Alexander Moszkowski
Der Venuspark
Alexander Moszkowski

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Der Lebenskünstler

Mit Aufbietung aller Maschinenkräfte hätte das Schiff die Strecke von Brindisi nach Zypern in etwa fünfzig Stunden bewältigen können. Allein zu den besonderen Vorzügen der »Velox« gehörte es, daß sie auf ihren Namen nicht pochte, sich vielmehr Zeit ließ und dadurch ihren Gästen den Genuß einer ausgiebigen Mittelmeerfahrt verschaffte. Es wurden zudem etliche Jonische Häfen angelaufen, eine weitere Rast war in Kanea auf Kreta zu absolvieren, und zum Überfluß ergab sich noch ein kleiner Maschinendefekt auf freier See, dessen Reparatur einen Tag beanspruchte; so daß wir alles in allem eine volle Woche die Herrlichkeiten des Hindämmerns im Farbenspiel zwischen Himmel und Wasser auskosten durften. Es fehlte aber auch nicht an gesellschaftlichen Veranstaltungen, die das internationale Publikum des Dampfers sehr wohl zu schätzen wußte. Hier gab es Typen aus aller Herren Länder, die alle dem nämlichen Ziel zustrebten, und es war ersichtlich, daß dieses zyprische Ziel auf die Westvölker einen weit stärkeren Magnetismus ausstrahlte, als ich vordem vermutet hatte. Der Neustaat Limisso, und was damit zusammenhing, war eben in den amüsierbedürftigen Schichten Europas modern geworden und stand im Begriff, den vormaligen Allerweltszielen Madera, Sizilien, Algier und Ägypten den Rang abzulaufen. Und gerade weil diese Leute fast sämtlich genau wußten, was sie wollten, indem sie der selbstverständlichen Linie der Mode folgten, mußte ich mich oft zweifelnd fragen, welches Fatum mich eigentlich aus meiner heimischen Klausur in diesen mondänen Trupp hineingerissen hatte. War nicht am Ende meine eigene Absicht improvisierter, abseitiger, exzentrischer als die Pläne dieser Menschen, die einfach dorthin fuhren, weil die Saison das verlangte?

Meine zwei Bekannten wurden in den ersten Tagen nur selten sichtbar. Sie hausten zumeist in einem geräumigen Verschlage zwischen mächtigen Stapeln von Büchern und Skripturen, die gesichtet und katalogisiert werden sollten, bevor sie der neuen Akademie der Insel zugeführt wurden. Auch in dieser Hinsicht hatte der Krösus Kyprides größte Munifizenz geübt, und es war dem Professor gelungen, im ersten Anlauf eine große Anzahl wertvoller Werke, darunter Unika, zusammenzubringen. Hier hatte Xaver Gregory eine besondere Gelegenheit, sich in Schätze hineinzuhamstern, mit jener gefräßigen Wißbegier, die der Minute mehr abverlangt, als die Stunde zu gewähren vermag. Und oft genug mußte er ermahnt werden, den Hauptzweck, das Ordnen, nicht zu vernachlässigen, da er immer dabei war, in das Innere jedes Buches zu kriechen, das er gerade in seinen lüsternen Händen hielt. Daneben gab es Meinungsdifferenzen auszutragen, denn Gregory fand in diesen Schriften abermals gewisse Hinweise archäologischer Art, in deren Deutung er von den Ansichten seines Magisters eigensinnig abwich. Das waren aber Dinge, die die Herren unter sich abzumachen hatten. Mir lag damals das strittige Stoffgebiet noch zu fern, und meine Aufmerksamkeit wurde zudem durch andere, lohnendere Erscheinungen abgezogen.

In meinen Gesichtskreis trat eine neue Persönlichkeit, die sich vom Chor der Fahrgäste deutlich abhob, ohne daß ich anfänglich zu sagen gewußt hätte, worauf sich diese Besonderheit gründete. Aber ich verspürte gewisse Fühlfäden, die von dem Menschen ausgingen und mich mit einem magnetischen Feld umgaben. Wer war dieser Mann? Jedenfalls »Auch Einer«, also Einer, der nicht in das allgemeine Schema »Fabrikware der Natur« hineinpaßte. Dieser Schablone widersprach schon sein Äußeres. Er zeigte das Bild einer männlichen Schönheit, ohne die verdächtige Süßlichkeit, die sonst den Nachfahren des Narziß und Adonis anzuhaften pflegt. Er trug seine Wohlgestalt nicht vor sich her, posierte nicht mit ihr, vermied jede absichtsvolle Wirkung. Er schwamm vielmehr auf seiner ausdrucksvollen und sympathischen Männlichkeit wie auf einem Fluidum, das ihn mit selbstverständlichem Gleichgewicht dahinführte.

Da diese Figur in den weiteren Begebenheiten eine erhebliche Rolle spielen wird, so möchte ich einige Merkzeichen vorwegnehmen. Lothar Argelander, Deutschbalte, stammte aus sehr vermögendem Hause, das auf einer Seitenlinie seines weitverästelten Stammbaums den Namen eines berühmten Forschers trägt. Der Glanz des Astronomen Friedrich Argelander hatte den Jüngling Lothar stark beeinflußt und ihm den Wunsch erregt, in die Fußstapfen seines hervorragenden Anverwandten zu treten. Allein schon auf der Universität entsagte er den ehrgeizigen Träumen der Namensberühmtheit, um sich dafür den Realitäten des Daseins zuzuwenden. Er fand heraus, daß ihn die Summe seiner Talente am weitesten führen würde, wenn er sie gleichmäßig pflegte, ohne sich einer bestimmt abgezirkelten Laufbahn zu verschreiben. Tatsächlich ergaben sie in ihrer Vereinigung ein übergeordnetes Talent, die seltenste aller Begabungen, nämlich die Fähigkeit, im eigenen Leben ein Himmelreich zu finden, zugleich diesseits und jenseits aller Sternkataloge. Hier berühren sich Kunst und Wissenschaft, denn das Vermögen, ein Leben zum Kunstwerk zu gestalten, die Harmonie der Sphären in sich zum Ertönen zu bringen, erfließt nur als Resultante künstlerischer und wissenschaftlicher Teilkräfte. Mit der bloßen Lebensklugheit wird keiner ein Lebenskünstler, höchstens ein bloßer Genießer in den Niederungen des Daseins. Von ihnen wimmelt die Welt, und in ihrer Massenhaftigkeit bilden sie nur einen pfützenhaft irisierenden Oberschaum auf dem Pfuhl des Weltelends. Der wahre Lebenskünstler, als welcher mir Lothar Argelander entgegentrat, strahlt von sich auf andere, er erhöht das Niveau der Umgebung, er gibt ihr Möglichkeiten des Genusses zu spüren, die sonst weder im Trott des Alltags noch sogar im Verkehr mit geistig Bevorzugten angetroffen werden; weil auch diese Bevorzugten, Künstler wie Forscher, fast ausnahmslos zwischen Ringen und Vollendung stehen, keinen Abschluß kennen, und als Signal ihrer Anstrengung beständig die Kette ihres eigenen Lebens klirren lassen.


Am zweiten Tage der Seereise näherte er sich mir ohne Umstände auf dem Promenadendeck: ob wir uns nicht zur nächsten Mahlzeit zusammensetzen wollten; und zwar nicht bei Tafel, sondern im kleinen Extrasalon, wo man sich außerhalb der Tischzeit ein hübsches Lunch nach der Karte servieren lassen konnte. Dieser Vorschlag kam meinem Wunsch entgegen, da ich hier den Anfang einer Unterhaltung mit ersprießlichen Fortsetzungen voraussah. Im Moment beschlich mich die Ahnung, daß dieses Impromptu einer flüchtigen Berührung den Auftakt eines Erlebnisses bilden würde.

– Wenn wir uns von der Horde absondern, sagte Argelander, so ist das zunächst eine Angelegenheit der reinen Zahl. Sie kennen das hübsche Wort des Varro: Eine gute Gesellschaft muß größer sein als die Zahl der Grazien, kleiner als die der Musen . . .

»Dies Rezept«, korrigierte ich, »könnten wir beide nicht erfüllen. Es begrenzt zwischen vier und acht, und wir sind doch vorläufig nur zwei.«

– Ich würde mich darüber mit dem gelehrten Varro verständigt haben, denn ich vermute aus guten Gründen, daß er lediglich gegen die Masse, nicht aber gegen die Auslese protestieren wollte. Als das Ideal eines Konviviums wäre vielleicht ein tafelndes Quartett anzusehen, zwei Herren und zwei Damen, vorausgesetzt, daß die Konversation als leichtes Spiel gelten soll, bei dem die Worte aufgefangen und abgeschwungen werden wie Federbälle. Soll aber die Unterhaltung mehr bezwecken, als eine bloße Ergötzung mit spielerisch fliegenden Worten, so erscheint mir das Minimum des Varro noch zu hoch gegriffen: zwei Personen bei Tisch sind dann die notwendige und hinreichende Bedingung.

»Und woraus schließen Sie, daß ich Ihr geeigneter Partner wäre?«

– Weil ich Sie gestern beim Diner im großen Schiffssalon beobachtete. Sie zuckten schmerzhaft zusammen, als der erste Ton der Tafelmusik losbrach. Und Sie waren der einzige, bei dem ich dieses Symptom wahrnahm. Ein solches Zeichen feinerer Kultur ist so vielsagend, daß es unmöglich übersehen werden kann.

»Das ist in keiner Weise schlüssig. Ich könnte doch überhaupt musikfeindlich organisiert sein?«

– Nehmen Sie an, ich sei über Sie informiert. Professor Borretius hat mir zudem einiges erzählt. Sie brauchen also nicht mit mir Versteck zu spielen. Somit bleibt bestehen, daß Sie – außer mir – der einzige Gast sind, dessen Nerven die Tafelmusik als das nehmen, was sie in Wahrheit vorstellt: als eine Barbarei.

»Ist das alles?«

– Es ist für den Anfang genug. Wenn zwei Seelen in einem Ton übereinstimmen, so darf man auf weitere Konsonanzen schließen.

»Sehr kühn gefolgert. Allein ich gebe Ihnen zu, daß Sie sich in Ihrer Voraussetzung nicht geirrt haben. Die Tafelmusik hat sich tatsächlich in aller Zivilisation zu einer Land- und Wasserplage schlimmster Sorte ausgewachsen, und wenn ich dabei zusammenzucke, so unterliege ich einer doppelten Empörung darüber, daß dieser Greuel einem sogenannten Bedürfnis entgegenkommt; und daß er verlangt wird von einer Gesellschaft, die ihre Genüsse zu steigern vermeint, wenn sie Küche mit Tonkunst verkuppelt, während sie tatsächlich nur die Instinkte eines bäurischen Kirmespöbels aufzeigt.«

– Nur noch einen Schritt weiter, und wir sind bereits bei einem Problem. Nämlich bei der Frage, ob der Mensch überhaupt imstande ist, Genüsse zu summieren, zur Verstärkung übereinanderzusetzen. Oder ob die Genüsse letzten Endes auf Schwingungen beruhen, die sich wie die optischen Wellen durch Interferenz gegenseitig auslöschen können.

»Das wird sich so allgemein wohl niemals beantworten lassen,« sagte ich zweifelnd, während wir sehr materiell begannen, uns mit der Mahlzeit auseinanderzusetzen. Wir waren die beiden einzigen redenden Menschen im kleinen blauen Gemach; der bedienende Ganymed huschte lautlos auf und ab und verwirklichte maschinenmäßig die fast unmerklichen Winke, die mein Gegenüber bei Komposition der Speisen- und Trankfolge gegeben hatte. Ich beabsichtige nicht, mit Aufzählung aller Einzelheiten den verspäteten Neid der Leser zu erwecken, möchte vielmehr den Verdacht einer von uns provozierten Schlemmerei abwehren. Denn der Dampfer »Velox« kam als alleiniger Gastgeber in Betracht, und seine köstlichen Tischleindeckdich waren ein für allemal in den Besitz der Fahrkarte einbegriffen.

