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Kapitel XXIII. Major Percy Waring

An dem Kaminfeuer eines der oberen Wohnzimmer des Wirtshauses »Zum Piloten« saß Robert mit seinem Freunde, dem geliebten Freunde, von dem er zu Dahlia und Rhoda mit so großem Stolz zu sprechen pflegte, daß es natürlich war, wenn man daraus auf einen Stolz geringerer Güte folgerte. Dieser Freund hatte den Namen eines solchen von einem gemeinen Soldaten seines Regimentes angenommen, eine Tatsache, die beweist, daß ein Mann sowohl Offizier wie Gentleman in einem strengeren und weniger duldsamen Sinne ist, als dieser dem Mund eines militärischen Papageien geläufige Ausdruck gewöhnlich bezeichnet. Major Percy Waring, der Sohn eines Pfarrers, war ein arbeitender Soldat, ein Menschenschlächter, wenn man will, aus reiner Liebe zum Waffenhandwerk und bei alledem der sanftmütigste und gütigste aller Männer. Ich nenne ihn einen arbeitenden Soldaten im Gegensatz zu den Parade-Soldaten, den Gecken in Uniform, den Helden durch Zufall, den in Reichtum und Stellung schwelgenden martialischen Jungen, welche die englische Armee bilden. Er studierte den Krieg, wenn die Schlachtdrommete schlummerte, und sein Platz war im Felde und nirgends sonst, wenn sie ertönte. Ihm war die Ehre Englands wie ein Kind in seinen Armen, er wiegte sie zärtlich, wie eine Mutter ihr Kleines. Er kannte die militärische Geschichte jedes Regiments in der Armee: irgendwelches Mißgeschick, so alten Datums es auch sein mochte, entlockte ihm ein Aufstöhnen. Dieses enthusiastische Gesicht war seltsam weich, wenn die großen, dunklen Augen träumerisch dreinblickten. Wie sein Gesichtsausdruck war, konnte es eine eigentümliche Wirkung ergeben, wenn er gelegentlich von einer auf zusammengedrängte Massen abgegebenen glücklichen Artilleriesalve sprach. Im allgemeinen waren seine klaren Züge nachdenklich bis zur Traurigkeit, sofern sie nicht besonders animiert waren, aber von Zeit zu Zeit konnten sie in begeistertem Aufflammen für eine Tat erglühen. Eine gleichmäßig fröhliche Gemütsstimmung war nicht seine Art. Trotzdem konnte er heiter in der Unterhaltung sein, wie sich aus der frohen Miene entnehmen ließ, mit der Robert ihm zuhörte. Unter sich nannten sie einander »Robert« und »Percy«. Robert hatte ihn an der Küste von Ost-Anglia vom Ertrinken gerettet, und die hieraus entstehende Freundschaft fiel als ein Hauptgrund dafür mit ins Gewicht, daß Robert den Dienst eines Soldaten quittierte und sich loskaufte. Es geschah gegen Percys Rat, der ihm ein Offizierspatent zu verschaffen wünschte, aber der aus bescheideneren Verhältnissen hervorgegangene Mann hatte die unüberwindlichen Bedenken seiner Klasse hinsichtlich der Geldfrage, und da eine Erfahrung der strengen Rangunterschiede innerhalb des Dienstes Roberts romantische Illusionen zerstört hatte, benutzte derselbe, um zu verhindern, daß sein Freund dieselben übertrete, das Legat seiner Tante, um seine Verpflichtungen zu lösen. Seit jenem Tage hatten sie sich nicht wiedergetroffen, aber ihre Freundschaft war eine feste. Percy hatte vorher Queen Annes Farm besucht, wo er Rhoda gesehen und durch sie Roberts Abreise erfahren hatte. Da er Roberts Heimatsort kannte, war er nach Warbeach gekommen und hatte Jonathan Eccles aufgesucht, der ihn an Mrs. Boulby, konzessionierte Inhaberin einer Schankwirtschaft, verwiesen hatte, falls er das Vergnügen einer Zusammenkunft mit Robert Eccles zu haben wünsche.

»Der alte Mann hat regelmäßig jeden Tag fragen lassen, wie weit sein Sohn auf dem Wege zu einer andern Welt bereits sei,« sagte Robert lachend. »Er ist zähes, altenglisches Eichenholz. Ihm bin ich eben gerade das, was ich zur Zeit scheine. Es ist besser, ihn so zu haben, als so eine Art sprunghaften Vaters, wie er der Bühne anzugehören scheint. Jedermann achtet meinen Alten, und ich kann über das lachen, was er von mir denkt. Ich brauche ihn bloß wissen zu lassen, daß ich eine Lehrzeit in der Landwirtschaft durchgemacht habe und einige seiner Ideen in die Praxis umsetzen kann – famose Ideen! Jede einzige famos! Jede einzige famos. Das sag' ich von meinem eignen Vater.«

»Warum sagst du ihm das nicht selbst?« fragte Percy.

