Eugenie Marlitt
Reichsgräfin Gisela
Eugenie Marlitt

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22

Der Waldweg, in den die Reitenden einlenkten, war ziemlich breit – die Pferde konnten nebeneinander laufen; er mündete nach kurzer Strecke in die Fahrtstraße, die Neuenfeld mit Greinsfeld verband.

Bei dem Knotenpunkt dieser zwei Wege angekommen, hörten die Reiter ein fernes Tosen und Brausen. Oliveira hielt die Pferde zurück, und kurze Zeit darauf stürmten zwei Feuerspritzen, gefolgt von einem großen Teil des Neuenfelder Arbeitspersonals auf Leiterwagen, vorüber.

Wie flogen die Mützen von den Köpfen dieser Leute beim Erblicken ihres Herrn! Wie strahlten ihre kräftigen Gesichter in freudiger Überraschung auf!... Das waren die Menschen, denen Frau von Herbeck nicht mehr dankte, weil sie weniger demütig als ehemals grüßten, weil sie nicht mit tiefgebogenem Rücken verharrten, bis die kleine, fette Frau aus ihrem Gesichtskreis entschwunden war... Was hatte diese Frau je gewirkt, das sie berechtigte, die Bezeugung tiefster Verehrung zu beanspruchen? War sie ein bedeutender Geist, der neue Ideen in die Weltanschauung warf? Förderte sie in irgendeiner Weise das allgemeine Menschenwohl? War sie eines jener gottbegnadeten Wesen, denen das Talent in überwältigender Macht verliehen war? Das Gegenteil von alledem. Sie verabscheute die bedeutenden Geister mit neuen Ideen als revolutionär, und ihr eigener Gedankengang war ein beschränkter, in der Bahn engherziger Gesetze kreisender – sie rührte keinen Finger für das allgemeine Menschenwohl und begnügte sich, in ihrem stumpfen Gebete Gottes Gnade für die frommen Lämmer, die Gläubigen, und seinen Fluch, sein Strafgericht auf die Häupter der Gottlosen zu erflehen – sie bezeichnete die Ausübung der Zünfte als »nicht passend« für hochgeborene Leute – alles in allem verlangte sie die sklavische Unterwerfung anderer Menschenkinder gegenüber ihrer Person, einzig um der Tatsache willen, weil die Eltern, von denen sie stammte, das »von« vor ihren Namen setzen durften.

Bei dem notwendigen Schluß dieser kritischen Beleuchtung errötete Gisela vor Unwillen – es geschah zum erstenmal, daß sie mit prüfendem Auge das eigentliche Wesen ihrer Erzieherin zergliederte... Mit welch überraschender Schnelligkeit entwickelte sich die Urteilsschärfe dieses jungen, unterdrückten und vernachlässigten Menschengeistes unter dem befruchtenden Einfluß der Humanität! Aber auch welch seltene Kraft wohnte ihm inne, daß er sich von dem Herzen zu isolieren vermochte in einem Augenblick, wo es aus tiefer Wunde blutete!

Noch ein dritter Wagen voll Menschen jagte an den neben dem Fahrweg Haltenden vorüber – da sah man viel bleiche, verstörte Gesichter.

»Das sind die Greinsfelder«, sagte Oliveira.

»Die trifft das Unglück nicht«, entgegnete Gisela mit bedeckter Stimme. »Die neuen Häuser der Neuenfelder Arbeiter, die Sie, mein Herr, gebaut haben, liegen auf der entgegengesetzten Seite des Dorfes – die Häuserreihe der Taglöhner brennt, die auf dem Gute arbeiten –«

»O weh, das sind Schindeldächer –«

»Und armselige, verwitterte Lehmwände, und die zerbrochenen Fensterscheiben sind mit Papier verklebt –«

Oliveira sah überrascht auf – das klang schneidend aus dem Mädchenmunde.