Mein neuer Kumpan präparierte eine Auster mit zärtlicher Handbewegung und bemerkte dabei: – Wenn Sie auf der Zyprischen Akademie philosophische Themen behandeln wollen, so rate ich Ihnen: beginnen Sie mit solchen vermeintlichen Banalitäten. Sie erreichen dadurch weit sicherer die Höhe der Lebensphilosophie, als wenn sie von metaphysischen Abstraktionen ausgehen. Der Genuß ist die Basis aller Geistigkeit, und im ganzen Umfange der Genüsse gibt es keine Nebensächlichkeit. Es ist meine feste Überzeugung, daß man an der Hand der großen Genußkünstler wie Apicius, Mantegazza, Brillat-Savarin die letzten Dinge weit sicherer und tiefer erschließt, als wenn man sich von Descartes oder Kant beraten läßt.

»Man wird aber mit solcher Methode von den Ethikern als Genüßling und Wüstling gerüffelt werden.«

– Gönnen wir ihnen den Angriff und verlassen wir uns auf die Durchschlagskraft unserer Abwehrhiebe. Wir sind die Stärkeren, und um gute Bundesgenossen brauchen wir uns keine Sorge zu machen. Wo saßen die großen Moralisten der Vorzeit? Bei den Symposien! Und mit dem einen Aristoteles hebe ich schon das ganze Gelichter der scheinheiligen Abstinenten aus den Angeln. Meine klassischen Freunde betrachteten das Essen und Trinken nicht als die gemeine Notdurft, sondern als Weiheopfer für die Götter, und Aristoteles hat aus sprachkritischen Gründen bewiesen, daß der Schmaus an sich, ἡ ϑοίνη, einen geistigen Kult bedeute, woraus eine erhabene Pflicht herzuleiten, sich gottesdienstlich an der Tafel zu berauschen. Liegt nicht schon im Doppelsinn des Wortes »Spiritus« eine sublime Weisheit? Und ist es ein Zufall, daß die Verwalter der Aristotelischen Erbschaft, die Mönche, auf spirituosem Gebiet soviel erfinderischen Scharfsinn entwickelten?

»Sie meinen die Benediktiner und die frommen Ordensbrüder der Chartreuse – nicht üble Eideshelfer für einen Sybariten!«

– Wie die beschaulichen Klosterweisen überhaupt. Wir werden uns nachher in eine Suppe à la Carmelite vertiefen . . .

»Aber das ist doch nur ein Küchenname wie Chateaubriand oder Tournedos a la Rossini? Meines Wissens waren die Carmeliter vegetarische Bettelbrüder mit asketischen Gepflogenheiten, ohne jede Möglichkeit, Pfade der Sinnenlust zu beschreiten.«

– So mag es im Brockhaus stehen, aber aus genaueren Dokumenten – ich nenne Bulwer – erfahren wir es anders. Wie einst Poncelet als Eingesperrter in den finsteren Kasematten von Saratow eine neue Mathematik, die projektivische Geometrie aufbaute, so erweiterten die Carmeliter in ihren trüben Zellen eine andere Wissenschaft, die der Gaumenfreude. »Lassen wir dem Orden dieser unvergleichlichen Männer Gerechtigkeit widerfahren, die, von den Sorgen einer sündhaften Welt zurückgezogen, sich mit ungeteiltem Eifer und Nachdenken in Theorie und Praxis der tiefen Wissenschaft der Gastronomie ergaben. Uns ist es aufbehalten, den dankbaren Tribut der Erinnerung diesen geistreichen Klausnern zu zollen, die eine lange Periode der Barbarei und Finsternis hindurch in der Einsamkeit der Klöster retteten, was aus der Großzeit des klassischen Genusses in Trümmern auf uns herabgekommen ist.« Die Geschichte dieser Lüste gäbe für Philosophen und Moralisten ein wichtiges Forschungsziel, denn sie enthält zugleich die Geschichte künstlerischer Illusionen, in denen Leibliches mit Geistigem zusammenfließt. Warum waren in den Gelagen der Alten Nachtigallenzungen so hoch geschätzt? Nicht aus großtuerischer Perversität, sondern weil sie die ganze Musik dieses Vogels in seinen Singorganen schmeckten. Sowie noch heute der Kenner in den Austern den Gesang der Nereiden herausspürt, die mit goldenen Instrumenten die Tiefe des Meeres durchrauschen. Da haben Sie die eine Seite des soeben angeschlagenen Problems: diese Austern mit ihren ozeanisch irisierenden Rändern stehen auf der Grenze zwischen Eßwerk und schönen Künsten. Ihr Nährwert ist Null, ihr Geschmackswert minimal für den schlingenden Banausen, der keine Ahnung hat, wie die Sinne miteinander korrespondieren. Aber im Edelmenschen reagiert das innere Ohr auf den Anschlag der Zunge, und ein Fluidum durchzieht ihn wie aus dem ersten Akt von Wagners Tristan. Fährt man ihm hier mit Tafelmusik dazwischen, so wird er der nackten Brutalität ausgeliefert.

»Danach müßte man also überhaupt jeden Genuß vollkommen isolieren.«

– Doch nicht. Nur darauf ist zu achten, daß die Erregungen logisch konsonieren; und hierfür lassen sich die Kriterien nur aus der Erfahrung gewinnen. Sie belehrt uns zum Beispiel darüber, daß Austern und Chablis in einen vollen Akkord zusammenklingen, während Austern und Bier oder Tee einen direkt lächerlichen Mißklang liefern. Sie zeigt uns ferner, daß das Gewürz einer geistigen Unterhaltung nicht nur zu jeder Tafelfreude paßt, sondern zur Vollendung des Genusses gar nicht entbehrt werden kann.

»Damit stoßen Sie eigentlich auf eine Anomalie. Denn die geistige Unterhaltung umschließt doch einen Wert für sich, dessen Verfolg von der unmittelbaren Sinnenfreude ablenkt.«

– Ich glaube, Ihnen fehlt noch allerlei zum Lebensvirtuosen; wie ja nicht anders zu erwarten bei einem Menschen, der neunzehn Zwanzigstel seines Daseins im düsteren Norden vegetiert, in einem Wirkungskreis, der dauernd von der Antinomie Geistig-Leiblich drangsaliert wird. Ich kenne in dieser Hinsicht keinen Kontrast, nur Parallelität, und dieser Gleichlauf ist mir vollends klar geworden, als ich persönlich anfing, in Küche und Keller zu hantieren, wo ich mit derselben Andacht weilte wie in einem Laboratorium oder in einer Bibliothek. Man muß selbst in diesen Dingen komponiert haben, um zu fühlen, daß Tischgenuß und Gedankenentwickelung im Gespräch sich ergänzen wie Gesangstext und Melodie. Wie kann man da von Ablenkung reden, wo nur Durchdringung und Eindruckserhöhung in Betracht kommen!

»Sie befanden sich in einem Ausnahmsfall, Herr Argelander. Der Philosoph an sich, selbst der materialistisch gerichtete, sucht das Animalische zu überwinden. Zeigen Sie mir in der ganzen Geschichte der Philosophie eine Größe, die sich praktisch mit kulinarischen Dingen abgegeben hat!«

– Sie sind vorhanden; und sie wären leichter zu finden, wenn unsere Gelehrten bei ihren Buchentwürfen vom Schema loskommen könnten. Schreibe einer die Geschichte der großen Sybariten, und man wird staunen über die Menge der philosophischen Spuren, die darin im Abdruck auftreten müssen. Der große Fontenelle, dem wir den erhabenen Gedanken einer Mehrheit bewohnter Welten verdanken, unterhielt sich eindringlich mit Köchen, und die Rezepte zur besten Bereitung der Spargel erschienen ihm nicht unwichtiger als die Geheimnisse des Firmaments. Alexander Pope, seinerzeit Mittelpunkt einer literarischen Epoche, äußerlich verkümmert als ein verwachsener, ewig kränkelnder Knirps von vier Fuß Höhe, fand den Ausgleich zwischen seiner Mißgestalt und der Harmonia Mundi in der lukullischen Tafel. Die erlesensten Leckerbissen waren ihm grade gut genug, und als ein törichter Höfling darüber ironisieren wollte, fuhr er ihm mit dem klassischen Merkwort in die Schnauze . . .

»Ist mir bekannt. Pope rief: ›Glauben Sie etwa, mein Herr, daß Gott der Allmächtige diese Herrlichkeiten nur für die Narren erschaffen hat?‹ Übrigens warte ich auf stärkere Beweise für Ihre Lehrmeinung.«

– Vielleicht genügt Ihnen die Weisheit Salomonis. Betrachten Sie einmal sein Hohelied als eine Synthese von Liebe, Naturfreude und Verzehrungslust. Es strotzt von Allegorien, und beinah in jedem Gleichnis steckt etwas zum Essen oder zum Trinken: des Gaumens Süßigkeiten werden gepriesen nach einem endlosen Vokabular eines Menüs voller Honigscheiben, Milchsaucen, Gewürze, süßer Früchte, zyprischer Weine, Brüste allegorisieren sich zu Trauben, Atemdüfte zu Äpfeln, Augen zu Tauben, und mitten in die verliebten Evokationen erschallt der salomonische Bacchantenruf: »Esset, Genossen, trinket und berauscht euch, meine Freunde!« Das ganze Hohelied ist mit der Zunge gedichtet, Gaumen und Nase haben den Rhythmus beschwingt über Themen, die man sonst nur dem Gefühl und Gesicht zuweist, und so ist es eine Weisheitsdichtung geworden; weil die Weisheit in ihrer Höchstleistung dionysisch wird, zur Verzückung umschlägt. Stoßen wir darauf an, Genosse der Zypernfahrt, es lebe die genußfrohe Weisheit!

»Sehr gern, wenn Ihnen daran liegt, diesen vortrefflichen Mousseux noch besonders zu rechtfertigen. Ich mache Sie aber darauf aufmerksam, daß Sie jetzt nahe daran sind, ins Extrem zu verfallen. Was Sie vertreten, geht schon über allen Epikur hinaus und nähert sich bedenklich dem Polyphem bei Euripides, der den Magen als die einzige Gottheit erklärt.«

– Durchaus nicht, obschon ich nicht verhehle, daß die Theologie des gefräßigen Zyklopen immer noch besser an die salomonische Weisheit anschließt, als das andere Extrem der landläufigen Taxe. Denn ebensowenig wie die Sinne, funktionell genommen, dürfen die körperlichen Organe getrennt werden. Es ist in höchstem Grade unphilosophisch und klingt mir wie das Geplärr eines Fastenpredigers, wenn einer das Gehirn als göttlich, den Magen aber als profan und schäbig ausruft, da doch beide gleichwertig als Substrate dessen auftreten, was wir Bewußtsein oder Seele nennen. Jede Wertabstufung in diesem Betracht – und noch Kant watet knietief in diesem Irrtumspfuhl – führt zum Blödsinn. Es ist genau so, als wollte man das Auge vergöttlichen, wenn es durchs Teleskop einen Spiralnebel erforscht, dagegen verteufeln, wenn es auf damastner Decke einen getrüffelten Fasan erblickt. Der Vorgang erinnert an die Preziösenzeit der Literatur, wo man zwischen »edlen« und »unedlen« Ausdrücken unterschied und ganze Register aufstellte von Worten, die in der Poesie verfemt waren. So sind auch hier nach Sprachgebrauch und Philosophentaxe gewisse Glieder edel, andere gemein. Schon in dem Worte Bauch steckt Verachtung, bei Nennung der Gedärme muß man sich entschuldigen, und das Gesäß schleppt sich mit dem Makel der Unanständigkeit. Aber das alles gehört zur neueren Kultur, zu einer Ideenwelt, in der die Venus Kallipygos vollkommener wäre, wenn sie ohne Steiß dastände.

