere einzuschließen! Boudard ist nahe daran, Passy zu erreichen und hält Oberst Laporte in Atem. Und das ist noch nicht alles!«

Mit geheimnisvoller Miene betrachtete Grandpré noch aufmerksamer seine langen, schlanken Hände. Unwillkürlich blickte auch Bersheim darauf hin und ihm war, als könnte keine politische Arbeit deren makellose Weiße und Zartheit beflecken.

»Wenn Sie zurückkommen«, schloß Grandpré, »sind wir jedenfalls wieder in Paris. Bis dahin wird es vorbei sein mit dieser Regierung von Affen und Tigern, mit dieser traurigen Hanswurstiade, die der Zielpunkt des Gespöttes für Europa und selbst für die neue Welt ist! ... Erinnern Sie sich dieser schönen Geschichte, wie Grousset urbi et orbi den schmeichelhaften Besuch meldete, mit dem der bevollmächtigte Minister der ... Äquatorrepublik ihn beehrt hatte! ... Haha! das war ein falscher Minister, mein Lieber! Die vortreffliche Farce eines schlechten Spaßvogels!«

Die alte Dame seufzte:

»Gott wird sich endlich unser erbarmen! Auch diese Zeiten werden vorübergehen.«

Bersheim dachte an den Erzbischof und erkundigte sich nach dem Erfolg der versuchten Schritte. Doch Grandpré verhielt sich sehr reserviert. Es war noch nichts entschieden ...

Indessen hatte, gleichzeitig mit Blanquis Freunden, der natürliche Protektor des Erzbischofs, Pius IX., sich in Bewegung gesetzt und dem Nuntius Chigi den dringenden Auftrag erteilt, die Vertreter der Mächte zur Intervention aufzufordern. Lord Lyons hatte sich der Aufgabe entzogen, der amerikanische Gesandte jedoch, der, mit der Vertretung der deutschen Interessen in Paris während der Belagerung betraut, sich beständig dort aufhielt, hatte sich bereit erklärt, die Vermittlung zu übernehmen. Ein permanenter, von Rigault ausgestellter Passierschein gestattete ihm, den Erzbischof täglich zu besuchen. So sah sich Thiers von zwei Seiten durch Bitten und Vorstellungen bedrängt. Wenig jedoch zu einer günstigen Antwort geneigt, besonders seit der Veröffentlichung des ersten Briefes über die Hinrichtungen, verschanzte er sich hinter die Notwendigkeit, den Ministerrat und die Kommission der Fünfzehn zu befragen ...

Abbé Lagarde, nach vier Besuchen auf den zweitnächsten Tag vertröstet, benachrichtigte davon den Erzbischof und De Flotte und berichtete ihnen über den durch die Mitteilungen im Affranchi verursachten Mißerfolg ... Den 18., als alles beim alten blieb, hatte Monseigneur Darboy an seinen Vikar geschrieben und ihm nur noch vierundzwanzig Stunden zu bleiben erlaubt. Als Antwort darauf meldete Lagarde in einem mit Bleistift gekritzelten Billet, daß Thiers ihn immer noch zurückhalte; er würde schreiben, sobald wieder ... Den 23. brachte eine durch eine vertrauenswürdige, von Washburne und dem Nuntius entsandte Persönlichkeit überbrachte Ordre dem Geistlichen den Befehl, zum Erzbischof nach Mazas zurückzukehren: »Man konnte nicht begreifen, daß zehn Tage einer Regierung nicht genügten, einen vorgeschlagenen Tausch anzunehmen oder abzulehnen.« So standen die Dinge, in einem trüben, etwas verdächtigen Zwielicht, in einem trüben Mysterium von Berechnungen und Hintergedanken, das durch die Geheimhaltung der Entscheidung des Ministerrates und der Kommission der Zehn noch beunruhigender wurde.

Bersheim wunderte sich, wie wenig Verständnis seine Sympathien für die Geiseln fanden. Er bewunderte Monseigneur Darboys edle Erscheinung, sein bewährtes Festhalten an den Grundsätzen der gallikanischen Kirche, die Größe der Ideen, mit der er im letzten Konzil die weltliche Macht bekämpft hatte. Er, der Protestant, sorgte um sein Geschick weit mehr, als die Katholiken. Grandpré kniff diplomatisch die Lippen zusammen: das war ein Gegenstand äußerter Zurückhaltung. Es war nutzlos, sich darüber in eine Diskussion einzulassen; er hätte dabei die intimsten Gedanken dessen enthüllen müssen, der in dieser Sache nicht die schönste Rolle spielte.

Seine Mutter lächelte ihr gewohntes nachsichtiges Lächeln, das sich mit liebenswürdigem Wohlwollen in alles schickte und in dem wohligen Bewußtsein der gesicherten, behaglichen Existenz alles freundlich beurteilte. Anina und Klaire traten ein. Frau von Grandpré begrüßte sie mit herzlicher Anmut.