»Ich möchte alles von Kent vergessen und die ganze Grafschaft wegschwemmen,« sagte Robert, »und soweit mein Gedächtnis dabei in Frage kommt, will ich es auch.«

Percy wartete einige Sekunden lang. Er verstand diesen Eigensinn in einem unerzogenen, feinfühligen Manne vollkommen.

»Sie hat einen Ausdruck von unerschütterlicher Festigkeit in ihrem Gesicht, Robert. Sie sieht nicht aus, als wenn sie mit sich spaßen ließe. Wahrhaftig, ein edleres, freimütigeres Mädchen habe ich nie im Leben gesehen, wenn man sich auf Gesichter verlassen kann!«

»Es ist grade anders herum. Von Spaßmachen ist in ihrem Fall nicht die Rede. Die geht schnurgrade auf ihr Ziel los.«

»Du erwähnst ihrer in deinen Briefen an mich niemals, Robert.«

»Nein. Ich hatte von Anfang an den Verdacht, daß ich um des Mädchens willen zum Narren werden würde.«

Percy legte die Hand auf die seine.

»Du hast da nicht ganz recht gehandelt.«

»Das sagst du?«

Robert brachte ihn mit dieser Frage zum Schweigen, denn es gab eine Frau in Percys Vorgeschichte.

Nachdem dies Thema abgetan, sprachen sie freier. Robert erzählte Dahlias Geschichte, und was er in Fairly getan.

»Oh, wir sind einer Meinung,« sagte er, als er ein sonderbares Lächeln, das Percy nicht zu verbergen vermochte, bemerkte. »Ich weiß wohl, daß es eine seltsame Art Benehmen war. Ich habe Achtung vor meinen Vorgesetzten. Aber, du magst mir glauben oder nicht, Percy, es macht mich toll, wenn man diesem Mädchen etwas antut, und dann kann ich mich nicht halten. Und sie ist die Schwester des Mädchens, das du gesehen hast. Beim Himmel! Wenn ich nicht immer ganz den Kopf verlöre, sobald mein Blut ins Kochen gerät, ich hätte Lust, geradeswegs zu dem Hause hinzugehen und das Geheimnis aus einem von ihnen herauszupressen. Was ich sage, ist dies: Gibt es einen Gott dort oben? Dann sieht er alles, und die Gesellschaft ist nur eine Rauchwolke vor ihm, und solange ich den Mut in mir fühle, es zu tun, gehe ich grade auf mein Ziel los.«

»Wenn nicht zu gleicher Zeit der Schnaps in dir ist,« sagte Percy, »der dich dann allerdings hindern würde, klar zu sehen und geradeaus zu gehen.«

Dieser Einwand war ein herber Stoß. Robert nickte. »Das ist wahr. Ich vermute, es ist die Folge meiner mangelhaften Erziehung, daß ich nicht kühl bleiben kann. Hinterher schäme ich mich selbst deswegen. Ich schreie und wettere, und das Ende davon ist, daß ich davongehe und ziemlich dieselbe Meinung über Robert Eccles habe, wie die, in welche ich die Leute hineingeängstigt habe. Vielleicht findest du, daß ich in diesem Falle zu tadeln bin? Einer jener Herren Blancove – nicht der, von welchem du gehört hast – schlug mich auf freiem Felde, unter den Augen einer Dame. Ich habe es hingenommen. Es war ein Teil dessen, was ich erwartete, als ich ihnen entgegentrat. Spät am Abend ritt ich nach Hause, und da stand er an der Biegung der Landstraße mit einem alten Feinde von mir, einem traurigen Burschen. Sedgett, heißt er – Nic, der Taufname, der dazu gehört. Es war gerade von Norden her eine Menge Schnee gefallen, und das Mondlicht blitzte hinter den flüchtigen, weichenden Wolken hervor, und ich sah Sedgett mit einem Stock in der Hand, aber der Herr hatte keinen Stock. Ich will Mr. Edward Blancove den Ruhm lassen, daß er nicht die Absicht hegte, in dies Memmenstück tätlich einzugreifen.