»Und drin leben Menschen, die für uns arbeiten müssen – als Dank für diese Anstrengungen mißachten wir sie. Wir essen das Brot, das sie bauen, und sehen zu, wie sie selbst hungern; wir machen uns weis, sie seien zum Elend geboren, sie seien ein Etwas, das mit uns nicht verglichen werden könne, sie seien geistig nichtige Geschöpfe, und doch verlangen wir von ihnen dasselbe Verständnis des höchsten Wesens und seiner Gebote, wie wir es haben, und wenn sie sterben, verheißt ihnen der liebe Gott dasselbe Himmelreich wie uns. Wenn dort ihre Seelen uns ebenbürtig sind, warum auf Erden nicht?... Ich weiß, daß wir grausame Egoisten sind, aber ich weiß es erst seit kurzem –«

Sie brach ab. In fast atemloser Hast hatte sie gesprochen, während Oliveira schweigend neben ihr verharrte. Sie waren bisher im Schritt geritten, weil Miß Sara bei dem sinnenverwirrenden Getöse der vorüberrasselnden Wagen gescheut hatte. Auch jetzt streckte der Portugiese zurückhaltend seinen Arm aus, als Gisela das Pferd antreiben wollte.

»Noch nicht«, wehrte er. »Wir dürfen dem Lärm nicht wieder so nahe kommen.«

»So reiten Sie voraus, mein Herr! Ihr Pferd scheut nicht.«

»Nein. Ich darf nicht, um dort vielleicht einige arme Habseligkeiten zu retten, hier ein Menschenleben preisgeben... Sie behaupteten, Ihr Pferd sei sicher, und es bringt Sie doch jeden Augenblick in Gefahr; dabei reiten Sie tollkühn, Gräfin. Ich sah bereits auf der Waldwiese mit prophetischem Blick, wie Sie sich beim Heimritt in den Steinbrüchen zerschmettern würden... Wäre ich Seine Exzellenz, der Minister, ich würde Ihnen dies Pferd sofort konfiszieren.«

Oliveira zog bei diesen Worten den Hut in die Stirne, so daß Gisela, deren Blick anfänglich schüchtern auffordernd an dem braunen Gesicht gehangen hatte, von seinen Augen nichts mehr sah... Sein Erscheinen an den Steinbrüchen wäre also kein zufälliges gewesen? Er wäre einzig und allein gekommen, um sie zu behüten? Das junge Mädchen schauerte in sich zusammen.

»Übrigens wird wohl für mich und die dort« – hob er wieder an und deutete nach der Richtung, von wo das ferne Rasseln der Feuerspritzen noch herüberklang – »nichts mehr zu retten übrig sein. Solche altersmorsche Hütten brennen rasch zusammen, und die Häusergruppe, die Sie mir bezeichnet haben, steht isoliert... Dafür wird schleunigst eine andere Hilfe und Tätigkeit beginnen müssen – es gilt, Obdachlose unterzubringen, und da Sie Schindeldächer und Lehmwände abscheulich finden –«

»O mein Herr!« unterbrach ihn Gisela, »die sollen in Greinsfeld für immer und ewig verschwinden! Es wird niemand mehr darben – es soll alles anders werden!... Der alte, strenge Mann im Waldhause hat recht gehabt – ich war gefühllos wie ein Stein. Ich habe es selbstverständlich gefunden, daß die arbeitende Klasse auch elend und verkümmert aussehen müsse. Ich habe niemals Widerspruch erhoben gegen das Übereinkommen zwischen Frau von Herbeck und dem Greinsfelder Schullehrer, nach dem in den Köpfen dieser Leute die Unwissenheit erhalten werden sollte. Ich habe die Dorfkinder zerlumpt und verwildert an meinem Wagen vorüberlaufen sehen, ohne daß mir je der Gedanke gekommen wäre, sie zu bekleiden und ihre Seele zu bessern... Sie haben mich bereits gerichtet – ich weiß es –, und wenn Ihr Spruch auch noch so streng lautet – ich habe ihn verdient!«

Oliveira hatte mit tiefgesenktem Kopfe zugehört; er unterbrach mit keinem Worte die vernichtende Selbstkritik, die das junge Geschöpf da neben ihm mit der tiefernsten und doch so kindlich klingenden Stimme gegen sich schleuderte. Er verhielt sich still und zuwartend, wie der Arzt, der eine Wunde ausbluten läßt, aber er war kein Arzt, den die Leiden bei diesem Ausbluten kaltlassen; er war ein leidenschaftlicher Mann, der mit sich ringen mußte, um sein heißes Mitgefühl nicht zu verraten.