Ich gab der Vermutung Ausdruck, daß Argelanders Reise wohl auch den Zweck verfolge, von dieser west- und nordeuropäischen Kultur zeitweilig abzurücken, und er zögerte nicht, mir seine Motive etwas ausführlicher zu erläutern. Er hatte sich vor einem Jahre in Zypern angekauft und nannte dort eine kleine Villa mit hübschem Garten sein eigen, ein recht wohnliches Anwesen, wie ich bald durch eigene Anschauung bestätigen konnte, da er mir mit verbindlichsten Worten seine Gastfreundschaft entgegentrug. Vorläufig hauste er da als Junggeselle, allein nach seinen Andeutungen war es nicht ganz ausgeschlossen, daß in absehbarer Zeit neben ihm eine Dame Argelandera erscheinen würde. Auf dem Kontinent und in England besaß er materielle Verbindungen geschäftlicher Art, die er während der letzten Monate mehr und mehr abgewickelt und bei persönlicher Anwesenheit in nordischen Städten bis auf gewisse Reste gelöst hatte. Eigentlich, so meinte er, könnte man in den geräuschvollen Kulturzentren überhaupt nicht mehr existieren. Sie böten nur noch abgegraste Weideplätze für einen wirklichen Hedoniker, und man stieße überall, ob in London, Paris, Brüssel, Berlin, Stockholm, selbst in Rom auf dieselben Unzuträglichkeiten, namentlich auf die gleichen monotonen Moralwucherungen, deren fade Säuerlichkeit sich überall als der Grundgeschmack des Daseins durchsetze.

Im Grunde genommen wäre dort nichts elementar und selbstverständlich, alles vielmehr entweder erlaubt oder verboten, und gerade die Menge der lästerlich aufgeputzten Vergnügungen zeuge dafür, daß man sich überall Ventile gegen drückende und überflüssige Normen schaffen wolle. Neun Zehntel aller Exzesse würden gerade durch solche Verfügungen hervorgerufen, die sie verhüten wollten. Der Staat als Polizeianstalt müsse überwunden werden, und hierfür entfalte sich auf Zypern ein neues Muster von vollendeter Toleranz, sozusagen eine Enklave der Zivilisation mit einem Mindestmaß von Befehlen und Gehorchen. Hat nicht schon Buckle in seiner Geschichte der Zivilisation auf die Möglichkeit solcher Gestaltung hingewiesen? »Die wertvollsten Gesetze sind die Abschaffung früherer Gesetze gewesen, und die besten Gesetze, die je gegeben worden sind, waren die, welche alte Gesetze aufhoben.« Nur einen Schritt weiter, und wir sind beim Idealgesetz, das alle Verfügungen überflüssig macht und die Menschheit endlich von der Paragraphenfuchtel erlöst. Aber dann herrscht ja Anarchie! zetert der Philister, der unentwegt vom ungeschriebenen Sittengesetz fabelt und sich doch den moralischen Imperativ nicht anders vorzustellen vermag, als mit Büttel und Galgen daneben. Dieser Philister (meinte Argelander) soll dort bleiben, wo er mit seinen Artgenossen zu zappeln gewohnt ist, in dem engmaschigen Netz des Dürfens, Sollens und Müssens, das ihm eine Freiheit vortäuscht, während die ganze Konstruktion des Netzes auf quälerischem Sadismus beruht. Wir aber fliegen hier einem Bestimmungsort entgegen, der sich aus eigener Naivität von der Zwangskultur freigehalten hat, einer Kolonie freigeistiger, lebenswilliger Menschen, die ihr Ich pflegen, ohne in jeder Sekunde auf ein Kontra-Ich zu prallen. Fay ce quevouldras! Diese alte Spruchformel der Abbaye de Télème ist hier neu aufgerichtet. Ob sie durchhalten wird, wer kann's wissen; genug, daß das Motto des Rabelais heute in Neu-Amathus gilt, und daß wir uns einem Erdenfleck nähern, wo wir bis auf weiteres abseits der Weltschikane tun können, was wir wollen.

Ich durfte vorerst nicht widersprechen, denn aus ihm redete der Ortskundige, während ich die verheißenden Möglichkeiten noch an der kurzen Elle meiner heimischen Erfahrungen maß. Immerhin hatte ich doch auf früheren Erholungsreisen so manche paradiesische Woche verträumt, in erhöhter Gefühlsebene und von zauberischen Natureindrücken berauscht. Und je mehr wir uns dem Ziel näherten, desto lebhafter beschäftigte mich die Frage, was mir wohl die zyprische Natur mit ihren Stimmen aus Fels, Garten, Wald und Gewässer zu sagen haben würde.

Ich empfing keine Schilderung, nur einen Vergleich, aus dem hervorging, daß ich meine Erwartungen nicht direkt auf verblüffende Szenerien zu spannen hatte. Das Signalement ging eher auf die Holdseligkeit der Landschaft, auf deren innere, sanfte Magie, als auf ihre sensationelle Wirkung beim ersten Anblick. Sicherlich gäbe es an der Ligurischen Küste, am Lago maggiore, in den Urkantonen, wie im Wallis bevorzugte Punkte, die als Knalleffekte der Natur herausfordernder aufträten. Allein beim Vergleich zeige sich der Unterschied wie bei weiblichen Reizen, die man gern sieht, wenn man sie entdeckt, und die abstoßen können, wenn sie anbietend gezeigt werden. Die seit Jahrzehnten berühmten Fremdenpunkte hätten alle etwas an sich von affischierten Freudenstätten, vor denen der Baedekerstern als Schild und Wappen herausgesteckt würde zum Zeichen, daß da furchtbar viel los sei. Fabelhafte landschaftliche Schönheiten, auf dem Präsentierbrett entgegengetragen, zu allerdings hohen, aber, wie jedem einleuchten müsse, gerechtfertigten Preisen. Dagegen wohne auf Zypern eine landschaftliche Natur, die sich suchen läßt und ihre Schleier erst in der Intimität der Umwerbung abstreift . . . Und hier kam ganz beiläufig eine Eigenheit zur Erörterung, der ich im Augenblick keine wesentliche Bedeutung beimaß, die aber von meinem Gefährten mit geflissentlicher Betonung unterstrichen wurde.

In dem vegetativen Schmuck des Landes tritt nämlich eine bestimmte hochstämmige Pflanze mit seltsamer Wirkung zutage. Sie gehört zur Klasse der Gewächse mit »hochgewölbten Blätterkronen, Baldachinen von Smaragd«, unter denen sich ein Dichter in Visionen wiegen kann, um vielleicht ins Reich der ewigen Träume einzugehen; denn der Aufenthalt unter der Euphorbia aromatica ist nicht ungefährlich. Sie kann als eine reale Schwester des phantastischen Manzanillo bezeichnet werden, unter dessen Gifthauch Vasco de Gama und Selica opernhaft verdämmern. Unter normalen Verhältnissen verrät sie sich durch ein zartes Gedüft aus eiförmigen spitzen Blättern und grünlichen knäuelförmigen Blütengruppen, durch einen leisen Dunst, der, vom Winde aufgenommen und zerstreut, keine Tücke eines Opiates zu äußern vermag; um so weniger, als hier die Gewöhnung als ausgleichender Faktor auftritt, bis zu dem Grade, daß sogar die Neu-Ansiedler sich dem Rauschduft gegenüber fast durchweg so indifferent verhalten, wie die Urbewohner. Allein man hat Ausnahmen beobachtet bei besonders empfänglichen, nervös reagierenden Personen, denen das längere Verweilen bei den Euphorbien allerlei Haschisch-Zustände mit recht bedenklichen klinischen Folgeerscheinungen eintrug. Zudem verlaufen diese Ausdünstungen dem Grade nach periodisch; die Botaniker haben festgestellt, daß sie einen merkwürdigen Zusammenhang mit gewissen meteorologischen Abläufen aufzeigen, die wiederum von der Häufigkeit der Sonnenflecken abhängen. Auf alle Fälle wäre eine Warnung am Platz, damit der Neuling sich nicht leichtsinnig in die Gefahrzone der mit Phantasmagorien gaukelnden Gewächse begebe.

»Und Sie selbst, Herr Argelander, haben Sie jemals von diesen Halluzinationen etwas verspürt?«

– Vorübergehend allerdings. Ich bin indes abgehärtet und vertrage sogar einige Opiumpfeifen ohne sonderliche Nachwehen. Nichtsdestoweniger würde ich in der bevorstehenden Saison meine Hängematte nicht gerade zwischen den Manzanillen ausspannen; denn die Sternwarten melden ein Maximum von Sonnenflecken, wie es seit vielen Jahrzehnten nicht beobachtet worden ist.

»Verzeihen Sie eine Zwischenfrage. Nach Ihren Andeutungen sind Sie in der Wahl Ihres jeweiligen Wohnorts ganz unbeschränkt, Sie schlagen Ihr Zelt auf, wo es Ihnen beliebt. Das wäre mir nicht weiter auffällig, wenn ich Sie einfach in die Klasse der nichtstuerischen Millionäre rubrizierte, der Gesellschaftsdrohnen, zu denen ich Sie doch nicht rechnen möchte. Denn so eindringlich Sie auch vom Genießen reden – Sie sehen nicht aus wie einer, der in den Tag hineinlebt. Ich gebe zu, in der Frage steckt eine gewisse Peinlichkeit, aber ich möchte sie nicht länger zurückhalten: Haben Sie denn gar keinen Beruf?«

Der andere stutzte einen Moment und biß sich auf die Lippe. Er witterte Methode in meiner Fragestellung und befand sich damit nicht auf falscher Fährte. Denn ich neige allerdings dazu, gewisse Antworten, deren Umriß ich längst erraten habe, meinem Gesprächspartner zur persönlichen Kolorierung zuzuschieben.

– Das wird also ein Examen, sagte er, und das Thema sieht so aus, als ob es mich in Verlegenheit bringen könnte. Denn ich habe entweder mehrere Berufe, oder auch gar keinen, wie man's nimmt. Auf einen Meldezettel könnte ich schreiben: Gutsherr, Landwirt, Privatier, Rennstallbesitzer – in Pharanthese: ich habe dabei keine Seide gesponnen, und wenn das heutige Rennen in Epsom keine Wendung bringt, löse ich den Stall auf und jage meine Jockeis zum Teufel – aber das sind, wie gesagt, nur Zettelvermerke, Ausweise neugierigen Behörden gegenüber. Im Grunde genommen bleibt Beruf ein Rest des Kastengeistes, der zünftigen Ordnungskette, die wir doch sprengen wollen. Wo wir uns in der Tragödie des Geistes umsehen, finden wir den Beruf, das Fach, das Schema der Fakultät als die verhängnisvollen Ur- und Quellmotive . . .

»Ich merke, worauf Sie hinaus wollen. Man könnte allerdings eine Kulturgeschichte aufstellen mit dem Leitmotiv: ›Los vom Beruf!‹ Man könnte zeigen, daß die hervorragendsten Leistungen im Trotz gegen Fach und Beruf zustande gekommen sind. Und das mag Ihnen wohl vorgeschwebt haben bei Ihrer Tendenz, sich möglichst außerhalb eines etikettierten Berufes zu stellen. Aber die Leistung selbst müßte doch vorhanden sein, und nach Ihrer Anlage zu schließen, könnten Sie wohl zu denen gehören, die für die Philosophie um so energischer leben, je weniger sie darauf angewiesen sind, von der Philosophie zu leben.«

– Ja, damit wären wir beim Hauptpunkt. Allein, wenn man mich fragt, was hast du geleistet? dann muß ich den gültigen Ausweis schuldig bleiben. Ich habe nichts, was ich auf den Tisch legen könnte, kein Buch aus meiner Feder, kein Diplom, kein Patent – nichts. Und ich befinde mich da etwa in der Lage eines Montaigne in zweiter Potenz: denn der in erster Potenz hat wenigstens noch geschrieben, ich aber habe auch das unterlassen; nach dem Vorbild von Thales, Phythagoras, Sokrates, Diogenes, Pyrrhon, Epiktet, die auch nicht eine Zeile verfaßt haben. Trotzdem berufe ich mich am liebsten auf Montaigne, der sich nur zu einem einzigen Gewerbe bekannte: zum Leben, das heißt zur Erforschung des einzigen Gegenstandes, der darum der wichtigste ist, weil er innerhalb des Universums nur in einem einzigen Exemplar existiert. »Wenn ich über mich selbst urteile, so ist es erwiesen, daß niemals ein Mensch einen Gegenstand behandelte, den er besser kannte und verstand, als ich ihn verstehe, und daß ich hierin der gelehrteste Mensch bin, der auf der Welt lebt«; und wenn ich mich selbst ans Licht bringe . . .