»Aber was hatte er mit meinem Feinde zu beratschlagen? Und er ließ meinen Feind – übrigens, ich weiß, Perey, du magst nicht, wenn man derart von ›seinem Feinde‹ spricht. Du magst lieber, daß man schlicht und einfach spricht, aber wenn ich hier wieder in dieser alten Gegend bin, falle ich in die alten Gewohnheiten zurück, und ich bin immer ein schlechterer Mensch, wenn ich dich mal eine Zeitlang nicht gesehen habe. Also sagen wir Sedgett. Sedgett holte, als ich vorbeiritt, zu einem Schlage gegen meines Pferdes Knie aus und traf es eben über dem Kötengelenk. Das Pferd bäumte auf. Während ich mich im Sattel hielt, holte er zum zweitenmal gegen mich aus und traf mich hier.«

Robert berührte seinen Kopf. »Ich fiel vom Pferde herab, wie eine Kastanie vom Baum. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf der Dorfstraße. Ich glaube, ich habe da eine halbe Stunde lang ausgestreckt gelegen, das Gesicht auf der Erde, bei vollem Bewußtsein und die hübsche Farbe meines Blutes auf dem Schnee angestarrt. Das Pferd war fort. Ich brachte es noch eben fertig, nach diesem Hause zu taumeln, das immer eine Heimat für mich ist. Ja, hältst du nun so etwas für möglich? Am nächsten Tage ging ich aus: Ich sah Mr. Edward Blancove, und ich hätte ebensogut ein Baby an seiner Stelle sehen können, meine Gefühle hätten keine anderen sein können. Ich ahnte gar nicht, wer es war. Gestern früh bekam ich deinen Brief von Sutton-Farm. Ich weiß nicht, wie es kam, aber in dem Augenblick, als ich ihn las, erinnerte ich mich deutlich seines Gesichtes. Ich schrieb ihm, es sei eine Sache zwischen uns zum Austrag zu bringen. Findest du, daß ich verkehrt gehandelt habe?«

Major Waring ließ einen bedächtig prüfenden Blick auf ihm ruhen.

»Ich möchte noch mehr hören,« sagte er.

»Du meinst, ich habe kein Recht, einen Mann in seiner Lebensstellung zu fordern?«

»Antworte mir zunächst, Robert. Du glaubst, dieser Mr. Blancove hat diesem Sedgett bei seinem Überfall geholfen oder ihn dazu angestiftet?«

»Das steht mir völlig außer Zweifel.«

»Direkt ersichtlich ist es nicht?«

»Es ist, wie die Umstände liegen, völlig ersichtlich.«

»Auf alle Fälle bist du vielleicht berechtigt, ihn dessen für fähig zu halten: obschon man in der Regel nie etwas Unnobles von jemand vermuten sollte, bis es ganz klar bewiesen ist, und dann stößt man ihn mit Schimpf und Schande hinaus. Wenn du es aber für wahr hältst, möchtest du dich dann mit ihm auf gleiche Stufe stellen?«

»Ja,« sagte Robert.

»Dann nimmst du damit seinen Sittenkodex an.«

»Das ist mir zu spitzfindig; aber Männer, die gegen jede Art des Duellierens oder irgendwelchen ernsten Ausfechtens Mann gegen Mann predigen, machen immer derartige Einwände.«

»Ich verabscheue jegliches Duellieren,« bemerkte Major Waring. »Ich mag kein System, das Buben und Narren die Möglichkeit bietet, ein Anrecht darauf zu erwerben, das Leben nützlicher Menschen zu bedrohen. Laß mich bemerken, daß ich nicht zu denen gehöre, die dagegen predigen. Ich denke, du kennst meine Ansichten, sie decken sich nicht ganz mit denen des englischen Richterstandes und anderer mildherziger Personen, denen jeder Vorwand recht ist, um in der Praxis ihrem Zorn die Zügel schießen zu lassen. Wir wollen uns an die andere Erörterung halten: Du forderst einen Mann – du erklärst ihn damit für deinesgleichen. Aber warum mit dir hierüber disputieren? Ich kenne deine Gedanken so gut, wie meine eigenen. Du hast noch irgend etwas im Hinterhalt.«

»Ich fühle, daß er der Schuldige ist,« sagte Robert.