»Sie vergessen, Gräfin«, sagte er nach einem momentanen Schweigen, währenddessen Gisela mit zuckenden Lippen vor sich niedersah, »daß Ihre frühere Anschauungsweise durch zwei Einflüsse bedingt worden ist: durch den ausschließlichen Umgang mit Ihren Standesgenossen und durch die Art und Weise Ihrer Erziehung.«

»Mag ihnen ein Teil zufallen«, entgegnete sie erregt, »das entschuldigt meine Denkfaulheit, meine Herzenskälte nicht!«

Sie sah ihn mit einem traurigen Lächeln an.

»Ich muß Sie sogar bitten, diese Erziehungsweise nicht anzutasten«, sagte sie weiter. »Man wiederholt mir täglich, ich sei streng im Geist meiner Großmama erzogen worden.«

Oliveiras Gesicht verfinsterte sich.

»Ich habe Sie dadurch verletzt?« fragte er – sein Ton hatte plötzlich eine unverkennbare Härte.

»Sie haben mir wehe getan, mein Herr... Mir war in diesem Augenblick, als hörte ich zum erstenmal meine Großmutter schmähen... Das ist nie geschehen. Wie wäre es auch möglich? Sie ist ja das Musterbild einer erhabenen deutschen Frau gewesen.«

Ein unbeschreibliches Gemisch von Ironie und tödlicher Verachtung glitt durch die Züge des Portugiesen.

»Und deshalb würden Sie selbstverständlich den entschieden verabscheuen, der es wagen wollte, an das Andenken dieser – edlen Frau zu rühren.« Er sagte das mit sinkender Stimme; es sollte keine Frage sein, und doch ließ sich das leidenschaftliche Verlangen nach einer Antwort in Blick und Stimme nicht verkennen.

»Sicher«, versetzte sie rasch mit einem energischen Aufblick ihrer braunen Augen. »Ich könnte ihm so wenig verzeihen, wie einem, der das Muttergottesbild vor meinen Augen zertreten wollte –«

»Auch wenn es sich um einen falschen Heiligenschein handelte –«

Sie ließ die Zügel fallen und streckte ihm flehend die Hände entgegen.

»Ich weiß nicht, aus welchem Grund Sie einen solchen Zweifel aussprechen!« sagte sie in bebenden Tönen. »Vielleicht haben Sie Schlimmes erfahren an den Menschen, und es wird Ihnen schwer, an den makellosen Heiligenschein einer Verstorbenen zu glauben... Sie sind ja fremd und können von meiner Großmama nichts wissen – aber gehen Sie durch das ganze Land, Sie werden sich überzeugen, daß man nur mit Ehrfurcht von der Reichsgräfin Völdern spricht.«

Sie deutete nach dem Himmel, während ihre Augen innig fragend und fest den seinigen begegneten.

»Haben Sie kein Wesen da droben, das Ihnen heilig ist?« fragte sie, das schöne Haupt leise schüttelnd. »Wissen Sie nicht, daß man über den Namen der Toten streng wachen soll, weil sie es selbst nicht mehr können?« – Sie sah vor sich nieder, und in ihrer Stirne gruben sich Linien des Schmerzes. »Das Andenken an meine Großmama ist das einzige, was ich rette aus der Sphäre, in der ich geboren bin... Wie vieles muß ich verachten!... Ich will auch etwas behalten, das ich verehren darf, und wer es mir zu rauben versucht, der macht sich einer schweren Sünde schuldig – er macht mich arm.«

Sie ritt weiter.

Daß der Portugiese hinter ihr verharrte, als seien die Hufe seines Pferdes an den Waldboden festgezaubert, bemerkte sie nicht; sie sah auch nicht, wie er die Hand über die Augen legte und vergebens mit dem Ausdruck der bittersten Verzweiflung kämpfte, die um seinen Mund zuckte.

Nach einigen Augenblicken war er wieder an ihrer Seite. Die verräterischen Linien des inneren Sturmes waren wie weggelöscht aus seinem Gesicht... Wer hätte bei dem Gepräge eiserner Entschlossenheit und Energie, das die ganze gewaltige Erscheinung charakterisierte, annehmen mögen, daß der Mann innerlich für Momente auch zusammenbrechen könne!