»Da steckt eben der Haken. Sie mögen in Ihrem Innern die wunderbarsten Geheimnisse entdecken – sobald Sie nichts veröffentlichen wie die Leute vom Beruf, bringen Sie gar nichts ans Licht, und Ihre Funde bleiben in Ihnen verschlossen als Ihr persönliches Mysterium.«

– Die Natur sorgt schon für die Veröffentlichung, auch ohne die unmittelbare Bereitschaft von Tinte, Feder und Typendruck. Ich finde in mir die absolute Gewißheit, daß jede Erkenntnis, jedes geahnte oder durchschaute Mysterium meines Selbst, durch unsichtbare Poren hinausströmt und sich früher oder später der Welt mitteilen muß. Was einmal als original empfunden, angeschaut oder durchdacht wurde, das dringt unfehlbar in die Ferne, denn die Gehirne und Herzen aller Intellektuellen sind drahtlos, telepathisch verbunden.

»Sie wären also dabei selbstlos genug, den Ruhm an etwaigen Erkenntnissen und Entdeckungen anderen zu überlassen, die Ihnen Ihre Mysterien vierdimensional abfangen werden?«

– Mir wäre der Ruhm nur ein lästiger Begleiter. Niemals verdient er den Preis, der dafür gezahlt wird, billiger als für das Opfer an Glückseligkeit ist er nicht zu haben. »Ruhm und Ruhe sind Gäste, die nicht unter einem Dache Herberge finden können,« ja oft genug ist der Ruhm der grimmigste Feind des Denkens selbst, nämlich jeder Denkarbeit, die eine innere Stille voraussetzt. Sobald der Ruhm dazwischenbrüllt, die Sorge um den Ruhm hinausstöhnt, ist es vorbei damit. Sie wissen so gut wie ich, daß bei den sogenannten Großen Männern die Höchstleistung fast durchweg in die frühen Lebensalter fiel. Weil ihr Genie in der Frühe am stärksten war? Das soll mir keiner einreden. Das Genie verbraucht sich nicht in einer Hervorbringung, ebensowenig wie die Muskelkraft in einem athletischen Akt. Aber der aufsteigende Ruhm hat die Produktion gelähmt. Man stellt sich ihn als einen Sporn vor, und er ist ein Hemmschuh. Und dabei ein höchst unsauberer Geselle, mit deutlichem Hang zu posthumer Unzucht. Der bloße Gedanke, daß er mich zwar zu Lebzeiten ungeschoren ließe, aber dereinst mit meiner Leiche nekrophile Buhlschaft treiben könnte, macht mich schaudern . . . Und dennoch – setzte Argelander mit plötzlicher Veränderung im Tonfall hinzu – und dennoch – es ist mir so, als spürte ich bereits seine Klaue. Nein, das war falsch ausgedrückt – denn sehen Sie, während ich mit Ihnen rede, verwandelt sich mir das Gespenst des Nachruhms in einen bereits erlebten Vorruhm – wahrhaftig, es ist sehr schwierig, das irgendwie auszudrücken, und ich muß damit rechnen, Ihnen recht grotesk zu erscheinen – – –

»Was haben Sie, Herr Argelander? Ist Ihnen unwohl?«

– Nein, das nicht – allein mich überkommt bisweilen so etwas wie Gedankenflucht – vielleicht besser zu sagen: Gegenwartsflucht, und soeben hatte ich die blitzartige Vorstellung, als wehrte ich mich vergebens gegen den Ruhm, da ich doch schon vor Jahrhunderten sehr berühmt gewesen bin . . .

»Ich verstehe Sie nicht.«

– Das ist auch nicht zu verstehen; höchstens dämmerhaft zu erahnen. Sagen Sie, Herr, hatten Sie noch nie die Empfindung, daß Sie schon in grauer Vorzeit über die Erde wandelten, als ein Wesensverwandter, der seitdem längst vermoderte, aber in Ihrer Gestaltung wieder auferstand?

»Nein, dazu bin ich nicht ideal genug veranlagt. Aber soviel Phantasie bringe ich schon auf, um mich in einen derartigen Wachtraum hineinzudenken. Sie unterliegen offenbar zeitweilig einem Zustand, der, um das Wort für die Tatsache zu setzen, mit der Seelenwanderung zusammenhängt. Was nicht ganz so erstaunlich auf mich wirkt, als Sie vielleicht vermuten; denn Sie waren ja eben dabei, mir einiges von Ihren persönlichen Mysterien anzuvertrauen. Also vervollständigen Sie nur Ihre Andeutung und sagen Sie mir: Welche berühmte Person schwebte Ihnen vor, mit der Sie sich im Augenblick identisch fühlten?«

– Es geschah wirklich nur einen Augenblick lang. Schon wieder vorüber. Aber ein Rest von Erinnerung ist noch vorhanden, nicht deutlich genug, um eine bestimmte Persönlichkeit zu bezeichnen. Nur griff es ganz gewiß in die heidnische Vorzeit zurück. Ja, ganz recht: griechische Blüte. Möglicherweise Epikur, oder so einer. Jedenfalls ein sehr Berühmter aus der Epikurischen Epoche, und dazu merkwürdigerweise ein sehr Glücklicher. Ja, das habe ich in dem einen Moment ganz genau gespürt: er war ich, und ich war er!

* * *

Hier saßen wir auf einem Thema, von dem wir so bald nicht loskamen: Seelenwanderung als eine Form der Unsterblichkeit! Und je skeptischer ich mich anfänglich verhielt, desto dringender verbiß sich Argelander auf die ewige Wiederkehr in verschiedenen menschlichen Gestaltungen. Das große Erlebnis, das uns später auf Zypern in seinen Bann schlagen sollte, warf seine Schatten voraus. Es ergaben sich Betrachtungen, die mir schon hier, nahe dem Gestade von Kreta, ein fernes Abenteuer hätten ankündigen können. Aber auf dieser Lustfahrt im östlichen Teil des Mittelländischen Meeres war die freundliche Gegenwart noch zu überragend; und ich spürte in mir weder das Bedürfnis noch die Möglichkeit, mich in eine Welt mit gänzlich veränderten Zeitbedingungen zu versetzen.

Heute weiß ich, daß eine solche Welt nicht nur erreichbar, sondern auch im höchsten Grade erstrebenswert ist. Wer den Weg zu ihr finden will, hat zunächst in sich den alten Glauben an die Einheit und Unteilbarkeit des Individuums auszurotten. Das Ich kann in ein Doppelt-Ich, in ein Vielfach-Ich zerfallen, und es zerfällt wirklich, wenn man sich entschließt, die Tatsachen der Naturkunde so anzusehen, wie sie, kurz gesagt, noch nie zuvor angesehen worden sind.

Da sitzt ein Biologe in seinem Untersuchungskabinett und zerschneidet ein niederes Tier, einen Wurm, einen grünlichen Polypen, um das Nachwachsen der Glieder zu beobachten. Oder er verfolgt durchs Mikroskop die unausgesetzte Teilung einer Monere bis in die dreitausendste Generation. Vielleicht befällt ihn dabei der Gedanke an eine Art von Unsterblichkeit in den Tiefen der Geschöpfe. Aber was er nicht ahnt, ist: daß er hier dicht an der Pforte eines Menschen-Mysteriums steht; daß sein Experiment imstande ist, die Wirklichkeit einer Seelenwanderung zu erweisen; ja sogar gegenständlich sichtbar zu machen.

Tatsächlich läßt sich der Faden von Bewußtsein zu Bewußtsein knüpfen, nicht bloß redensartlich, sondern, sinnfällig, ganz real, in Form eines gewöhnlichen Nähfadens. Das klingt sehr blasphemisch. Aber hier kommt die Natur der Erkenntnisschwäche zu Hilfe, sie bietet dem Verstande ein banales Hilfsmittel, um ihn am Leitseile der Substanz auf einen idealen Gedankengang zu führen.

Nämlich so: Der Forscher durchschneidet einen Regenwurm quer in zwei Stücke, deren selbständiges Fortleben ihn nicht weiter in Verwunderung setzt, denn das gehört zum alten Wissensbestande. Aber nun heftet er das Hinterende in natürlicher Lage mit einem Faden an das Vorderende, und beide Stücke, räumlich getrennt, offenbaren plötzlich Einheit des Bewußtseins: ihre Kriechbewegungen verlaufen völlig koordiniert, wie in Abhängigkeit von einem einzigen dirigierenden Impuls. Eine Erregungsleitung im Bauchmark von Segment zu Segment kann nicht stattfinden, der Beschauer hat wirklich zwei Individuen vor sich, die ihrer organischen Unabhängigkeit zum Trotz in Trieb und Handlung als Einheit auftreten; das Ich des einen ist zugleich das Ich des anderen.

Wenn nun der Forscher erklärt, diese Koordination der Bewegung ohne gemeinsame Innervation erfolge nur »durch Zug«, so dient ihm Wort und Begriff des Zuges lediglich als Wortfetisch. Mit besserem Rechte ließe sich sagen: der Faden objektiviert für unsere grobsinnliche Wahrnehmung ein Kraftfeld, das die räumlich gesonderten Wesen kausal und vital verknüpft. Und wir werden von diesem Experimentalbeispiel ausgehend auf andere Kraftfelder zu schließen haben, die über Raum und Zeit hinweg zwei getrennte Bewußtseine in eines zusammenfließen lassen. Die Nahewirkung von Punkt zu Punkt im Kraftfeld verwandelt sich zur Fernwirkung von Seele zu Seele, wie ja auch die Nahewirkung im Gravitationsfelde sich in der Fernwirkung zwischen allen Gestirnen zu erkennen gibt. Die Entfernung nach Millimetern, Meilen, Jahren oder Jahrhunderten spielt in beiden Betrachtungen keine Rolle.

Wir können nunmehr die erste Ansage dahin erweitern, daß in jeder Ich-Vorstellung, auch zeitlich genommen, eine Seelenwanderung steckt. Was beim Regenwurm das Messer des Vivisektors bewirkt, das besorgt die Natur mit ihren Prozessen in jedem Menschen weit allgemeiner, gründlicher, ohne die mindeste Pause, indem sie die Verbände der Zellen und Moleküle unausgesetzt zertrennt. Alle sieben Jahre scheidet sie vom alten Menschen einen neuen ab, der vom Komplex seines früheren Selbst kein Atom mehr enthält. Die Seele des ersten Menschen ist also in den zweiten gewandert, welcher der Nämliche zu sein behauptet kraft eines Fadens, dessen er sich bewußt wird und den er seine Erinnerung nennt. Aber dieser Erinnerungsfaden reicht in die Vergangenheit gemessen nur bis in die frühe Kindheit, höchstens bis ins zweite Lebensalter, dann verliert er sich in eine Vorzeit, die wir als persönliche nicht mehr fühlen, obschon er nach dem Gesetz der Stetigkeit zweifellos unabsehbar tief in die Vergangenheit reicht. Die Ahnentafel und der Stammbaum decken die Zusammenhänge nur genealogisch auf, sie verraten aber nichts über die Verästelungen derjenigen Fäden, die zu fein sind, als daß die Geburtsregister von ihnen Notiz nehmen könnten. Und hier öffnet sich ein Mittelreich zwischen Traum und Erkenntnis. Der große John Locke hatte eine Ahnung von solchen, jenseits der praktischen Feststellungen denkbaren Zusammenhängen, als er die Frage aufstellte, ob möglicherweise Seth, Ismael, Sokrates, Pilatus, Sankt Augustin und Cäsar Borgia ein und dieselbe Person sein könnten. In besonderen Fällen kann es sich ereignen, daß ein lebendiger Mensch in plötzlicher Durchzuckung den Zuruf eines andern Ich vernimmt, wie einen Glockenton aus der Vorzeit, der genau so schwingt wie der Klang seiner eigenen Seele. Und es wäre vermessen, diesen Zuruf bestreiten zu wollen, bloß weil er allein ihn hörte, nicht aber die Menge der Augenblicksmenschen, in deren Mitte er lebt. Die Sinne – das hat schon Lukrez gewußt – sind ewig unbeirrbar, nur unsere Deutungen unterliegen der Täuschung, und wie sollten wir es wagen, eine Wahrnehmung zu deuten, die unsere eigenen Sinne überhaupt nicht berührt?