Zärtlich betrachtete Bersheim seine Tochter und bemerkte, wie ein Schatten der Enttäuschung über ihre Züge flog. Sie dachte nicht an ihn, der für mehrere Wochen schied, sondern an Du Breuil, der für eine Stunde fern blieb! Unwillkürlich ergriff ihn ein Gefühl trauriger Wehmut ... Das war das ewige Gesetz: die Jugend strebt mit jedem Nerv ihrem Schicksal, dem Lichte zu, während die Alten Schritt für Schritt in den Schatten zurückweichen ... Was tun? So ist es eben! Wenigstens bauten seine Kinder sich ein glückliches Heim, an dessen häuslichem Feuer er ein entwurzeltes Alter wärmen durfte. Wenn nur Anina glücklich wurde und auch Maurice eine gute, liebe Frau fand, dann war seine Aufgabe erfüllt ...

Den nächsten Morgen nahmen die Poncets in dem Speisezimmer, dessen Fenster trotz der kühlen Luft offen standen, ihren Milchkaffee. Im Gärtchen zwitscherten die Vögel in dem dichten Laubdach der im rosigen Schmuck ihrer Blüten prangenden Kastanienbäume. Durch den leichten Dunst funkelten gleich zahllosen Diamanten die Fenster von Paris im Glanz der Sonne. Frau Poncet, die eine große Brotschnitte mit duftend frischer Butter bestrich, sagte mit liebevollem Blick:

»Das ist für dich, Martial. Heute gibt es keine warmen Kipfel.«

»Allerdings«, bestätigte Poncet, »in den Backhäusern ist die Nachtarbeit verboten.«

Er zuckte die Achseln. Martial ließ sich verhätscheln, während er sich in Sehnsucht nach Arbeit und im Gefühl seiner Ohnmacht verzehrte. Was tat er hier? Wie konnte man Künstler sein und Künstlerisches schaffen in dieser Umwälzung der ganzen Existenz, wenn die Quellen der Begeisterung allerorten vergiftet waren? ... Als Bürger verwarf er eine Partei nach der anderen und fand in keinem dieser Extreme eine gebieterische Triebfeder des Handelns. Fast beneidete er seine Eltern, die ihre Sorgen durch frische Tätigkeit betäubten. Seine Mutter, die unermüdlich in den Ambulanzen sich abmühte, als weltliche Krankenpflegerin den Nonnen zur Seite stand, den Verwundeten ihre Schmerzen linderte. Sein Vater ... Voll Verehrung betrachtete er die geistvollen Züge mit den feurigen Augen, die breite Stirn mit der grauen Locke. Der Chemiker schob seine Tasse von sich und blickte vergnügt über den klaren Himmel und das in durchsichtigem Dunste sich vor seinen Augen ausbreitende Paris. Dann wandte er sich zu Frau und Sohn und lächelte ihnen mit einer mit Schwermut gemischten Malice zu:

»Das ist ein Datum, das einen Mahlstein in der Geschichte unserer Liga bedeutet. Dienstag der 25. April! Die armen Leute von Neuilly werden sich seiner erinnern! Ah! wenn der Waffenstillstand den Beginn eines wirklichen Friedens bedeutete, dann würde ich noch weniger all die Mühe bereuen, die er uns gekostet!«

Wie vieler Versammlungen, Unterredungen und Schritte hatte es bedurft, um die Überlebenden aus ihren zertrümmerten Häusern, ihren Kellerlöchern, in denen sie sich verborgen hatten, zu befreien und vor dem Feuer, das seit drei Wochen von Versailles und von Paris aus Neuilly in einen Friedhof verwandelte, in Sicherheit zu bringen! Auf welchen Widerstand elender Eigenliebe war man gestoßen! Angesichts dieses an alberne Formalitäten sich klammernden Hochmuts, angesichts dieser Äußerungen unpersönlichen Hasses konnte man sich in ein von Wilden bewohntes Land versetzt wähnen.

Neun Tage lang erschöpfte man sich in Besuchen und Vorstellungen, sowohl bei der rechthaberischen Kommune, als auch bei dem sich taub stellenden Thiers; man wurde von Cluseret zu Dombrowski, von Barthélemy Saint-Hilaire zu Ladmirault geschickt. Keiner konnte sich entschließen, als elfter die weiße Fahne aufzupflanzen. Endlich erhielten Bonvalet von Paris, Stupny von Versailles das gewünschte Versprechen ... Den 20. besinnt sich Versailles wieder: in eine Waffenruhe willigen, heißt, den Insurgenten die Rechte von Kriegführenden zuerkennen. Und das – niemals! ... Den 21. findet man einen Ausweg: zwei Delegierte der Liga – man hatte zuerst an Clemenceau und Floquet gedacht – sollten als Parlamentäre von Seite der Ordnungspartei, zwei andere von Seite der Aufständischen auftreten ... So war die Tradition gewahrt, der Stolz gerettet. Den 25., von neun Uhr morgens bis fünf Uhr abends, sollten die Kanonen schweigen.