»Du fühlst dich dazu berufen, ihn zu bestrafen.«

»Nein. Warte: er will nicht fechten, aber ich habe ihn in der Hand und ich halte ihn. Ich fühle es, daß er der Mann ist, der dies Mädchen ins Unglück gestürzt hat; alle Tatsachen, die ich zusammenreimen kann, beweisen es mir, und was den andern jungen Burschen betrifft, so habe ich ein solches Hundeleben hier geführt, daß ich ihn um Verzeihung bitten könnte. Das Auge dieses Mannes hat in meinem gewurzelt. Ich habe gesehen, daß er auch vor einem Mord kaum zurückgeschreckt wäre – wenn sich ihm die Gelegenheit geboten hätte. Warum? Weil ich auf die richtige Feder gedrückt habe. In einigen Dingen bin ich so schlau, wie ein Weib. Er soll mir büßen! Bei –! Schlag mich ins Gesicht, Percy. Ich hab' mich ans Trinken und Fluchen gewöhnt. Verdammt das Mädel, das mich die guten Lehren hat vergessen lassen! Gesegnet sei sie, wollt' ich sagen. Sie sah dich, nicht wahr? Wurde sie rot, als sie deinen Namen hörte?«

»Sehr,« sagte Major Waring.

»Was hatte sie an?«

»Schwarz mit einem feuerroten Bande um den Hals.«

Robert scheuchte das Bild von seinem Blick.

»Nein, ich will nicht von ihr träumen. Frieden und kleine Kinder und Landwirtschaft und Stolz auf mich selbst mit einem Weib zur Seite – ach was! Du hast sie gesehen – all das ist nun vorbei. Ich könnte grad' so gut den Ostwind auffordern westlich zu wehen. Ihr Gesicht sieht nach der andern Seite. Natürlich, der Charakter und der Wert eines Mannes zeigt sich in der Art und Weise, wie er einen derartigen Schmerz trägt, und hör' mich nur: Ich schreie darunter auf! Ich dachte, ich hätte es verwunden. Ich hab' einer Dame in die Augen gesehen, die zehnmal lieblicher war – wann? irgendwann! Daten sind mir entfallen. Aber da hat mich das Mädel wieder zu fassen. Sie schlüpft in mich hinein, läßt ihre Hand in meine Brust hineingleiten und reißt da an den Saiten. Ich kann es nicht lassen, mit dir über sie zu sprechen, nun wir das Erste einmal überwunden haben. Ich werd's schon bald wieder aufgeben.

»Ein rotes Band trug sie? Wenn es Frühling gewesen wäre, hättest du Rosen gesehen. O was für ein standhaftes Herz das Mädchen hat! Das heißt, wo sie es einmal gegeben hat! Wo dies Menschenkind ihr Herz einmal gibt, da gibt es auch sein Leben. Aber was mich betrifft – nicht für 'n Heller Trost! Ach, eine ganze Woche seh' ich sie nun so, Tag und Nacht, in dem schwarzen Kleid mit dem farbigen Band. Da geht sie hin: zur Kirche, so sitzt sie am Tisch, so sieht sie aus dem Fenster! –

»Wirst du glauben, daß mir diese dicken Augenbrauen, die sie hat, einmal häßlich vorkamen? – vor einer unglaublich langen Zeit. Ja, aber was für Augen hat sie darunter! Und wenn sie freundlich aussieht, dann sitzt so ein leichtes Zittern in dem einen Mundwinkel, und die Augen blicken ganz fest, so daß es aussieht wie ein wunderbares Stückchen Barmherzigkeit.

»Immer denke ich an dies treuherzige Geschöpf, wie sie für ihre Schwester betet und sich nach ihr sehnt und sich sorgt, daß Schande an ihr haften könnte – das ist es, weswegen sie mich haßt. Ich wollte nicht sagen, ich sei überzeugt, ihre Schwester sei nicht in eine Falle geraten. Ich konnte es nicht. Ich war ein Idiot. Ich dachte, ich wollt' kein Heuchler sein. Ich hätte ja sagen können, ich glaubte, was sie glaube. Da stand sie, ganz bereit, sich nehmen zu lassen, ganz bereit, sich mir zu geben, wenn ich nur ein einzig Wort gesprochen hätte! Es war ein himmlischer Augenblick, und Gott Vater kann ihn nicht zum zweitenmal gewähren! Nun ist das Glück verpaßt!

»O, was bin ich für ein elender, toller Hund, in solcher Art loszuplappern. – Herein, herein, Mutter!«

Mrs. Boulby trat mit leisen Schritten ein, sie trug einen Brief.

»Vom Park,« sagte sie und begann Robert freundlich zu schelten, um dann ihr Recht dazu mit einiger Feierlichkeit zu behaupten.

»Immer spricht er, Herr. Er gehört zu denen, die entweder reden oder ganz stumm herumhängen, einen Mittelweg gibt's da nicht; und der Doktor ist ihr persönlicher Feind, und Gesundheit verachten sie, und seit er diesen schrecklichen Schlag bekommen hat, ist es wirklich, als war' ihm der Eigensinn wie so 'n Nagel in 'n Kopf gehauen, und dann kann man reden, wie man will, 's macht rein gar nichts aus.«

»Es muß doch geredet werden, wenn zwei Freunde zusammenkommen, Madam,« sagte Major Waring.