In der nächsten Nacht hatte ich einen seltsamen Traum: Ich befand mich mit Argelander in einer mir unbekannten Gegend, und er erörterte noch immer das Problem der Seelenwanderung. Aber er verblieb nicht durchweg in unserer Umgangssprache, sondern ließ mitten in seine deutschen Ausführungen griechische Sätze einfließen, die ich nur teilweis verstand. Immerhin behielt ich einige von ihnen klanglich insoweit, daß ich sie mir in der Minute des Erwachens noch wiederholen konnte, und da ich deren Entschwinden befürchtete, notierte ich sie rasch im Kabinenbett auf meiner stets bereiten Notiztafel. Beim Kaffeefrühstück, das ich allein nahm, überlas ich die aufgeschriebenen Zeilen, deren Sinn nunmehr schon ziemlich deutlich hervortrat, wenngleich einzelne Worte und Wendungen mir noch immer etwas unklar blieben. Ich begab mich in die Koje meiner altertumskundigen Gefährten, die ich bereits in voller Arbeit antraf, und zeigte ihnen das Notizblatt. Beide erklärten übereinstimmend die Schrift für tadelloses, ja klassisches Griechisch und halfen mir bei der Enträtselung der wenigen dunklen Stellen. Aber während Professor Borretius es dabei bewenden ließ, verstieg sich Freund Xaver Gregory zu einer genaueren Feststellung. Er behauptete, daß sich die fraglichen Zeilen fast wörtlich in einer halbverschollenen Schrift des Hegesias befänden, der im dritten Jahrhundert vor Christus zu Alexandrien lebte. Wie war also diese mir gänzlich unbekannte Wortfolge in meinen Traum gekommen?? Das blieb ein Rätsel, ein umso tieferes, als auch Argelander, den ich natürlich bald auf die Fährte zu setzen versuchte, die Spur anfänglich nicht aufzunehmen vermochte. Doch halt! – ihm dämmerte etwas auf – gestern abend nämlich hatte er im Bett einige Seiten Cicero gelesen, und da sei der Name Hegesias vorgekommen. Möglich also, daß er, Argelander selbst, von ihm geträumt habe, und daß in unser beider Träumen ein okkulter Zusammenhang obwalte. Da hatten wir wenigstens den blassen Schatten eines Zusammenhangs. Eine Begriffsleiter – freilich eine äußerst gebrechliche – begann sich aufzubauen: Hegesias, ein Schüler des Aristipp; dieser der Vorläufer des Epikur – und hatte nicht Argelander gestern eine Sekunde lang seine Identität mit einem Glücksmenschen aus Epikurischer Blüte gefühlt? Vielleicht liefen hier Seelenfäden von unerkennbarer Feinheit, ätherische Fäden, mit einem Schaltwerk von Personen, durch die mich ein alter Alexandriner in seiner Sprache anrief?

Schnell genug besann ich mich auf meine immer noch recht reale Denkart, und ich verjagte die mediumistisch-seelenwanderischen Gespenster. Besser ein unaufgelöstes Rätsel als eine Erklärung über die Hintertreppen der Magie. Argelander machte übrigens an diesem Vormittag einen etwas abgespannten Eindruck und zeigte jene interessante Gesichtsblässe, welche die Frauen, nach Heine, einer unglücklichen, die Männer einer glücklichen Liebe zuschreiben. Sollte er Zeit und Gelegenheit gefunden haben, im Gehege der Schiffsgesellschaft auf Edelwild zu pirschen?

Mir war es nicht entgangen, daß mehrere der mitreisenden Damen ihm Blicke gemacht hatten, die er nur aufzufangen brauchte, wenn ihm an flüchtigen Romanen gelegen war. Ja, ich hatte zu bemerken geglaubt, daß die nämlichen Damen mich selbst unwillig beäugten, weil der schöne Herr mir allzuviel Aufmerksamkeit widmete und ihre Ermunterungen zu wenig beachtete. Immerhin, in solchen Dingen reichen die eigenen Beobachtungen niemals aus, und wenn der deutsch-baltische Adonis etwa zur Gilde der Don Juan und Casanova gehörte, was ich nicht wissen konnte, so hätte seine Lebenskünstlerschaft schon Wege gefunden, um abseits unserer Gesprächsduette zu improvisierten Erfolgen zu gelangen. Die Kabinenanlage auf dem Schiff Velox hätte sich jedenfalls solchen Stegreif-Zitaten aus der Ars amandi nicht widersetzt, sie bot vielmehr lauschige Verstecke aller Art, und die auf den Gängen beschäftigten dienenden Geister besaßen wahrscheinlich das Talent, in geeigneten Minuten blind und taub zu werden oder ganz zu verschwinden.

Ich hütete mich selbstverständlich, seine Mitteilsamkeit nach dieser Richtung irgendwie in Bewegung zu setzen, und meine Vermutungen auch nur anzudeuten. Er selbst aber lenkte die Unterhaltung auf einen benachbarten Strang, um mir zu entwickeln, daß die geschlechtliche Liebe im Leben eines echten Hedonikers durchaus nicht die überragende Rolle zu spielen brauche, die ihr die Mehrheit der genußstümpernden Menschheit zuschriebe. Es gehöre sogar zu den ersten Erfordernissen der Epikurischen Lebenskunst, über die Dämonie der Liebe Herr zu werden, nach dem antiken Rezept: »echo, ouk echomai«: »ich habe, aber ich werde nicht gehabt!«

– Die ungeheuerliche, hirnzerreißende und vernunfttötende Gewalt der Liebe ist nämlich die direkte Folge der leidigen Tatsache, daß die Überzahl der Menschen ihre Seelenfäden nur eine ganz kurze Strecke nach rückwärts zu verfolgen vermag. Sie erwartet sonach Alles von der unendlichen Verlängerung in die Zukunft, und die Sucht, sich auf dem Wege der Gattungserhaltung in ein ferneres Leben hinauszuprojizieren, nimmt so phantastische Formen an, weil jeder Ausgleich des Mitfühlens in einer selbsterlebten Vergangenheit fehlt. Die fabelhafte und verzweifelte Intensität der Liebe entspricht durchaus dieser Proportionalität, genauer gesagt diesem Mißverhältnis zwischen Früher und Später. Da das Früher nur über eine kurze Spanne reicht, soll das Später im Fortpflanzungseffekt alles nachliefern, was das Vorher dem Menschen schuldig blieb. Dieses Mißverhältnis kann nur von einem überwunden werden, der in Seelenwanderung eingesponnen sich wenigstens teilweis seiner eigenen langen Vorzeit entsinnt; der sonach sein Eigenleben schon als ein sehr ausgedehntes spürt und nicht nötig hat, in die Zukunft hineinzuhasardieren, weil er sich ohnehin im sichern Besitz eines reichen über seine Einzelexistenz hinausragenden Daseins fühlt. Dieses Gefühl ist geeignet, die Sexualleidenschaft zu einem kontrollierbaren Genuß abzutönen, und ermöglicht, in eine wundervolle Arabeske im Leben zu verwandeln, was sonst unter der Maske des Genusses nur ein gehäuftes Elend von Angst, Brunst, Kitzel, Reue, Nervennot und Versklavung darstellt.

»Sie würden mit Ihrer Theorie bei der großen Mehrheit der Menschen auf schärfsten Widerspruch stoßen, wenngleich Ihr Hauptmotiv, wie ich willig anerkenne, sehr verführerisch klingt. Sie legen es offenbar darauf an, den Brennpunkt der Leidenschaft aus dem Sexualzentrum in eine geistige Sphäre zu versetzen, indem Sie die Möglichkeit eröffnen, nicht nur in der Gegenwart, sondern zugleich in aller Vergangenheit zu leben, was ja, wenn überhaupt erzielbar, ein Genuß von höchster Dauer, Freiheit und Intensität sein müßte. Aber auch Sie können sich den Forderungen der Sekunde nicht entziehen; und wenn Sie für Ihre Person die blinde Diktatur der Venus verleugnen, so steht neben ihr ein anderer Despot, der Gott Hymen, der Ihnen eines Tages vielleicht Ihre ganze aufsummierte Freiheit in einer einzigen Zahlung abverlangt. Reden wir doch einmal bürgerlich und nüchtern: Haben Sie noch niemals ans Heiraten gedacht, oder richtiger gesagt, waren Sie noch nie in der seelischen Zwangslage, in der man ans Heiraten denken muß?«

– Sie fragen sehr diskret, da Sie offenbar absichtlich eine frühere Andeutung von meiner Seite vergessen. Also ganz ehrlich gesagt, diese seelische Zwangslage ist mir nicht fremd, und ebenso ehrlich füge ich hinzu, daß ich inkonsequent verfahre, wenn ich mich über kurz oder lang entschließe, dem Despoten mit der Brautfackel meine Freiheit zu opfern. Wenn ich auch die Diktatur der Venus ablehne, kann ich mir doch eine Existenz ohne die gefälligen und beständigen Dienste der Aphrodite nicht gut vorstellen. Und mit dieser Auffassung, sobald sie aus dem Duett des ehelichen Schlafgemachs in den Plural der Weiblichkeiten übergreift, pflegen Gattinnen nicht einverstanden zu sein. Ich befinde mich somit in einer schwierigen Lage, denn an sich betrachtet ist das Heiraten Talentsache, und von diesem Talent traue ich mir nicht viel zu. Ja, offen gesagt, ist mir diese Begabung überhaupt, so millionenfach sie schon betätigt war, ein Rätsel, denn im Prinzip ist die Ehe ein ästhetischer Unsinn, und man muß ein besonderes Talent zur Unästhetik als Grundbedingung der Ehe voraussetzen. Das Ewig-Weibliche, das uns hinanzieht, kann unmöglich das Einzelfemininum sein, das lokalisierte Femininum, das neben mir vor einem kuppelnden Beamten steht, vor dem Vollzieher eines von Zwang und Strafandrohung starrenden Gesetzes. Ewig ist es nur dann, wenn es aufgefaßt wird als der kosmische Inbegriff der Weiblichkeit, als die große Symphonie des Weibes, die von Anbeginn geklungen hat. Diese zieht hinan und begeistert uns. Aber nun ergeht an mich die Forderung: Entscheide dich für einen einzelnen Takt dieses Kunstwerks, für eine einzelne Note, für eine einzige Klangschwingung. Diese wird deine Frau, und die übrigen Schwingungen und Takte kommen für dich nicht mehr in Betracht. Damit wird die gesamte Ästhetik auf den Kopf gestellt, zugunsten eines vandalischen Aktes; denn der herausgebrochene Takt hat ja mit dem Wert des Ewig-Weiblichen Kunstwerks nicht mehr das Geringste zu schaffen, es verbleibt eine armselige Zufälligkeit, die gerade durch ihre Vereinzelung alle Genialität verloren hat.