Der gestrige Tag war mit Vorbereitungen aller Art ausgefüllt gewesen. Während die Kommune, die die Ehre an dem Erfolg für sich in Anspruch nahm, fünf ihrer Mitglieder zu entsenden beschloß, um das Rettungswerk zu leiten und neben der Kundmachung der Liga eine offizielle Proklamation veröffentlichte, hatten Poncet und seine Freunde alle Kräfte in Bewegung gesetzt, um die Transporte und die Verproviantierung zu sichern. Alles war bereit: soeben sollten dreißig Ambulanzwagen, welche eine Anzahl von Geschäftsleuten und der Bon Marché zur Verfügung gestellt hatten, vom Industriepalast aus abfahren; das Haus Duval wollte Suppe, Fleisch und Brot verteilen. In den öffentlichen Etablissements und den verlassenen Häusern waren Wohnungen hergerichtet worden; ein von Malon erlassenes Dekret hatte den Bewohnern der bombardierten Straßen Unterkunft in den intakt gebliebenen Stadtteilen zugesichert.

»Nun denn«, sagte Poncet, »es ist Zeit! Meinen Mantel, Agathe. Ich weiß nicht, wann ich nach Hause komme ...«

Unermüdlich tätig, war er einer von den fünfunddreißig, die ihre Hilfe zugesagt hatten: die einen wollten sich in Permanenz in den Champs-Elysees halten, während er mit andern die Wagen nach Neuilly begleitete. Er war in so froher Stimmung, daß er zu pfeifen begann. Nein, noch war vielleicht nichts verloren. Einen Augenblick gab er sich dieser Hoffnung hin, die, so oft enttäuscht, immer wieder sich Bahn brach und sein Vertrauen in Frankreichs Hilfsquellen aufrecht erhielt; der gesunde Sinn des Landes mußte doch endlich recht behalten, dieses furchtbare Fieber sinken. Die Nation würde sich ins Mittel legen ...

Nirgends entsagte die Versöhnungsliga ihrem Plane; die Bemühungen wurden beständig erneuert und verdoppelt. Vierundzwanzig syndikale Arbeiterkammern hatten sich dem Programm der Liga angeschlossen. Die National-Union für Handel und Gewerbe, ein erstes Mal in Versailles abgewiesen, entschloß sich zu einem neuerlichen Versuche. Die in Paris wohnenden Provinzialen vereinigten sich und beabsichtigten, sämtliche aus den Departements stammenden Einwohner zu gruppieren. Der Freimaurerbund beschloß die Entsendung von Delegierten nach Versailles, um in energischer Weise den Frieden zu fordern. Dreihundert Bürgermeister, Gehilfen und Stadträte der Arrondissements Saint-Denis und Sceaux, die sich in Vincennes versammelt hatten, verlangten in einer Adresse die Niederlegung der Waffen, die Verleihung umfassenderer Freiheiten, als die von dem neuen Gesetz verliehenen, die Gründung der Republik und vor allem die Befreiung von allen Repressalien. Der ehrenwerte Beslay forderte Thiers auf, seine Demission zu nehmen. Endlich erließ Schoelcher, während die Versailler Deputierten der Linken, die sich selbst zum Schweigen verurteilt hatten, in Privatbriefen die Qual ihrer Ohnmacht aussprachen, einen letzten Aufruf zu einer Transaktion.

Martial reichte seinem Vater den Wettermantel mit dem abgetragenen Kragen und den alten Falten. Er hatte die Pariser Winter des Kaiserreiches, hatte die Kampagne im Kotmeer der Loire mitgemacht und würde wohl einst noch bessere Zeiten sehen, den festlichen Tag, da Soldaten und Volk einander auf der Straße brüderlich umarmen würden.

Warum nicht?

»Du hoffst?« fragte Martial ... »Man könnte glauben, daß du Dufaures Zirkular an die Generalprokuratoren nicht gelesen habest.«

Als verständiger Biedermann hatte der Justizminister jeden Verteidiger der Kommune ihrer Wachsamkeit empfohlen. Den Zwist benützend, der aus dem einzig nach Frieden verlangenden Lande eine monarchische Nationalversammlung hatte hervorgehen lassen, überantwortete er jeden Schriftsteller, der seine Feder durch seine Angriffe gegen diese Nationalversammlung, »den freiesten und zuverlässigsten Ausdruck des allgemeinen Stimmrechtes«, entehrte, der Strenge der Gerichte. Ja, er ging so weit, jeden, der in einer »scheinbar gemäßigten, aber deshalb nicht weniger gefährlichen Sprache« sich zum falschen Apostel einer unmöglichen Versöhnung auswarf, dem Verdammungsurteil der Gesellschaft zu empfehlen.

Poncet schnitt eine Grimasse:

»Die polternde Stimme des Gendarmen, der seine Drohungen nicht ausführt. Die wenigst liberalen Blätter nehmen dieses heilige Recht der Versöhnung für sich in Anspruch! Es fehlte nur noch, daß man uns als Feinde behandelte! Gewiß setzen wir uns der rohen Ungerechtigkeit der einen oder anderen aus. Doch diese Verstimmung wird vorübergehen. Was ist ohne Versöhnung möglich? Solche Worte sind einer ordentlichen Regierung, einer französischen Nationalversammlung unwürdig. Dufoure hat ihre Absichten entstellt. Der Temps hat recht.«

Er zitierte aus dem Gedächtnis einen Artikel, der demnächst erscheinen sollte und den er im Bürstenabzug gelesen hatte. Die Versöhnung ablehnen, das hieß Paris erstürmen, die Barrikaden mit Blut tränken! Das bedeutete den Überfall der Häuser durch die Insurgenten und die Truppen, die Auslieferung der Einwohner an die blinde Wut der Aufständischen, die Feuersbrunst in den Straßen, den Krieg bis aufs Messer, den man gegen die Preußen nicht durchzuführen vermocht! Nein, über der Gemeinde, über der Nationalversammlung stand die Sorge für den öffentlichen Frieden, standen die höchsten Interessen der Menschheit!