»Ja,« erwiderte die Witwe, »wenn's man nicht immer bloß von einer Seite war'!«

»Ich bin nun fertig, Mutter,« sagte Robert. Mrs. Boulby zog sich zurück und Robert öffnete den Brief.

Er lautete, wie folgt:

»Mein Herr! Es freut mich, daß Sie die Gewogenheit gehabt haben, mich in gemäßigtem Tone anzureden, so daß ich in der Lage bin, mich von einem ungerechten und höchst unangenehmen Verdachte zu reinigen. Ich will, wenn es Ihnen lieb ist, Sie oder Ihren Freund sehen; vielleicht werde ich letzterem besser auseinandersetzen können, wie unbegründet der Vorwurf ist, den Sie mir machen. Ich werde Sie im Wirtshaus ›Zum Piloten‹ aufsuchen, wo Sie sich, wie ich höre, aufhalten, oder bin, wenn Ihnen solches lieber sein sollte, zu jeder Zusammenkunft, die Sie etwa anderswo festsetzen, bereit. Doch muß es sofort sein, da der Termin meines Aufenthalts in dieser Gegend begrenzt ist.

Ich bin, mein Herr,
Ihr ganz gehorsamer
Edward Blancove.«

Major Waring las die Zeilen mit kritischer Aufmerksamkeit.

»Es scheint mir billig und offen,« bemerkte er.

»Hier,« Robert schlug sich an die Brust, »hier ist meine Antwort für ihn. Was soll ich machen? Soll ich ihn bitten, zu kommen?«

»Schreibe ihm, dein Freund würde ihn an einem bestimmten Platze treffen.«

Robert sah, wie ihm seine Beute entwischte. »So soll ich ihn nicht sehen?«

»Nein. In solcher Art Fällen ist der formell gebotene Weg der richtigste. Dies ist das gegebene Vorgehen zwischen Gentlemen.«

»Es kommt mir so vor,« sagte Robert, »als suchten Gentlemen gewissermaßen, den geraden Weg immer zu umgehen.«

»Du redest wie ein Zivilist vor einer Festung,« erwiderte Percy. »Entweder findet er die Sache so leicht, daß er nur einfach hineinspazieren kann, oder er gibt sie sofort als uneinnehmbar auf. Du bist deinen eigenen Ideen gefolgt und was hast du erreicht?«

»Er wird dich glatt belügen.«

»Glatt oder nicht, sobald ich entdecke, daß er nicht die Wahrheit spricht, wird er mir verantwortlich dafür sein.«

»Mir, Percy.«

»Nein, mir! Dir kann er sich mit List entziehen, und das allgemeine Urteil wird ihn deswegen freisprechen. Wenn er mir hingegen verantwortlich wird, so steht vom allgemeinen – und das ist hier der tatsächlich in Frage kommende – Gesichtspunkt aus, seine Ehre auf dem Spiel, und ich habe ihn in der Hand.«

»Das sehe ich ein. Ja, er kann es ablehnen, sich mit mir zu schlagen.« Robert seufzte. »Weiß Gott, es ist 'ne schwierige Welt, wenn die verschiedenen Lesarten in Frage kommen. Aber, Percy, du wirst ihm die Pistole auf die Brust setzen: ›Haben Sie das Mädchen betrogen?‹ und ›wissen Sie, wo das Mädchen jetzt ist?‹ Großer Gott, wir wollen ja nur wissen, wo sie ist! Sie kann ja ermordet sein. Man hat sie vor ihrer Familie versteckt. Laß ihn gestehen, und dann laß ihn laufen.«

Major Waring schüttelte den Kopf. »Du siehst die Sache vom Standpunkte etwa einer Frau an, Robert. Jedenfalls redest du wie eine Frau. Ich werde ihm sagen, welchen Verdacht du gegen ihn hegst. Wenn ich das getan habe, bin ich verpflichtet, seine Erwiderung anzuhören. Entdecken wir, daß es sich dabei um Lügen handelt, so habe ich mein Gegenmittel bereits zur Hand.«

»Kannst du denn nicht einsehen, daß es nicht mein Zweck ist, ihn zu bestrafen, sondern ihm das Geheimnis zu entreißen, gleich – augenblicklich?« rief Robert.