»Herr Argelander, wie sollte das Genie anders auftreten als vereinzelt!«

– Auf diesen Einwand war ich gefaßt, und die tägliche Praxis verfährt ja auch so, als ob er allein Geltung hätte. Denn ob man hier Genie sagt, oder Ideal, das ist gleichbedeutend, wo es sich um Auslese der einen, der Begehrenswerten handelt. Welch ein Trick der Natur! Sie bekommt es in der Tat fertig, den Mann radikal zu täuschen und ihm vorzuschwindeln, sie hätte alle Genialität aufgewendet, um dies eine Ideal für ihn zu erschaffen. Und der Mann läßt sich wirklich betölpeln, er nimmt das Produkt seiner eigenen kärglichen Erfindung für das Meisterwerk der Natur, das als solches im Singular ebensowenig vorhanden ist, wie eine bevorzugte Rose in dem Millionenchor der Rosen. Das ist die alte Legende, die allen Liebes- und Hochzeitsdramen zugrunde liegt: Der Mann arbeitet ein Ideal aus, in Hirn oder Herz, die Idealfigur eines Wesens vom anderen Geschlecht, das dereinst mit ihm vereinigt, seine besten Eigenschaften in wunderbarer Potenzierung der Nachkommenschaft überliefern soll. Findet er dann im Gewimmel der Weiber ein Individuum, das diesem Ideal leidlich entspricht, dann stürzt er sich darauf mit dem verliebten Feldgeschrei: Die oder keine! Er übersieht hierbei vollkommen, erstlich, daß er ein Hasardspiel gegen alle Regeln der Wahrscheinlichkeit betreibt, da zahllose von ihm nie gesehener Weiber sein Ideal weit genauer verwirklicht hätten, zweitens, daß sein Ideal nur eine Ausgeburt seiner von tausend Zufällen gelenkten Einbildung ist, und hauptsächlich, daß Geschlechtstrieb und Verstand polare Gegensätze sind, so daß er im kritischen Augenblick die Niete vom Gewinnst gar nicht zu unterscheiden vermag. Was mich betrifft, so ist es mir in dieser Hinsicht nicht ganz nach dem üblichen Schema ergangen. Meine Männlichkeit war und ist natürlich der allgemeinen Regel unterworfen, das heißt, ich habe mir durch Jahre in meinem Innern so ein Ideal instinktiv hergestellt, entworfen, modelliert, verfeinert, veredelt, so daß ich bisweilen selbst an die Vollendung glaubte und in mein Ideal verliebt war. Aber seltsam: so wunderschön meine idealen Ausarbeitungen auch gediehen, – eine Ehefrau ist dabei niemals herausgekommen; niemals eine Figur mit dem Anspruch oder mit der bloßen Vorstellbarkeit »auf lebenslänglich«. Wissen Sie, was mir immer vorschwebte?

»Eine Kokotte, vermute ich.«

– Mildern wir den Ausdruck sprachlich, und wir sind ziemlich nahe dabei: Sagen wir »Hetäre« im altgriechischen Sinne. Die Kategorie ist nahezu ausgestorben, und man muß schon viel Zusammenhänge mit der sublimen Vergangenheit haben, um sie sich noch als möglich vorzustellen. Ninon de l'Enclos war vielleicht die letzte, in großem Stil genommen, während alles, was seitdem in diesem Fach hervortrat, meinetwegen in die große Rubrik der Bohème und der Kokotterie geworfen werden mag . . . bis auf eine!

»Diese Klausel ist ein Signal. Sie werden nicht umhin können, von dieser einen zu reden, die Sie in so romantischen Zusammenhang mit Ihrem Ideal bringen.«

– Sie gehört seit zwei Jahren als vielbewunderte Erscheinung zur Kolonie auf Zypern, und Sie selbst werden ja bald beurteilen können, ob sie Bewunderung verdient. Als ich sie in Neu-Amathus zuerst erblickte, hatte ich jedenfalls den Eindruck eines lebendigen Abbildes meiner Phantasien, mit dem Einschlag der Empfindung: diese Person fällt aus der Zeit heraus, durch ihre moderne Eleganz schimmert altklassischer Zauber. So ungefähr, schien mir, müßte die junge Aspasia ausgesehen und gewirkt haben, als sie in Athen Hof hielt und die auserlesensten Geister des Perikleischen Kreises in ihren Bann schlug . . .

»Worauf Sie natürlich sofort zur Rolle des Perikles übergingen?«

– Nein, hier versagt der Vergleich. Ich geriet nämlich an eine psychologische Hemmung von schwer erklärbarer Beschaffenheit. Gewiß, diese Dame Liane y Valla trug mir von Anbeginn ihre Freundschaft entgegen, allein mit so eigentümlicher seelischer und intellektueller Betonung, daß ich von meinem, sonst so erprobtem Konzept gänzlich im Stich gelassen wurde. Grade weil es mir unzweifelhaft war, daß ich sie wann ich wollte haben konnte, wollte ich nicht. Ich wurde gänzlich von dem raffinierten Gefühl beherrscht, bei Liane eine Ausnahmsstellung einzunehmen, von ihr bevorzugt zu werden, durch das Geschenk ihrer Seele, die mir allein gehörte, unabhängig von ihrer Körperlichkeit, über die sie frei verfügen mochte. Ich wollte nicht einer unter mehreren sein, sondern der einzige, dem sie ihr Köstlichstes anvertraute.

»Und der Gedanke an Freudennächte, die sie in den Armen anderer verlebte, dieser fatale Gedanke störte Sie nicht?«

– Ich kam darüber hinweg, sozusagen in einem Training des Bewußtseins, mit dem Lustgefühl der überwundenen Schwierigkeit. Wer sich noch von der Eifersucht in Wut und Kummer treiben läßt, der taugt nicht zum Hedoniker, ja überhaupt nicht zum Philosophen. Denn sie setzt uns auf die Stufe der Brunfthirsche, der Paviane und der balzenden Auerhähne, die den letzten Rest ihres bißchen Viechverstandes in der geschlechtlichen Blindwütigkeit verlieren. Eifersüchtig sein, das heißt: die Grenzen seiner Macht abschreiten und sie zu klein finden. Aber das führt immer zur Enttäuschung, denn man findet sie stets viel kleiner, als man im Wahne der Omnipotenz begehrte. Auch hier operiert die Natur, wie so oft, mit einem grausamen Mißverhältnis. Sie pflanzt uns den unermeßlichen Wissenstrieb ein und legt ein höchst bescheidenes Erkenntnisvermögen in die andere Wagschale, sie belastet uns dem Weibe gegenüber mit unersättlichem Machthunger und zeigt uns ohne Pause den dürftigen Umfang dieser Macht, sie mißt die Höhepunkte der Liebeslust nach Sekunden und vergällt sie durch Begleitgefühle der tötlichen Beklemmung, die kein Ende nehmen. Als Schopenhauer die Gifte der modernen Zivilisation aufzählte, den Point d'honneur und die Syphilis, vergaß er das Hauptgift: die Eifersucht; denn die Alten hatten wenigstens im Bereich ihres Hetärenwesens einen Venuspark ohne Eifersucht, während der moderne Kulturmensch fast durchweg nur die Wahl hat, sich auf dem Mistbeet des Dirnentums zu degoutieren, oder im Liebesgarten der Frau sich den Skorpionsstichen der Eifersucht auszusetzen. Was er törichterweise verlangt ist folgendes: er drückt das Petschaft seiner Persönlichkeit in fließendes Wasser und erwartet einen unvergänglichen Abdruck; bleibt dieser aus, so fühlt er sich als Machterprober enttäuscht, und mit Ingrimm würgt er an einer Tatsache, die seiner Eitelkeit höchst rätselhaft vorkommt, obschon sie nichts anderes ist als selbstverständlich. Über diese Verdunkelungen des Verstandes muß man hinaus, und wer sich darauf einübt, die Eifersuchtsanwandlungen zu unterdrücken, der wird erst reif für das Glück und für die glückliche Gemeinschaft mit den entschwundenen Großmeistern der Lebenskunst.

»Das sind Sentenzen, zu denen Sie selbst die Gegenprobe liefern. Sie legen doch Wert auf den Alleinbesitz und Sie selbst freuen sich, daß Sie ihr das Siegel Ihrer Persönlichkeit aufgeprägt haben. Wo bleibt da das Gleichnis mit dem Petschaft und dem fließenden Wasser?«

– Es bleibt bestehen. Denn ich erwarte gar keinen unverlöschlichen Abdruck, sondern nur einen Reflex. Und ich darf sagen, daß ich bis heut die deutliche Wiederspiegelung meines Selbst in Lianens Charakter gefunden habe. Weil kein anderer außer mir optisch richtig zu ihr steht. Für die anderen ist sie eine glänzende Dame, deren fließende Gunst wie ein Treffer der Lebenslotterie erreichbar erscheint, – einmal und nie wieder. Denn es gibt bei ihr keine Wiederholung, und über den Tag der Eroberung hinaus keinen Besitz. Für mich dagegen ist sie eine zeitlose Kreatur, deren Unterbewußtsein in die nämliche Tiefe hinabtaucht wie das meinige, gleichsam als wenn wir nur fortsetzten und wiederholten, was uns von jeher verband.

»Und diesen transzendenten Roman gedenken Sie so ohne bestimmtes Richtungsziel weiterzuspinnen? Oder sollten Sie am Ende gar die waghalsige Idee verfolgen, diese Dame Liane y Valla – – Verzeihung, das fuhr mir nur eben so heraus – –«

– Genieren wir uns nicht vor dem Wort. Also: zu heiraten, wollten Sie sagen. Nein, das wäre an meinen Grundsätzen gemessen eine fade Pointe. Nicht als ob ich die hämisch grinsenden Gesichter fürchtete, die in diesem Falle bei den meisten nichts anderes wären, als die ironische Maskerade des Neides. Aber die Floskel der Verehelichung widerstrebt mir wie ihr, und so kommt für uns lediglich die Vereinigung unter einem Dache in Frage, die Kameradschaft in meiner hübschen Villa auf Zypern, ohne amtlichen Segen und Stempel.

Wir wurden durch einen Schiffsboy unterbrochen, der meinem Gefährten eine kuvertierte Botschaft aus der Funkspruch-Kabine überreichte. Er entfaltete das Blatt, blickte hinein, und ein Zug des Unmutes huschte auffallend über sein Gesicht.

»Eine schlimme Botschaft?«

– Keine sonderlich angenehme – entgegnete er mit der Technik des erkünstelten Lächelns, das einem Weltmann in den Zufällen des inneren Gleichgewichts als rasche Hilfe dient; – es betrifft das soeben erörterte Thema – –

»Ist Ihrer Freundin etwas zugestoßen?«

– Nicht das Geringste. Aber das Projekt unserer freien Toleranz-Ehe ist soeben etwas in Unordnung gekommen. Liane ist an großen Stil des Lebens gewöhnt, und selbst wenn sie sich auf bescheideneren Fuß einrichten wollte, so würde ich mich dem widersetzen.

»Darüber brauchen Sie sich doch keine Sorgen zu machen, denn Sie selbst existieren doch offenbar im Überfluß.«

– Wenn ich die Bilanz von heute ziehe, müßte ich aus der Luxusklasse ausscheiden und damit meinen Plan fallen lassen. Denn es kann mir nicht in den Sinn kommen, eine Dame von Fürstinnenformat in eine Kleinbürgerin zu verwandeln. Sie entsinnen sich, daß ich Ihnen von meinem Rennstall erzählte. Ich hatte darin mehr investiert als ich bei genauer Berechnung der Zukunft hätte anlegen sollen, und ich war auch schon vor Monaten nahe daran, den Stall zu liquidieren, als mich eine ganz besondere Aussicht veranlaßte, auf den heutigen Tag ein neues Risiko zu häufen. Ich war nämlich felsenfest überzeugt, daß mein in Turfkreisen sehr berühmter Hengst Mithridates das heutige Rennen machen müßte. Ich hatte ihn als Sieger im Grand Prix für eine unsinnige Summe gekauft, und nun sollte er mir im Derby nicht nur den Einstandspreis holen, sondern noch zwei Millionen darüber, die als mein Wettobjekt über dem Ereignis schwebten.

»Der Rest ist zu erraten. Das Radiogramm da in Ihrer Hand ist aus Epsom gefunkt worden. Also verloren.«

– Ja, der Sieg ist futsch, und die Wette und der Gaul obendrein. Er hat Malheur gehabt und mußte auf der Bahn erschossen werden. Das wirft mich nicht etwa um, nur fürchte ich dabei, ich werde für's erste nicht in der Lage sein, meiner Freundin das bewußte immerhin recht kostspielige Idyll vorzuschlagen. Denn das eine dürfen Sie mir nicht zutrauen: Ich werde mich niemals dazu verstehen, der Nutznießer eines Goldregens zu werden, der sich über eine Danaë ergießt.