Er setzte hinzu:

»Louis Blanc hat es gesagt: »Die Gewalt gründet nichts, weil sie nichts löst ...« Jetzt aber muß ich fort.«

Martial und seine Mutter begleiteten ihn bis zum Gitter. Im selben Augenblick öffnete sich die Gartentür. Atemlos trat Catisse ein, sein gutmütiges Gesicht trug einen sorgenvollen Ausdruck. Er drückte Poncet die Hand:

»Welches Glück, daß ich Sie antreffe!«

Und zu Martial gewendet:

»Sie sind hier nicht mehr in Sicherheit! Ja, ich habe gestern in der städtischen Kommission eine nette Denunziation gehört: man beschuldigt Sie, Agent von Versailles zu sein. Es ist ja lächerlich, albern, aber es ist so! Es gibt im Komitee wachsame Leute, die keinen Spaß verstehen! Ich wollte Sie nur warnen ... Sie werden sich dank den Konnexionen Ihres Vaters aus der Schlinge zu ziehen wissen ... Aber als Abtrünniger und dem Gesetz der Marschbataillone unterstehend könnten Ihnen noch andere Unannehmlichkeiten erwachsen ... In einem so wütend roten Arrondissement wie das unsere ist ...«

Die letzten Worte waren in einem Tone des Bedauerns gesprochen. Er gehörte zu dem Stadtviertel und liebte es. Jeden Dank abwehrend, entfernte er sich ebenso schnell, wie er gekommen.

»Teufel!« sagte Martial. »Ich habe nicht die geringste Lust, die weiße Schürze wieder umzubinden.«

Eines Tages hatte seine Mutter ihn als Krankenwärter in eine Ambulanz mitgenommen. Dort würde er in Sicherheit sein ... Doch er hielt es nicht länger als den einen Morgen dort aus. Nein, dazu fühlte er nicht den leisesten Beruf! Diese Anatomiestudien am lebenden Körper, die gebrochenen Beine, die geöffneten Bäuche, und dazu dieser Gestank von Brand und Eiter! ... Nun denn, wenn Paris nichts von ihm wissen wollte, dann ging er lieber fort. Poncet dachte einen Augenblick nach und schlug vor:

»Willst du nach Charmont? Deine Tante Gabriele wäre gewiß glücklich ...«

»Hauptsache ist jetzt nicht, zu wissen, wohin sich wenden, sondern, wie von hier fortkommen.«

»Und mein Passierschein?« meinte Martial.

»Ist gut für die Tore! hinter diesen aber stehen die Versailler Linien«, versetzte der Vater. »Die überschreitet man nicht so leicht.«

Ein hermetischer Halbkreis umgab Paris, auf der anderen Seite durch den deutschen Gürtel geschlossen. Viele Flüchtlinge gerieten ins Netz der Vorposten, wie Fliegen im Spinngewebe, wurden hier aufgehalten, einem Kreuzverhör unterzogen, oft gefangen genommen und vermochten nur mit vieler Mühe, sich wieder freizumachen. Selbst die Briefe entgingen nur schwer diesen Hindernissen, in suburbanen Taschen von Emissären hin und hergeworfen. Die politischen Nachrichten wurden durch freie Ballons vermittelt, welche sie weit von der blockierten Hauptstadt über Städte und Dörfer forttrugen. Ein automatischer Schneller ließ die losen Blätter in zeitweiligem Platzregen auf die Erde niederschauern.

Alle drei überlegten schweigend. Solange sie diesen Augenblick auch vorausgesehen hatten, so grausam empfanden sie ihn doch nun, da er gekommen war.

»Das beste wäre«, schlug Frau Poncet vor, »wenn Martial dich nach Neuilly begleiten würde. Von dort aus könnte er vielleicht leichter, im Schutze des Waffenstillstandes ...«

Sofort war der Entschluß gefaßt. Poncet kehrte in sein Arbeitszimmer zurück, entnahm einer Schatulle ein Tausendfrankbillet und legte es, als Reservefonds für schlimme Tage, in Martials Hände. Schon hatte seine Mutter ihn zum Abschied umarmt. Wann würden sie sich wiedersehen? Auf Nachrichten durfte man nicht rechnen ... Tapfer beherrschte sie ihre Rührung. Sie begleitete sie außerhalb des Gartens bis an das Ende der Straße; dort verließ sie sie nach einer letzten Umarmung, als sollten sie sich gleich wiedersehen. Als sie jedoch allein war, versagte ihr tapferer Mut; unbeweglich, die Augen von Tränen umflort, blickte sie lange noch ihrem Sohne nach.