»Ich kenne dein Ziel ganz genau, und du hast ja bereits einige Erfahrungen hinsichtlich deines Systems gemacht. Es ist der in die Tat umgesetzte primitive Aufschrei zu dem Gott des Kampfes, der dieser Tage zu seinem Recht gekommen ist. Es bleibt dir kein anderer Ausweg, als dich an sein Wort zu halten.«

»Sie sagte,« – Robert schlug sich aufs Knie – »sie sagte, ich solle die Adresse des Mädchens haben. Sie sagte, sie wolle sie aufsuchen. Sie hat es mir heilig versprochen. Ich spreche von der Dame oben in Fairly. Komm, die Dinge fangen an sich zu klären. Wenn sie weiß, wo Dahlia ist, wer hat es ihr dann erzählt? Dieser Mr. Algernon – nicht Edward Blancove – ist im Theater in einer Loge mit Dahlia gesehen worden. Er ist dort mit Dahlia gewesen, trotzdem halte ich nicht ihn für den Schuldigen. Mir deutet ein bestimmter, leuchtender Fingerzeig auf jenen andern.«

»Wer ist diese Dame?« fragte Major Waring mit emporgezogenen Augenbrauen.

»Mrs. Lovell.«

Bei dem Namen saß Major Waring da, wie vom Schlage gerührt.

»Lovell!« wiederholte er leise. »Lovell! Ist sie jemals in Indien gewesen?«

»Das weiß ich wirklich nicht.«

»Ist sie Witwe?«

»Ja, das habe ich gehört.«

»Beschreib' sie mir.«

Robert unterzog sich der Aufgabe mit einem Dutzend überstürzter Ausrufe und schloß sehr gerechtfertigtermaßen damit, daß er kein rechtes Bild von ihr zu geben vermöge. Aber sein Freund hatte offenbar genug erfahren.

Major Warings Antlitz hatte sich mit einer eigentümlichen Blässe überzogen, und das Lächeln war aus seinen Zügen verschwunden. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, packte es wie einen Schopf, während er dasaß und in die rote Glut des Feuers starrte, in dem das Licht vergangener Tage und stürmischer Erinnerungen zu hängen pflegt, wie in einer zu Trümmern versinkenden Welt.

Robert wußte von einem traurigen Schatten in Percys Leben, und daß er ein Weib geliebt habe und aus seiner Leidenschaft erwacht sei. Der Name war ihm unbekannt. Sein natürliches Zartgefühl und die Ehrerbietung, die er Percy gegenüber empfand, hatten ihn immer zurückgehalten, diese Angelegenheit tiefer zu sondieren. Mochte er, wo seine eigenen Instinkte lebendig waren, den feinen Spürsinn eines Weibes besitzen, wie er selbst sagte, – im Erraten der Ursache von Percys plötzlicher Depression ließen sie ihn im Stich.

»Sie sagte – diese Dame, Mrs. Lovell, wer sie denn immer sein mag – sagte, daß du die Adresse des Mädchens haben solltest? Gab sie dir ihr Wort darauf?« Percy sprach halb nachdenklich. »Wie kam denn das? Wann hast du sie gesehen?«

Robert erzählte, auf welche Weise er mit ihr zusammengetroffen sei, und wie sie sich bemüht habe, Frieden zu stiften, ohne indessen Mrs. Boulbys Bericht von der Wette anzudeuten.

»Eine Friedensstifterin!« warf Percy dazwischen. »Reitet sie gut?«

»Die beste Reiterin, die ich je in meinem Leben gesehen habe,« war Roberts rasche Antwort.

Major Waring strich sich schnell über die Stirn, als sei er ungeduldig, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Du mußt zwei Briefe schreiben: einen an diese Mrs. Lovell. Sag' ihr, du seiest im Begriff, die Gegend zu verlassen, und erinnere sie an ihr Versprechen. Die Sache ist unbegreiflich, – aber immerhin. Das schreibe zunächst. Dann an den Mann. Sag', daß dein Freund – Übrigens, sag' mal, hat diese Mrs. Lovell sehr kleine Hände? Ich meine, ganz auffallend kleine? Ist dir das aufgefallen oder nicht? Vielleicht kenne ich sie. Na, es ist einerlei. Schreib' an den Mann. Sage – schreib' nicht meinen Namen – sag', daß ich ihn treffen wolle.« Percy sprach wie im Traum. »Gib irgendeinen Ort und irgendeine Stunde an. Morgen um zehn, unten am Fluß, – bei der Brücke. Schreib kurz. Danke ihm für sein Anerbieten, sich mit dir auseinanderzusetzen. Wir wollen jetzt nicht weiter über die Sache hin und her sprechen. Schreib' nur geradeswegs die beiden Briefe.«

Er hatte Robert den Rücken zugewendet, während er ihm diese Anweisungen gab. Robert nahm Feder und Papier und tat, wie ihm geheißen mit dem pünktlichen Gehorsam eines Mannes, der gezwungenermaßen einwilligt, einen besseren Plan fahren zu lassen.