* * *

Er zeigte mir das Medaillonbild der Dame, eine Miniatur, bei deren Anblick mir bald die Erinnerung an ein bedeutendes Vorbild auftauchte. Es war mir, als müßte ich es vor kurzem in Rom an geweihter Stelle gesehen haben. Eine Madonna? Nein, zu so feierlichem Vergleich lag kein Anlaß vor, aber der Frauenkopf, an den ich dachte, hob sich doch aus der Ebene des Profanen in die Sphäre der Erhabenheit. Zweimal hat ihn Raffael gemalt, als Sappho im Parnaß und als Figur der »Transfiguration«, und auf beiden Bildern des Vatikans tritt er als Typus hervor, der lebendiger zu uns spricht, als die große Menge der Kirchen- und Museumsschönheiten mit dem traditionellen Ebenmaß ihrer Züge. Da mir nun die Ähnlichkeit nicht einen Augenblick zweifelhaft war, so lag es nahe, die Urbilder in Beziehung zu setzen, und da ergab sich eine seltsame Übereinstimmung; denn in beiden Fällen hat Raffael aus der Realität geschöpft, und sein Modell war, wie Liane, eine Priesterin der Venus: Imperia, die Geliebte des fürstlichen Mäzens Agostino Chigi. Eine Transfiguration in anderem Sinne, mit dem Begriffspaar Imperia-Liane, aus der sich nicht nur für unsere Erzählung, sondern weit darüber hinaus folgenschwere Betrachtungen ableiten lassen.

Ich behaupte kurzweg, daß die ethisch gestimmte Kulturgeschichte von diesen Betrachtungen nichts weiß. Der Gedanke, daß die Kurtisane einen Kulturfaktor darstellt von der Stärke einer Weltanschauung, einer Religion, ist ihr fremd. Daß einzelne Kurtisanen im hellenischen Altertum, in der Spätrenaissance, im Barock, spätestens im Rokoko eine Rolle gespielt haben, gilt ihr als Anekdote, als Kuriosum, und wird anekdotisch dargestellt wie interessante grelle Farbentupfen im Gewebe der Ereignisse; und eigentlich immer mit dem Bewußtsein: wie schön, daß wir uns darüber hinausgeschwungen haben, wir sittlich Geläuterten, die wir zwischen Laster und Tugend so korrekte Trennungsstriche zu ziehen verstehen. Wir rubrizieren nach Ehre und Schande als nach klar definierten Einteilungen, und das Schlagwort Prostitution reicht aus, alles mit endgültigem Makel zuzudecken, was uns aus jenen Zeiten hetärisch entgegentritt.

Wie aber, wenn eine Folgezeit jene Begriffe abermals revidierte? Wenn sie untersuchte, ohne sich an die heut gültigen Maßstäbe zu binden? Ebenso wie wir heute das Weltall untersuchen nach den von Punkt und Sekunde wechselnden Maßstäben der Relativität?

Um dies für möglich zu halten, muß man zuerst versuchen, sich in den Geist der Zeiten zu versetzen, unbekümmert darum, ob dabei ein »groß Ergötzen« herausspringt, und ob wir auch wirklich zu der brustschwellenden Freude Anlaß haben, zu schauen, »wie wir's dann zuletzt so herrlich weit gebracht«. Die Tatsachen sollen reden und sie sollen so angeordnet werden, daß sie mit ihrer eigenen Eloquenz wirken.

Jene Imperia, die Transfigurierte, die Raffael auf den Gipfel des Parnaß erhob, war nur eine unter vielen Kurtisanen, denen ihr Zeitalter eine an Vergottung grenzende Verehrung darbrachte. Zahlreiche Zeugnisse fließen zusammen, um dies zu bekräftigen. Es war in jedem Betracht ein Kult der Schönheit, der sich um so ungestümer auf die Hetäre entlud, als die Verfeinerung des Lebens in der Renaissance zur Wiedererweckung der alten Idealfiguren, einer Thais, Aspasia, Thargelia, selbst einer Phryne drängte. Den äußeren Ausdruck fand diese Verehrung in einem Glanz der Lebenshaltung, für den die Hetäre befähigter erschien als die ehrbare Frau, und den ihr zu verschaffen den höchsten Ehrgeiz der Reichen bis hinauf zu den Fürsten und Kardinälen bildete. Nach der Schilderung des Bandello galt die Behausung der Imperia als ein Salon, zu dem sich die einflußreichsten, geistreichsten, künstlerisch hervorragendsten Männer drängten. Kostbare Teppiche, Gemälde, Vasen und Nippsachen, auserlesene Bücher, wundervolle Renaissancemöbel, Brokate, von berühmten Künstlern geschnitzte Truhen, verbreiteten in ihren Gemächern einen Glanz, der selbst die luxusgewöhnten Augen auswärtiger Botschafter blendete. Diese betrachteten solche Besuche als Amtspflicht, nicht nur bei der Imperia, sondern allgemein bei ihren Kolleginnen derselben Rangstufe. Die Gesandten gaben Bulletins aus, berichteten über Einzelzüge aus der Haushaltung der Kurtisanen an ihre Souveräne mit einer Ausführlichkeit, als hätten sie Haupt- und Staatsaktionen zu melden. Die diplomatischen Briefe und Aktenstücke der Zeit strotzten von Alkoven-Notizen, von Boudoirneuigkeiten aus den hetärischen Palästen und bewahrten dabei eine gewisse Sachlichkeit, da die Fäden der politischen Intrigen wirklich oft genug durch die Schlafzimmer dieser Damen liefen.

Der Zutritt zu den orgiastisch hergerichteten Hofhaltungen der Buhlerinnen galt als eine Bevorzugung, die man sich durch Rang, Bedeutung, unter Umständen sogar durch knechtselige Unterwerfung verdienen mußte; bis zu dem Grade, daß die ursprüngliche Bedeutung des Ausdrucks erlosch, denn in Wahrheit war die Buhlerin die Umbuhlte. Aus den vortrefflichen Gesamtbildern, die uns nach Quellen von Bembo, Sadoleto, Infessura, Grossino, Blosius, Roscoe usw. von den berühmten Forschern Gregorovius, Burckhardt und Chledowsky übermittelt werden, treten nur wenige Züge hervor, die uns die Freudendame als gefällige Werberin zeigen; sehr frappante dagegen, die den bis zu despotischem Übergewicht gesteigerten Stolz verkünden. Man mußte um Protektion buhlen, um überhaupt nur die blumengeschmückte Schwelle überschreiten zu dürfen. Der Zutritt in den Palast der Lucrezia Romana war so schwierig, daß mancher Kavalier erst ein Fegefeuer monatelanger Wartezeit zu überstehen hatte, bevor er in das Paradies einer kurzen Unterhaltung einging; und eine ihrer Freudenschwestern gestattete den Verehrern die Annäherung nur unter einer verschärfenden Zeremonie: auf dem Boden ausgebreitet lagen seidene Kissen, auf denen der zu einer Audienz Begnadete knieend und rutschend wie auf der Skala santa heranglitt.

Dutzende von Dichtern überschlugen sich in versifizierten Huldigungen, in hyperbolischen Hymnen; viele mit lateinpoetischem Schwunge, andere mit einer Atemlosigkeit des Tonfalls, der zu erkennen gibt, daß der Versmeister niemals imstande ist, die Höhe der Angebeteten zu erreichen. In allen Variationen kehrt »Imperia« wieder, deren Name für jene Literatur ein Signal, ein Exponent geworden ist. Den leitmotivischen Grundton schlug der Dichter Blosius an, mit dem Epigramm:

»Di duo magna duo tribuerunt munera Romae,
Imperium Mavors, et Venus Imperiam
. . .«

Zwei Götter haben Rom mit zwei großen Geschenken bedacht,
Mars verlieh ihr das Imperium, Venus die Imperia . . .

Und dieser Wirbel veitstänzerischer Verzückung war nur ein Takt in der Jubelode, deren Rhythmus durch den Taumel heidnischer Lust bestimmt wird. Glorios, wie die Imperia gelebt hatte, schritt sie zu den Schatten ihrer heidnischen Vorgängerinnen. Sie starb im Zenith ihrer Reize, erst sechsundzwanzig Jahre alt und wurde mit Gepränge in der Kapelle der heiligen Gregoria beigesetzt. Als oberste Bekrönung des Grabmals erblickte man die Mutter Gottes mit dem Kinde; an den Seiten zwei in Anbetung versunkene Engel; stilisierte Pflanzen ranken sich an die Säulen, die eine Tafel mit der Inschrift einfassen:

»Imperia, Cortisana Romana, quae digna tanto
nomine, rarae inter homines formae specimen dedit.
«

Man gab ihr an geweihter Stelle den vollen Berufstitel einer Cortisana und ließ auch hier einen mystischen Doppelsinn einfließen: denn die letzte heilige Römerin, Francesca, zur Zeit Eugen's IV. trug den Ehrennamen »Romana«, und so war es ein Symptom des Nationalstolzes, daß der Anklang hier attributiv wiederkehrte, zur Bekräftigung der Heiligkeit, mit der das antike Gefühl die Schönheit als etwas Überirdisches verklärte; denn der Text jener Inschrift preist als Titel ihres Ruhmes den hohen Namen einer Römischen Hetäre, dessen sie vermöge einer unter Menschen seltenen Schönheit würdig gewesen sei.


Aber Rom bedurfte nicht einmal so feierlichen Anlasses, um in Elegien auszubrechen; schon der irdische Fortgang einer gepriesenen Cortisana genügte zur Auslösung von Klagetönen und dementsprechend zum Aufwallen der Freude in der begünstigten Stadt, die sie zur Residenz erwählte. Vor uns steht eine andere Figur dieser Klasse, die Poetessa Tullia d' Aragona, an Effekt der Imperia vergleichbar, Geist an Geist gemessen ihr überlegen. Als Tullia ihr Königszelt von Rom nach Ferrara verlegte, schrieb Ercole Bentivoglio ein Sonett des Inhalts: »In dem Augenblick, wo die Zauberin den Tiber und die sieben Hügel in Trauer stürzte und den Po durch ihre Gegenwart beglückte, sei in Ferrara jede gemeine Leidenschaft erloschen, und nur noch die göttliche Liebe beherrsche die Herzen.« Unbegreiflich ist den Nachfahren diese Tonart, die zwischen einer Halbweltlerin und einer messianischen Erscheinung kaum noch einen Unterschied macht. Die Welthauptstadt in Trauer wegen des Domizilwechsels einer Nymphe, die fortan den Segen der Liebe über eine andere Stadt ergießt.

Es genügte nicht mehr, sie mit Sinnenkult zu umschmeicheln. Man erfand ein neues Wertmaß der Weiblichkeit, welches an die Liebespriesterin angelegt, deren Überschuß an Tugend und Sittlichkeit ergab. Venus vulgivaga verschwand, und aus altklassigen Reminiszenzen stieg ein rektifiziertes Bild der Venus Urania, deren geläuterte Vertreterin mit jungfräulichem Anspruch auftreten durfte. Eine Rittergarde blitzte hervor mit einem »Cartello di sfida« zu Trutz und Wehr gewaffnet gegen jeden, der es wagen würde, die »Ehre« der Tullia d' Aragona zu bezweifeln. Ihre Herausforderung setzt den Grundsatz an die Spitze: edle Menschen müßten sich für eine von der Natur besonders reich begabte Frau zur Partei zusammenschließen. Sechs Jünglinge, Emilio Orsini voran, erklären ihren Vorsatz, Tullias Ehre nach militärischem Gesetz zu verteidigen und zu beweisen, daß die Illustrissima Signora Tullia d' Aragona mit ihren ungewöhnlichen Tugenden und Talenten größere Vorzüge besitze als irgend eine Frau der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Garde verpflichtete sich auf die Eidformel, für jedes Wort der Herausforderung mit blanker Waffe einzutreten. Und in einer Hinsicht übertrafen diese Hidalgos den Don Quixote, denn Tullia war keine in den Wolken schwebende Dulcinea, ihr Lebenswandel lag unverhüllt vor aller Augen, und mit vollem Wissen baute sich aus der Kenntnis der Tatsachen das Dogma: die Fülle hetärischer Vorzüglichkeiten bedeutet eine Tugend für sich, die Anbetung fordert.