Die beiden Männer trafen nicht vor acht Uhr beim Industriepalast ein. In den Champs-Elysees häuften sich Fuhrwerke aller Art, von der Equipage angefangen bis herab zu den Möbelwagen, Omnibussen und Fiakern. Poncet übernahm die Führung eines Zuges. Die rote Karte des Kommissärs auf dem Hut, gruppierte er geschäftig seine Leute. Martial setzte sich neben ihn auf den Sitz eines Breaks; der Zug setzte sich in Bewegung.

Je mehr man sich der Place de l'Etoile, näherte, je dichter strömte die Menge herbei. Auf der Schwelle der verödeten Häuser wagten sich die Portiers hervor. Immer noch zischten einzelne Granaten. Es war neun Uhr vorüber, als ein Geschoß neben dem Triumphbogen explodierte. Die Splitter beschädigten die mächtige Fassade, die kunstvollen Basreliefs. In der Avenue de la Grande-Armee pfiff eine zweite Granate und warf einen zum Zuge gehörigen Arbeiter, der seine Pfeife im Munde hielt, gegen einen langen, gelben Möbelwagen. Gespaltene Mauern, eingestürzte Dächer, geborstene Balkons, – so begann die schauerliche Verwüstung. Der Break fuhr zwischen einem Spalier von Trümmern dahin. Nicht ein Haus blieb verschont, Steine bedeckten das Trottoir, das Macadam war aufgewühlt, Kandelaber lagen der ganzen Länge nach zwischen den zerbrochenen Ästen.

Trotz der roten Karte konnten die Wagen die momentan unbenutzte Porte-Maillot nicht passieren. Das Geschrei, das Gedränge, das Jammern der Verwundeten, die Bemerkungen der müßigen Gaffer verschmolzen in einen wüsten Lärm; ganz in der Nähe schossen aus dem Schlosse de l'Etoile die Flammengarben empor.

Während Poncet und Martial die Ternes erreichten, verfolgte sie das tragische Bild der Porte-Maillot. Kaum eine Spur war von ihr übrig. Die ausgerenkten Zugbrücken hingen locker in ihren Angeln; die eingestürzten Schießscharten, die mit Trümmern gefüllten Gräben zeugten von der Erbitterung des Kampfes. Mit Mühe nur brach der Zug sich Bahn durch diese lärmende Menge, in welcher die die Passierscheine visierenden Gardisten im Bewußtsein ihrer Wichtigkeit sich bewegten. Beinahe verödet dehnte sich die Avenue du Roule; die ersten Häuser waren unversehrt. Bald wurde die trostlose Verwüstung sichtbar.

Je näher man dem Boulevard d'Inkermann kam, je mehr sah man die Mauern von Kugeln durchlöchert, von klaffenden Spalten zerrissen, das Innere der Häuser dem Blicke geöffnet, die Tapeten in Fetzen herabhängend, die Möbel zertrümmert. Ein totes Pferd versperrte den Weg; unter den Rädern krachten die Scherben zerbrochener Gläser. Einer Barrikade ausweichend, sahen sie von ferne, auf einer gegenüberliegenden Barrikade, an welcher ein Detachement Geniesappeure arbeitete, mehrere Offiziere ihre Fernrohre richten. Poncet fühlte den furchtbaren Riß, der sie von ihm trennte, und dumpfe Erregung schüttelte ihm die Nerven.

Hier und da kauerten hohläugige Einwohner in beschmutzten Kleidern, die Augen von Angst und Jammer unnatürlich vergrößert, und betrachteten mit scheuer Befriedigung die Retter mit den vollen Händen, den Sonnenglanz, der die Stille verklärte, die blaue Luft, in der die blühenden Gärten ihre Düfte ausströmten. Unbekümmert um Zerstörung und Plünderung prangte in ironischem Frieden die Fülle frischgrünenden Laubwerkes.

Vor einem Hause der Rue Peyronnet, wo sich, wie es hieß, die Parlamentäre für Paris aufhielten, ließ Poncet den Break halten. Die Wagen reihten sich dicht neben den Proviantfuhrwerken. Ein Oberst von Dombrowskis Generalstab, ein Mann mit kalten Augen und blassem Gesicht, gab ihnen höflich Auskunft. Wo hatte Martial nur diesen Polen schon gesehen? Richtig, im Hof der Rue Soufflot, an dem Tage, als Blacourts Equipagen Tinets Habgier zum Opfer fielen! Auf die Mitteilung des beständig lächelnden Offiziers hin, daß die Parlamentäre sich nicht hier, sondern in Nummer 132 der Avenue de Neuilly, an der Grenze der von der regulären Armee okkupierten Position befänden, fuhren sie weiter.

Unterwegs füllten sich die Wagen und wurden sofort zum Industriepalast zurückexpediert, wo die in Permanenz erklärten Mitglieder der Liga die Wohnungen anwiesen. Dieser ganze Teil von Neuilly war ebensowenig der Verwüstung entgangen: die Häuschen fielen wie Kartenhäuser zusammen, die Gerippe der Dächer streckten ihre gebrochenen Balken in die Luft; gespaltene Bäume neigten ihre entblätterten Kronen zur Erde. Überall lose hängende Türen, scheibenlose Fensterrahmen, der Boden mit formlosen Gegenständen, Spiegel-, Holz- und Eisensplittern bedeckt. In Wiesen und Straßen klafften schwarze Löcher. Unglückliche verließen ihre Keller, feuchte, stinkende Gefängnisse, in denen sie ihre verschimmelten Vorräte, das Bettelbrot der Föderierten, hatten verzehren, aus den Haufen von Flaschen, den eingeschlagenen Fässern den puren Wein trinken, auf den verfaulten Strohsäcken schlafen und gemeinsam ihre Bedürfnisse verrichten müssen. Viele waren krank oder verwundet, vor Fieberfrost zitternd, hohläugige Gespenster neben den Leichen ihrer Verwandten und Freunde, die, nur mangelhaft vergraben, dort als Speise der Ratten verwesten.