Eine Wirkung der zwischen diesen beiden der Lebensstellung nach so verschiedenen, in vollkommen zartem Empfinden so ähnlichen Männer, war dies, daß Robert von dem Augenblick an, wo Percy die Leitung einer Sache übernahm, solche niemals in Zweifel zog. Während er vor sich hinmurmelte, daß er außerstande sei, anders als in leidenschaftlicher Erregung zu schreiben, brachte er, in Percys Augen, ganz zufriedenstellende Briefe fertig, ob schon Robert selbst hinsichtlich des Briefes an Mrs. Lovell voller Zweifel war, sowohl was den Wortlaut, den Aufbau der Sätze, ja, sogar die Handschrift betraf. Diese Botschaften wurden sofort abgesandt.

»Du bist ganz sicher, daß sie das gesagt hat?« fragte Major Waring im Laufe des Nachmittags mehr als einmal, und Robert versicherte ihn, daß Mrs. Lovell ihm ihr Wort gegeben. Er wurde sehr bestimmt dabei und versicherte auf seine Ehre, sie hätte es gesagt.

»Du könntest dich doch verhört haben.«

»Die Worte sind in mein Gedächtnis eingebrannt,« sagte Robert.

Ehe es dunkel wurde, gingen sie miteinander nach Sutton-Farm herüber, aber Jonathan Eccles war draußen auf seinen Feldern, so hieß nur Frau Anne sie willkommen, deren Herz zu schmelzen Major Waring nicht die Macht besaß; in dem Augenblick, wo er lobend von Robert zu sprechen anfing, schloß sie ihren Mund ganz fest und kreuzte die Hände in stummer Ergebung.

»Ich verstehe,« sagte Major Waring, als sie die Farm verließen, »deine Tante gehört zu jener Art Gottesfürchtiger, die keine Vergebung kennen.«

»Ich fürchte,« rief Robert, »kaltes Blut und heißes werden einander nie verstehen, und die alte Dame ist wie gefrorene Milch. Auf ihre Weise mag sie ja recht, haben. Ich mache ihr keinen Vorwurf. Ihre Frömmigkeit ist echt, man muß sie eben nehmen, wie sie ist.«

Mrs. Boulby vermutete scharfsinnigerweise, daß vornehme Herren alle Tage ihres Lebens ein vorzügliches Mittagessen einnähmen, und solches von der Vorsehung als ihr Recht in Anspruch nähmen. Sie hatte sich aufs äußerste angestrengt, ein feines kleines Diner für Major Waring zu bereiten und bediente selbst die Freunde, wobei sie lebhaft bedauerte, daß der Major die Obliegenheiten eines Gentleman so weit vernachlässigte, der Mahlzeit nicht die rechte Würdigung angedeihen zu lassen.

»Aber,« sagte sie unten am Büffet, »er raucht die schönst-riechenden Zigarren und trinkt den Kaffee, auf seine besondere Art zubereitet. Er ist sehr eigen.« Was ein besonderes Lob für Major Waring bedeuten sollte.

Es war gegen Mitternacht, als sie mit einem zweiten Briefe vom Park ins Zimmer kam. Sie warf ihn auf den Tisch, aufgeregt und unter dem Vorgeben eines sich nur mühsamen Beherrschens, wie es einem weiblichen Sturm voranzugehen pflegt. Ihre Entrüstung war die Folge einer Mitteilung von Seiten Dick Curtis' unten im Gastzimmer, des Inhalts, daß Nie Sedgett aus der Gegend verschwunden sei, niemand wisse, wohin.

Robert lachte sie aus und nannte sie eine Hebräerin – mit ihrem ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹.

