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Erstes Kapitel

Sechs Monate auf dem Meer! Ja, Leser, so wahr ich lebe, sechs Monate hatten wir kein Land gesehen, sechs Monate kreuzten wir nach Pottwalen unter der glühenden Sonne des Äquators, auf den Wogen des weithin rollenden Stillen Ozeans hin und her geworfen, den Himmel über uns, das Meer um uns und nichts sonst! Seit Wochen hatten wir keine frische Nahrung mehr, keine süße Kartoffel, nicht eine einzige Yamswurzel. Die herrlichen Bananenbündel, die einst unser Heck und Achterdeck schmückten, waren leider verzehrt! Die wonnigen Orangen, die von den Körben und Stagen hingen, gleichfalls längst dahin! Alles weg und nichts übrig als gesalzenes Pferdefleisch und Schiffszwieback.

Oh, was würden wir für einen erfrischenden Blick auf ein bißchen Gras, für eine Spur, ein Riechen von ein wenig Lehm und Erde gegeben haben! Aber das einzige Grüne, das wir sehen konnten, war die grüngestrichene Innenseite unserer Reling, eine jammervolle, widerliche Farbe, als ob nichts, was an wirkliches frisches Grün erinnerte, so weit vom Lande gedeihen könnte. Selbst die Rinde, die einst an unserem Feuerholz war, hatte das Schwein, das der Kapitän hielt, abgenagt und aufgefressen, und das Schwein selbst war leider seit langem verzehrt.

Der Hühnerstall hatte nur noch einen einzigen einsamen Bewohner, der einst ein kecker und munterer junger Hahn war und sich tapfer unter den scheueren Hennen hielt. Jetzt steht er den ganzen Tag traurig auf einem Bein und wendet sich mit Ekel von dem muffigen Korn ab, das wir ihm vorsetzen können, und dem fauligen Wasser in seinem kleinen Trog. Vielleicht trauert er auch um seine verlorenen Gefährtinnen, die ihm eine nach der anderen entrissen wurden. Aber er wird nicht mehr lange trauern; Mungo, unser schwarzer Koch, sagte mir gestern, daß das Schicksal des armen Pedro besiegelt sei. Sein abgemagerter zäher Körper wird nächsten Sonntag auf dem Tisch des Kapitäns liegen, und vor dem Abend wird er in dem Leibe des Würdigen begraben sein. Niemand hätte es für möglich gehalten, aber die Schiffsmannschaft betet um sein Ende, denn sie sagen, der Kapitän wird den Bug nie nach dem Lande richten, so lange er noch frisches Fleisch an Bord hat. Der unglückliche Hahn ist das letzte Stück, und darum ist nicht einer unter uns, der ihm nicht gerne den Hals umdrehen würde, denn alle haben nur den einen Wunsch, das lebendige Land wiederzusehen. Selbst das alte Schiff sehnt sich danach, noch einmal aus seinen Klüsgatten aufs Land schauen zu können, und mit Recht sagte Jack Lewis neulich zum Kapitän, der seine Steuerführung bemängelte:

»Ja, sehen Sie, Kapitän Vangs,« sagte er keck, »ich bin ein so guter Steuermann, als je einer Hand an die Spaken gelegt; aber niemand kann die Alte mehr steuern. Wir können sie nicht mehr im Kurs halten, Herr; man kann tun was man will, sie fällt ab. Ich kann das Ruder noch so sanft umlegen und ihr zureden und schmeicheln, sie tut's nicht, sie wird bös, sie fällt wieder ab; sie weiß, das Land liegt in Lee und sie will nun mal nicht mehr gegen den Wind angehen.«

Und Jack hat recht, und »Dolly«, das Schiff, hat recht, denn ihre Planken sind auf dem Land gewachsen, und sie fühlt so gut wie wir.