Die ersten Berichte schon hatten Poncet und Martial mit Mitleid und Grauen erfüllt. Sie halfen, wo sie konnten, von der Erregung dieser Menge angesteckt, die inmitten von Rufen, Stöhnen und Umarmungen zwischen den Trümmern sich bewegte. Wie in einem Ameisenhaufen wimmelte es durcheinander; hier wurde man von einem vorbeieilenden Lastträger gestoßen, dort rannten geschäftige, durch die rote Karte gekennzeichnete Kommissäre ab und zu, die Hände von Hungrigen streckten sich den Schalen voll dampfender Suppe entgegen. Ganze Familien zogen aus; auf Rollwagen wurden mächtige Wäscheballen und Koffer aufgestapelt. Andere klammerten sich in sinnloser Angst an Fiakern fest und boten wahnsinnige Preise. Dazwischen sah man gleichgültige, fast blasierte Mienen: Stoiker, die sich weigerten, anderswohin zu gehen, um zu sterben; ein alter Marineoffizier schüttelte den Kopf, er hatte so vieles schon an Bord erlebt, er wollte sein Haus nicht verlassen.

Hochbetagte Leute, die kein anderes Band als das langjähriger Gewohnheiten an die Scholle knüpfte, konnten sich nicht entschließen, ihre Kellerexistenz an einen anderen Ort zu verpflanzen. Gaffende Zuschauer schwatzten, Frauen beluden sich mit riesigen Fliedersträußen und pflückten mit vollen Händen die Blumen der Gartenbeete; das Ganze eine geschwätzige, animierte, augenblicklich getröstete Menge, welche in der Seltsamkeit des Schauspiels, diesen Bildern des Todes, eine festliche Zerstreuung fanden und sich des neugeschenkten Lebens, des belebenden Sonnenscheins und des berauschenden Hauches des Frühlings freuten.

Nachdem Poncet seine Wagen abteilungsweise nach Paris dirigiert, hatte er mit Martial das Haus aufgesucht, in dem die Parlamentäre sich befanden. Den Fahrdamm versperrten Liniensoldaten in doppeltem Spalier. Ihre Bajonette blitzten.

Beim Anblick der Rothosen erfaßte Martial ein unwillkürliches Gefühl der Sicherheit. Jenseits dieser Wachtposten lag der freie Ausgang, winkte die Freiheit ... Doch die Enttäuschung folgte auf dem Fuße. Poncet zeigte ihm einen ganzen Strom von Männern und Frauen, die gleich ihnen, in der gleichen Hoffnung, aus Paris hierhergekommen waren. Sie traten näher und horchten. Bitten, Beschwörungen begegneten einer formellen Ablehnung. Ein junges Mädchen bat schluchzend, jenseits der Linie ihre Eltern aufsuchen zu dürfen. Hohngelächter und gekreuzte Bajonette gaben der Grausamkeit dieser Maßregel erhöhten Nachdruck. Schon hatte man Störrige, ja sogar nur Neugierige, die sich zu nahe an die Posten herangewagt hatten, verhaftet.

»Da läßt sich nichts tun«, sprach Martial. »Ich will dir Lebewohl sagen und versuchen, anderswo durchzukommen. Wenn nicht, so habe ich meinen Plan ...«

Er erklärte: er gedenke, mit den Warentransporten über Saint-Denis, durch die preußischen Linien, sich zu drücken, da Versailles ihn nicht haben wollte. Die Kommune hatte den Durchzug von Transportwagen – mit Ausnahme von Mehl-, Waffen- und Munitionssendungen –, durch die nördlichen und östlichen Tore gestattet, um dafür die Versorgung der Hauptstadt mit Nahrungsmitteln durch die feindlichen Linien zu sichern. Da das Rathaus die Lieferung von Lebensmitteln nach Saint-Denis untersagt, hatten die Preußen wiederum die Einfuhr der Proviantwagen nach Paris verhindert. Die Kommune gab nach, da sie das Messer an der Kehle fühlte.

»Ich begleite dich noch ein Stück«, sagte Poncet.

Doch Martial stellte ihm die Schwierigkeit vor, zu zweien durchgelassen zu werden. »Sobald ich in Sicherheit bin, gebe ich Nachricht.« In schweigender Fassung umarmten sich die beiden Männer. Und den Abschied abkürzend, verlor sich Martial schnell zwischen den Truppen.

Schweren Herzens und in bitterem Gefühl der Vereinsamung folgte Poncet seinem Sohne mit den Augen, solange er ihn noch erblicken konnte, und betrachtete dann die unbeugsame Schranke, den starrenden Wald von Bajonetten. Die Empörung, die er als Bürger empfand, erhöhte noch die Sorge seines Vaterherzens.