Nun wurde nicht mehr gesprochen. Es ging weiter wie auf Sturmesflügeln. Der Wind trieb ihnen einen unerträglichen Brandgeruch entgegen, und oben durch die lichter werdenden Wipfel zogen die letzten Ausläufer der Rauchwolken.

Oliveira hatte recht gehabt, die altersmorschen Hütten waren in unglaublicher Schnelligkeit niedergebrannt. Als die Reitenden aus dem Wald hervorkamen, da lagen bereits drei rauchende kleine Brandstätten vor ihnen – ein Haus stand noch in vollen Flammen, und auf dem fünften und letzten der Reihe begannen eben die grauen Schindeln luftig aufzulodern.

Aber man hätte sich fast versucht fühlen mögen, den ungeheuren Wasserstrahl aufzufangen, der jetzt zum erstenmal emporschoß, um prasselnd und zischend in die Flamme niederzustürzen – die Feuerspritzen taten wacker ihre Schuldigkeit. Diese Anstrengung erschien geradezu wie ein Hohn gegenüber der Menschenhabe, die sie retten sollte... Waren diese vier windschiefen Wände mit den papierverklebten Fensterlöchern in der Tat eine menschliche Wohnung? Und sollten und mußten diese Wahrzeichen irdischer Ungerechtigkeit stehen bleiben, damit das Elend wieder unterkriechen und eine gott- und menschenverlassene Kaste ein ihrer »angeborenen Lebensstellung« entsprechendes Obdach behalten sollte?

Die fünf Hütten bedeckten kaum so viel Raum des Erdbodens, wie der große Saal im schönen, stolzen Greinsfelder Schlosse beanspruchte. Fünf Familien hausten eingepfercht zwischen den zerbröckelten Wänden, die jeder starke Sturmwind über den Haufen blasen konnte – sinkendes und aufblühendes Leben atmete zugleich durch Sommer und Winter hindurch in der Handvoll eingesperrter, ungesunder Luft... Und im großen Saal des Schlosses, das in diesem Augenblick fern und nebelhaft durch den Qualm herüberschimmerte, standen die toten Bronzefiguren auf ihrem Marmorsockel, und die Kristalltropfen der mächtigen Kronleuchter schaukelten in der Luft, die sorgfältig erneuert wurde, ohne je verbraucht zu werden. Und wenn die Stürme draußen an den Wänden hinbrausten, da bewegten sich nicht einmal die Damastgardinen vor den Fensternischen – die aufgetürmten Steinquadern und die festen Fensterläden schützten Bronzefiguren, Kronleuchter und Damastgardinen vor jeder unsanften Berührung...

Ein entsetzlicher Lärm tobte um das sonst so stille Dorf. Der Portugiese begleitete Gisela, immer den rechten Arm emporgehoben, um im geeigneten Moment der scheuenden Miß Sara in die Zügel fallen zu können, bis an das Tor des Schloßgartens; dann verabschiedete er sich schweigend mit einer tiefen Verbeugung.

Da sprengte er hin nach dem Brandplatze!... Gisela preßte die Hand auf ihr zuckendes Herz – wie brach hatte diese Mädchenseele gelegen – zum erstenmal wieder seit ihren Kinderjahren verdunkelte eine Träne die braunen Augen... Nun fiel sicher kein Wort mehr zwischen ihr und jenem Mann! Hatte sie doch nicht einmal den Mut finden können, ihm für seinen Schutz zu danken: Sie war wie versteinert gewesen gegenüber dem höflich ritterlichen Gruß, der eine unverwischbar traurige Erinnerung für ihr ganzes Leben gleichsam besiegelte... Wie mochte er aufatmen, daß er seiner Beschützerrolle ledig war... Und wenn dort die Rauchwolken sich verzogen hatten, da kehrte er zu dem Hofkreis zurück... Die schöne, braunlockige Hofdame hatte ja die Blumen nicht gepflückt, die jetzt welkend in den Steinbrüchen lagen – mit ihr sprach er gewiß heute noch; sie wandelten am See hin, wo der Pirol flötete und kühle Lüfte in das Ufergebüsch quollen, und sie erfuhr im Laufe des Gesprächs nebenbei die Tatsache, daß er ein paar arme Habseligkeiten und ein tollkühnes, unvernünftiges Menschenkind vor dem Untergange bewahrt habe...


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