Man sieht es dem armen alten Schiff an, wie es sich nach dem Land sehnt. Es sieht wirklich kläglich aus; der Anstrich, von der glühenden Sonne ausgedörrt, ist überall gesprungen und abgefallen. Es schleppt Tang und Unkraut mit, am Heck kleben die Entenmuscheln wie häßliche Geschwüre; und sooft eine See es in die Höhe hebt, sieht man den Kupferbeschlag abgerissen und in verbeulten und ausgebrochenen Streifen hängen.

Seit einem halben Jahr wird es jetzt ohne einen Augenblick Ruhe auf den Wassern umhergeworfen. Aber nur Mut; es kommt noch anders! Bald liegst du gemütlich in irgendeiner grünen Bucht vor Anker, vor allen Winden geschützt, und nicht weiter vom vergnüglichen Ufer, als einer ein Stück Zwieback werfen kann.

»Hurra, Jungens! Es ist abgemacht, nächste Woche halten wir Kurs auf die Marquesas!«

Die Marquesas! Welche seltsamen Gesichte zaubert der Name herauf! Kokosnußhaine, Korallenriffe, sonnige Täler, mit Brotfruchtbäumen bepflanzt, Bambustempel, geschnitzte Kanus, die auf blitzenden, blauen Wassern dahinschießen, liebliche Mädchen, tätowierte Häuptlinge, wilde Wälder, die von schrecklichen Götzenbildern bewacht sind, heidnische Gebräuche, Menschenopfer und die Feste von Kannibalen. Diese Bilder verfolgten mich, seltsam durcheinandergewirbelt, während unserer Fahrt aus dem Jagdgebiet. Unwiderstehliche Neugier ergriff mich, die Inseln zu sehen, die die alten Reisenden in so glühenden Farben geschildert hatten.

Eine der frühesten europäischen Entdeckungen in der Südsee – im Jahre 1595 zum erstenmal besucht –, sind sie noch immer von wilden und seltsamen Geschöpfen bewohnt. Als Mendaña nach irgendeinem Goldland kreuzte, waren diese Inseln plötzlich wie ein Zauberbild auf seinem Wasserwege aufgetaucht, und für einen Augenblick glaubte der Spanier, sein schöner Traum sei erfüllt. Zu Ehren des Marques de Mendoza, des damaligen Vizekönigs von Peru, hatte er sie die Marquesas genannt und der Welt bei seiner Rückkehr einen ungewissen Bericht von ihrer Pracht und Schönheit gegeben. Aber Jahre blieben die Inseln ungestört und versanken wieder ins Dunkel der Vergessenheit. Die Missionare segelten an ihrem lieblichen Ufer vorbei und überließen sie ihren Götzen aus Holz und Stein. Hier und da einmal im Laufe eines halben Jahrhunderts störte irgendein abenteuernder Seefahrer ihren Frieden, und so unbekannt waren sie geblieben, daß er, erstaunt über das ungewöhnliche Bild, sich beinahe das Verdienst der Entdeckung zuschrieb.

So weiß man wenig von ihnen; Cook hat sie kaum berührt, und erst in den letzten Jahren sind amerikanische und englische Walfischfänger gelegentlich, wenn ihnen der Vorrat ausging, in den bequemen Hafen eingefahren, der sich in einer der Inseln findet; aber die Furcht vor den Eingeborenen, die Erinnerung an das schreckliche Schicksal, das schon viele weiße Männer dort ereilt hat, schreckte die Mannschaften ab, und sie verkehrten nur so wenig als möglich mit der Bevölkerung, nicht genug, um irgendwelche Kenntnis von ihren Lebensgebräuchen und Sitten zu bekommen. So gibt es keine Inselgruppe im Stillen Ozean, von der trotz der langen Zeit seit ihrer ersten Entdeckung so wenig bekannt ist, wie die Marquesas, und ich freue mich, daß diese meine Erzählung den Schleier ein wenig lüften wird, der auf einem so romantischen und herrlichen Gebiet bisher lag.


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