Um ihre geringschätzige Toleranz besser zu markieren und ihre mörderischen Absichten zu bekräftigen, richteten die Kanonen vom Mont-Valérien und von Courbevoie ihr Feuer jetzt gegen Passy und Auteuil. Poncet fuhr bei dem unaufhörlichen Krachen der Schüsse in die Höhe. Plötzlich vernahm er in einer Pause ein fernes Getöse, das ihn, sobald er es erkannt, mit wachsender Sorge verfolgte. Von den südlichen Forts her dröhnte das Bombardement heftiger denn je. Seine Illusionen vom Morgen verflogen eine nach der anderen.

Den ganzen langen Tag hindurch widmete er sich mit unermüdlichem Eifer seiner Aufgabe, half bei der Räumung eines Hospizes, begab sich auf die Suche nach Wagen, wurde hier geholt, dorthin gerufen und betäubte seinen Kummer und seine Sorge in angestrengter, mechanischer Tätigkeit.

In der Villa der Rue Peyronnet traf er die Delegierten der Kommune im Gespräch mit Dombrowsky. Der Slave, klein, mager und blond, besaß nichts von dem, was damals zu einer stattlichen militärischen Erscheinung gehörte, doch machte die Energie, die aus seinem klaren Blick, seinen scharfgeschnittenen Zügen sprach, einen günstigen Eindruck auf Poncet.

Hinter dem General, und diesen mit seiner hohen Gestalt überragend, ward Jacquenne sichtbar mit seinem durchwühlten, bleifarbenen Antlitz. Die roten Flecke auf den Wangen, der ungepflegte, verwilderte Bart und die fieberglühenden Augen verrieten die Anspannung des überreizten Gehirns, des ermatteten Körpers. Er brach beinahe zusammen unter der Last seiner zahllosen Aufgaben und der Sorgen aller Art: die verschiedenen Details in der Verwaltung seines Arrondissements, erregte Sitzungen, in denen in ununterbrochener Folge Entscheidungen getroffen werden mußten; Rivalitäten und Wettbewerb; seine kollektivistischen Utopien in Disharmonie mit vom Augenblick diktierten Maßregeln – und vor allem die furchtbare Last des Krieges, die Überhäufung von falschen Nachrichten und Befürchtungen, die Notwendigkeit, über alles zu wachen, auf alles gefaßt zu sein ... Bei Poncets Erscheinen wandte Jacquenne den Kopf ab. Die Bestrebungen der Liga dünkten ihn demoralisierend, ihr beständiger Schrei nach Frieden den Mut lähmend, – eine verdammenswerte Schwäche oder die kluge Berechnung einiger Ehrgeiziger, welche darauf lauerten, nach dem Sturz der Kommune die Erbschaft anzutreten ...

Der Chemiker traf hier, ohne sie zu sehen, noch andere ihm bekannte Personen. Bei Tagesanbruch hatte Delourmel sich in einem offenen Leiterwagen aufgemacht, um seine in Neuilly wohnende, alte Erbtante zu holen. Seine Frau, die auf dem schmalen Brett saß, hatte einen Korb mit Viktualien, Leckerbissen, altem Wein und eine Rolle warmer Tücher vorbereitet. Ihre schwarzen Locken waren in beständiger Bewegung. Ihr Mann bedachte während der ganzen Fahrt alle verschiedenen Möglichkeiten. Ob Tante Elodie noch lebte? Ob sie das Testament finden würden?

Er verwünschte den neulichen Erlaß des Justizdelegierten. Eine nette Idee, dieses Dekret, demzufolge Gerichtsdiener, Notare und alle Ministerialbeamte fortan von der Kommune ernannt und besoldet werden und ihr Einkommen der allgemeinen Kasse zuführen sollten; wer sich dieser Maßregel nicht fügte, konnte innerhalb vierundzwanzig Stunden abgesetzt werden. Wie konnte er bei dieser Reform, wenn die Tante tot war und das Testament angefochten wurde, eine regelrechte Kopie des in der Provinz, wo ihre Güter lagen, auszuführenden Urteils erhalten?

Als sie in der Rue Borghese sich dem Häuschen ihrer Verwandten näherten, schlug ihnen das Herz ... Das Nest war leer. Sie durchsuchten alle Räume, sie riefen und schickten sich, da sie niemand fanden, an, einen Schreibtisch zu öffnen, als plötzlich eine lange, gespensterhafte Gestalt vor ihnen stand mit einem seltsam starren Blick im verschrumpften Gesichte. Unter fortwährenden tiefen Verbeugungen stammelte sie:

»Gott Vater und die Heilige Jungfrau? ... Wollen Sie gefälligst Platz nehmen ...«

Dann begann sie, auf einem Fuße in rasendem Wirbel sich um sich selbst zu drehen und dabei mit einförmiger Stimme zu singen:

» La boulangère a des écus,
Rata miou, rata miou,
Qui ne lui coûte guère ...«

Und plötzlich kauerte sie sich nieder, daß die Röcke sich wie eine Glocke um sie bauschten, und schrie mit gellender Stimme: » Pi-hou-hou-hou!«