»Überlaß richtige Schurken dem Herrn dort oben, Mutter. Er bestraft sie sicherlich. Sie haben das Glück verwirkt. Das ist meine Auffassung. Ich würde keinen Schritt von meinem Wege abgehen, um ihnen einen Stoß zu geben – nein, wahrhaftig nicht! Es sind die Halb-und-halb-Schurken, mit denen wir aufzuräumen haben. Die bringen das Unheil in die Welt, alte Dame!«

Percy hingegen stellte einzelne Fragen hinsichtlich Sedgetts und schien sein Verschwinden sonderbar zu finden. Er hatte die Handschrift der. Adresse des Briefes prüfend betrachtet. Sein Gesicht war gerötet, als er ihn Robert zuschob, damit dieser ihn öffne. Mrs. Boulby verabschiedete sich mit einem Knicks, und Robert las mit einer Menge Pausen und verwunderter Betonung:

»Mrs. Lovell hat den Brief, welchen Herr Robert Eccles an sie gerichtet hat, erhalten und bedauert, daß irgendein Mißverständnis aus einer während der Zusammenkunft gemachten Äußerung entstanden sein kann. Die Andeutungen sind dunkel, und Mrs. Lovell kann nur ihrem Bedauern Ausdruck geben, wenn sie Mr. Eccles irgendwie durch etwas, was sie gesagt oder versprochen haben sollte, irregeleitet haben kann. Sie ist sich dessen nicht bewußt, ihm irgendwie von Nutzen sein zu können. Sollte sich ihr eine Gelegenheit dazu bieten, möge Mr. Eccles überzeugt sein, daß sie nicht verfehlen wird, sich einer solchen zu bedienen, und ihr äußerstes zu tun, einer Verpflichtung nachzukommen, der er offenbar eine Bedeutung beigelegt hat, die sie in keiner Weise versteht, noch erinnert.«

Als Robert fertig gelesen hatte, sagte er: »Es ist wie ein weiblicher Advokat. Wie die Frau schreibt und wie sie spricht, das sind zwei verschiedene Persönlichkeiten – wahrhaftig, total verschieden! Rasch, klar, grade aufs Ziel losgehend, wenn sie spricht, und nun lies dieses! Darf ich es wagen, von einer Dame zu sagen, daß sie eine Lügnerin ist?«

»Vielleicht unterläßt du das besser,« sagte Major Waring, der den Brief in die Hand nahm und ihn zu studieren schien. Worauf er ihn in seine Tasche schob.

»Morgen? Morgen ist Sonntag,« bemerkte er. »Wir wollen morgen zur Kirche gehen.« Seine Augen blitzten.

»Na, dafür bin ich kaum in der Stimmung,« protestierte Robert. »Ich habe diese Gewohnheit in letzter Zeit fallen lassen.«

»Du solltest an der Gewohnheit festhalten,« sagte Percy. »Sie hat ihr Gutes für einen Mann wie dich.«

»Aber was für eine Art Mensch bin ich denn, daß ich mich da den Leuten zeigen soll, die über mich geredet haben – und den Leuten von Fairly!« Robert schauderte bei dem Gedanken. »Die Leute werden mich wie eine Sehenswürdigkeit anstaunen. Bei meiner Ehre, Percy, ich glaube, das kann ich nicht gut. Ich will zu Hause in der Bibel lesen, wenn du meinst.«

»Nein, du wirst Buße tun,« sagte Major Waring.

»Ist das dein Ernst?«

»Die Buße auf meiner Seite wird zehnmal größer sein, das kannst du mir glauben.«

Robert dachte, er mache sich auf irgendeine Weise über die Vermittlerrolle der Kirche lustig.

»Dann wollen wir in die Upton-Kirche gehen,« sagte er, »in Upton ist es mir einerlei.«

»Ich will in die Kirche gehen, die ›die Herrschaft‹ besucht, wie man bei uns zu Lande sagt, und du mußt mit mir nach Warbeach kommen.«

Indem Robert sich mit der einen Hand über die Stirn strich, rief er: »Du könntest nichts von mir verlangen, was ich so sehr hasse. Dahingehen und dasitzen und wie 'n Schaf aussehen und Lobgesänge mit den Leuten singen, die ich eben noch gehetzt habe, und von jedermann gesehen werden! Wie kann es dir irgendwie etwas Ähnliches sein, wie mir?«

»Du kannst dich nur auf mein Wort verlassen, daß es mir ebenso schwer und schwerer ankommt, wie dir,« sagte Major Waring mit leiser Stimme. »Komm, es wird dir nichts schaden, hie und da eine kurze Zwiesprache mit deinem Gewissen zu halten. Du wirst dich niemals von der Vernunft leiten lassen, so haben deine Gefühle dich zu lehren, was es für dich zu lernen gilt. Auf alle Fälle bitte ich dich darum.«

Damit endete das Gespräch über dies Thema. Robert sah einem der Buße geweihten Sabbath entgegen.

»Sie ist immer noch Witwe,« dachte Major Waring, als er allein in seinem Schlafzimmer stand, und indem er die Fenstervorhänge zurückzog, blickte er zu dem weißen Mond empor.


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