Entsetzt blickten Delourmel und seine Frau sich an: Tante Elodie war irrsinnig geworden! Mit tierischer Gefräßigkeit verzehrte sie den ganzen Inhalt des Korbes und knabberte vergnügt die Bäckereien. Beim Geräusch einer sich öffnenden Tür zuckte sie krampfhaft zusammen und klatschte beim Anblick des Fiakers in kindischer Freude in die Hände. Widerstandslos ließ sie sich fortführen, ja sie hatte sogar ein flüchtiges Aufflackern von Bewußtsein, als die Delourmels zögerten und Miene machten, in der Untersuchung des Schreibtisches, der Schränke und selbst der Geheimfächer fortzufahren. Mit geheimnisvoller Miene und höhnischem Lächeln zeigte sie auf ihre mit Goldstücken und Banknoten vollgestopfte Taille und ließ den Neffen auf ihrem eingefallenen Busen ein Säckchen betasten, in dem er zu seiner namenlosen Freude ein leises Knistern von Papieren spürte. Seine Frau machte ihm ein verständnisvolles Zeichen: das Testament! Man hob die alte Dame auf den Wagen, sie setzten sie zwischen sich und hielten sie fest, doch nicht fest genug, als daß sie nicht hätte von Zeit zu Zeit aufstehen und den ergötzten Zuschauern nach rechts und links Kußhände zuwerfen können.

Bei Einbruch der Dämmerung, als die Tausende von Menschen, die sich den ganzen Tag an der reinen Luft und dem sorglosen Umherwandern berauscht hatten, wieder nach Paris und in das Gefängnis der Häuser und Gassen zurückströmten, – da kehrten auch zwei saubergekleidete Frauen, die trotz ihrer Einfachheit doch den Stempel natürlicher Vornehmheit trugen, heim.

Sie gingen die Champs-Elysées hinab, durch welche der ungeheuere Strom der schwerbeladenen und überfüllten Fuhrwerke sich ergoß; durch die Fenster eines Omnibus blickten die blassen, erstaunten Gesichter der Zöglinge eines Mädchenpensionats; dahinter kamen Möbelwagen, hinter deren weißen Vorhängen Eisenbetten sichtbar waren. Betrunkene brachen sich, lebhaft gestikulierend, durch die lachende Menge Bahn. Liebespaare, mit einer blühenden Last von Flieder beladen, wandelten in zärtlichem Gespräch dahin. Fast keiner, der nicht große Sträuße von Levkojen, Schneeballen, Schlüsselblumen, Immergrün oder auch nur einen grünen Zweig aus den geplünderten Gärten heimbrachte.

Bekümmert und besorgt um ihre Lieben, die dort unten, vor den dumpf donnernden Südforts, im Kampfe standen, schritten Therese und Rose Simon langsam dahin. Rose sog in langen Zügen den Duft der Veilchen ein, die sie im Garten einer verödeten Villa gepflückt. Durch den süßen Duft lächelte Louis' strahlende, kriegerische Schönheit ihr zu; wie in sanfter Liebkosung drückte sie ihre Lippen auf die zarten kleinen Blumen. Schweigend blickte die Mutter auf diese stille Träumerei. Sie hatte nur einen durch eine Kugel abgebrochenen Buchsbaumzweig aufgelesen, dessen bitterschmeckende Blätter sie nachdenklich abbiß.

Wie diese Frauen, an denen er, ohne sie zu erkennen, vorüberging, wie all diese Wesen, die er nicht kannte, und die ihn umgaben, so fühlte auch Poncet sich von dem Zauber dieses herrlichen Abends bezwungen. Mit rosigem Schimmer übergossen, ragte der Triumphbogen in die purpurne Pracht der Wolken. In die linde Frühlingsluft, die seit einem Monat das Blut der Pariser mit frischen Säften durchströmte, mischte sich das magnetische Fluidum des ganzen, zu neuer Lenzespracht erwachten Landes. In den frischbelebten Gesichtern, in den Falten der staubbedeckten Kleider trug die Menge es heim. Der freie Hauch der grünen Wiesen, der schattigen Wälder drang durch die geöffneten Tore ein und erfrischte die glühende Stadt. Der gärende Saft, die Energie der unter dem warmen Kuß der Sonne entfalteten Erde, die leichte, reine Luft stieg wie ein Wein von Gold und Feuer in die Gehirne und brachte den Menschen für kurze Stunden den Segen des Vergessens, der Freude.

Doch diese wunderbare Gabe, diese Fähigkeit eines Volkes, den Becher des Lebens in vollen Zügen zu trinken, während schon der Tod seine Ernte hält, wirkte nicht trostvoll, sondern tiefentmutigend auf Poncet. Er sah schärfer, er blickte weiter als diese sorglose Menge, die nicht einmal den Donner zu hören schien, der über den Horizont rollte, nicht das Getöse der zum erstenmal demaskierten Batterien, die von Breteuil, von Brimborion, von Meudon, Châtillon, Moulin-de-Pierre und Bagneux, von allen früher von den Deutschen besetzt gewesenen Punkten aus mit ihrem Hagel von Blei und Eisen Issy und Vaures verheerten.

 


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