Es bleibe unerörtert, ob Tullia ihren Ruf als Dichterin rechtfertigte, ob nicht vielmehr der Zauber ihrer Persönlichkeit auch die Kritik in Banden hielt. Als Trägerin hoher Bildung, als exzellente Lateinerin, als geniale Tanzsängerin verfügte sie schon über so große Mittel der Magie, daß ihr auch, wenn sie wollte, der literarische Preis sicher war. Man nannte sie die »Alma Sirena«, griff bis auf Kleopatra zurück, um überhaupt einen Vergleich aufzufinden, und feierte sie in einem berauschten Sonett als Königin des Parnaß; neben einer Sappho würde die Zukunft eine Tullia nennen, behauptete der berühmte Paduaner Literat und Universitätsprofessor Speroni in einem verzückten Dialog, worin Tullia und Bernardo Tasso die Stimmen führten. Hier regte sich allerdings vereinzelter Widerspruch, so bei Aretino, dem diese einer Kurtisane zugedachten Verhimmelungen zu weit gingen. Aber der Nachwelt wird sie als Poetessa überliefert, auf dem schönen Gemälde des Bonvicino zu Brescia, das sie als ernste Künstlerfürstin zeigt mit dem Dichterzepter in der Linken. Keine Ähnlichkeit besteht zwischen dem ruhigen Oval ihres Kopfes und den Imperia-Profilen; nichtsdestoweniger gehört auch Tullia zu den Vorläuferinnen der Liane, deren Medaillonbild so auffällig die Raffaelischen Züge wiederholte.

Der Ruhm ihrer Geistigkeit wuchs mit den Jahren, und nachdem die fechtende Garde längst abgerüstet hatte, versammelte sich eine Legion von Gelehrten und Akademikern, die nicht müde wurden, mit dithyrambischer Beredsamkeit die alternde Tullia zu verherrlichen. Ein neuer Titel wurde für sie geprägt »Cortegiana degli academici«. Fast wäre man versucht, ein Sprichwort auf sie anzuwenden, dessen zweiter Takt »alte Betschwester« lautet. So kurios es klingt, sie bog als Autorin in die puritanische Linie, mit einem größeren poetischen Werk, in dessen Vorrede sie gegen die »Schmutzliteratur« eifert wie nur ein Staatsanwalt des zwanzigsten Jahrhunderts. Scharf polemisiert sie gegen Boccaccios Dekamerone, indem sie zugleich ihre eigene Dichtung als Probe reiner christlicher Literatur empfiehlt. Allein man darf wohl annehmen, daß sie auch jenseits der vierzig niemals aufgehört hat, zwischen Theorie und Praxis zu unterscheiden und ihrer holden Leiblichkeit die Reservate zu bewahren, denen sie ursprünglich ihre Triumphe verdankte.

Rom ist der Pfeiler des Heils, ertränkt in einem Meer von Pestilenz, – so läßt Gobineau den Savonarola rufen, der die Waffen der Zukunft schmiedet. Und das mönchische Rüstzeug hat sich für uns in hundert Paragraphen der Wohlanständigkeit verwandelt, die uns davor behüten, in jene Perversionen zurückzufallen. Aus aller Sittenanschauung der Neuzeit spricht und droht Savonarola. Selbst der Historiker erwähnt den Hetärenkult nur mit schämiger Verlegenheit, er deutet auf ihn wie auf stilwidrige Flitter, die das Kostüm der Renaissance schänden. Und er hält sich weit entfernt von der Frage, ob denn die siebzig Unsterblichen jener Zeit möglich gewesen wären, ohne den Kult mit all seinen Perversionen; was etwa der Frage gleichzusetzen, ob denn Praxiteles auch wirklich Praxiteles geworden wäre, ohne die Phryne, die er liebte und meißelte. Die Intimität der Zusammenhänge wird nicht geprüft, es bleibt beim Einerseits-Anderseits, beim Bewundern und Verfluchen. Die Renaissance hat das Altertum aufgedeckt, aber die Renaissance ist noch nicht aufgegraben. Eine dicke Schicht liegt noch darüber, die uns verhindert, die Dinge als einheitlich zu erkennen und auf ein und dieselbe Mentalität zurückzuführen. Wie schön wäre die Renaissance gewesen ohne ihre moralische Verkommenheit, – das ist genau so viel wert wie die Betrachtung: wie schön wäre die Natur ohne die Bestialität ihrer Kreaturen! Und wie verhält sich die moderne Frau zu der Angelegenheit? Sie drapiert sich mit dem Bewußtsein der Freiheit, fest überzeugt, daß damals Hörigkeit geherrscht hat, mittelalterlicher Zuschnitt, ohne Ansätze sozialer und politischer Gleichberechtigung. Ihr schwebt noch immer das alte Gynaeceum vor, die Frauenwohnung, deren Bewohnerin unter dem Anschein des Komforts versklavt wurde, und selbst der Kurtisanenpalast des sechzehnten Jahrhunderts erscheint ihr als goldener Käfig; bestand doch kein Ausgang zu den Würden der Hierarchie und des Staatsbetriebes. Wie sind seitdem die Barrikaden gesprengt worden! Die Moderne braucht nur zu wollen und sie wird Schöffin, Geschworene, Richterin, Abgeordnete, Gesetzgeberin, Staatssekretärin. Nur eins kann sie nicht werden, was damals der Schönheit von Volkes wegen zugesprochen wurde: Göttin!

* * *

Von diesen Betrachtungen, die sich aus profanen Anfängen fast bis ins Priesterliche verloren, wurden wir durch eine Fahrt-Episode von ganz weltlicher Anlage abberufen. Für den letzten Abend auf dem Schiff war eine Tanzfestlichkeit geplant, unter Leitung eines Damenkomitees, das vom Oberpersonal der »Velox« zweckentsprechend unterstützt wurde. Ein rasch arbeitender Mechanismus hatte im Speisesaal den erforderlichen Bewegungsraum geschaffen, mit dekorativem Beisatz, der einen ganz neuen, eben erst in das Fahrzeug hingezauberten Salon vortäuschte. Und während draußen das Meer seine Spiegelglätte furchen ließ, entfalteten sich hier die Erscheinungen der Wellenbewegung in wogender Gesellschaft. Ein Höhepunkt der Kultur, auf den wir stolz sein durften; – denn weder auf den Schiffen des Themistokles, noch auf dem prunkenden Bucentaur der Dogen von Venedig hätte man einen solchen Ball veranstalten können.

Ich selbst kam natürlich nur als Zuschauer in Betracht, und ich wäre dabei reichlich auf die Kosten gekommen, wenn sich in meinem Beobachtungsfelde nicht eine bedauerliche Lücke gezeigt hätte. Argelander hielt sich nämlich gleichfalls außer Aktivität, obschon er durch Erscheinung wie durch Elastizität des Schrittes durchaus befähigt gewesen wäre, hier als primus omnium in Szene zu treten. Und nicht nur in meiner Taxe, sondern in der allgemeinen, denn man wußte oder glaubte zu wissen, daß er über eine Technik verfügte, wie nur ein legendärer Meister aus der Schule des Duprez und Vestris. Und da in zwölfter Stunde eine Tour als »Damenwahl« einsetzte, so wurde er Mittelpunkt einer Gruppe, die ihn mit allen weiblichen Unwiderstehlichkeiten bestürmte. Es war wie eine förmliche Bitt-Deputation, und während rings der Betrieb stockte, gab es hier in Blick und Tonfall soviel Ermunterndes, daß ein Felsenherz dazu gehörte, um bei der Weigerung zu verharren. Ein Vergleich mit Odysseus und den Sirenen müßte sich bildlich ganz hübsch ausnehmen, würde aber doch zu Unstimmigkeiten führen, denn diese Sirenen teilten mit ihren Homerischen Schwestern nur die Lieblichkeit und den Verführungstrieb, nicht aber die Arglist.

Eine reizende Schwedin trat als Chorführerin auf und verlangte Gründe zu hören. Wann hätte jemals ein Kavalier an eine solche Korona Körbe ausgeteilt? Herr Argelander verwahrte sich mit scherzhaften Beteuerungen gegen jeden Verdacht der Ungalanterie. Aber man dürfte nichts Unmögliches von ihm verlangen. Ihm sei zumute wie einem Geigenvirtuosen, der plötzlich Fagott blasen sollte. »Alle diese Tänze, die Sie heute bevorzugen, sind für mich Formen der Leichtathletik, denen ich ganz ratlos gegenüber stehe. Und wie die Musik in ihnen erstarrt ist, bevor sie noch Bewegung wurde, so erstarre ich selbst beim bloßen Versuch, mich diesen toten Musiken anzupassen. Offen gesagt, meine Damen, ich tanze sehr gern und ich wäre glücklich, wenn ich Sie der Reihe nach engagieren könnte, aber – ich blamiere mich nicht gern.«

»Also dann soll die Kapelle etwas anderes spielen, irgend einen Tanz, den Sie lieben!«

– Sie beschämen mich durch Ihre Güte. Ich fürchte nur eine neue Schwierigkeit. Immerhin, probieren wir den Ausweg – und zu dem kleinen Orchester gewendet, fragte er: Haben Sie vielleicht eine Gavotte auf der Walze, oder eine Courante? oder eine Sarabande?

Nichts dergleichen war vorhanden. Und den Damen leuchtete es auch ein, daß die Spieltruppe sich nicht mit solchem vermoderten Tongerümpel herumschleppte. Selbst wenn es vorhanden wäre, was sollte man denn mit den urgroßväterlichen Langweiligkeiten in einem modernen Ballsaal anfangen?

– Zuerst sollte man sich entsinnen, daß sie die unvergänglichen Wurzeln sind, aus denen die wahre Kunstmusik bis zur Suite und Symphonie ihre schönsten Blüten getrieben hat. Ferner sollte man sich vorhalten, daß das Wesen des Tanzes wie der Musik nur aus der Liebe begriffen werden kann, aus den Tiefgründen der Liebe, in denen die Impulse zu jeder rhythmischen Bewegung schlummern. Woraus zu schließen, daß jene alten Formen, die Sarabande, die Gigue, der Passepied, das Rondo und Menuett die wirkliche Tanzidee enthalten, sie allein, da sie ja ihre Befähigung für die höchsten musikalischen Offenbarungen erwiesen haben. Und nun stellen Sie sich einmal die musikalische Kunstblüte vor, die aus Tango, Jazz, Foxtrott, Shimmy und ihren Nachfolgern hervorgehen könnte. Es ist schon lächerlich, daran auch nur zu denken; sie sind und wollen gar nichts anderes sein als Taktschläger, wie Metronome und Castagnetten, ohne die geringste musikalische Potenz, und sind sonach völlig ungeeignet der göttlichen, untrennbaren Dreiheit zu dienen: Liebe – Musik – Tanz.

Ich war vielleicht der einzige im Saal, der ihn ausreichend begriff, denn ich kannte ihn ja schon genügend mit seiner Sehnsucht nach dem Einstigen. Plötzlich fluteten Töne einher, wie improvisiert angeschlagen vom Kapelldirigenten, dem ein vorsintflutliches Stück eingefallen war, und der es darauf ankommen ließ, bei schweigendem Orchester mit einem Klaviersolo einzuspringen.

Argelander schnellte auf: Aber das ist ja eine Pavane, la bella Padovana, das Musterstück der Gattung! Hören Sie nur, meine Damen, wie frisch trotz seiner vier Jahrhunderte! Mit impulsiver Bewegung näherte er sich dem Klavier, als ob er fürchtete, daß die überraschende Klangerscheinung verschwände. Und unwillkürlich vibrierte alles an ihm in dem vornehmen, geradtaktigen Rhythmus der Melodie, die in jeder Schwingung seiner biegsamen Gestalt ihr körperliches Abbild gefunden zu haben schien. Das währte nur wenige Sekunden, aber diese kurze Zeitspanne genügte, um uns allen ein Tanzbild einzuprägen, das man gern festgehalten hätte. Er selbst hatte offenbar gar keine Ahnung von seinem reizenden Extempore, und er war sehr erstaunt, als ihm, da er am Instrument mit geöffneten Armen stehen blieb, um irgendeine Tanzpartnerin zu erwarten, nichts anderes zuflog, als ein allgemeiner Applaus. Keine wagte es, in einem ungleichen Duett die Andeutung fortzusetzen, jede fühlte, daß man nicht ballmäßig erweitern durfte, was als flüchtige Skizze sich so ganz jenseits aller Schablone stellte. Und das Einverständnis der Damen fand seinen Ausdruck in einem raschen Entschluß. Im Programm war ein Preis vorgesehen für das beste Tanzpaar; jetzt interpretierte das Komitee das Statut dahin, daß die Prämie dem Einzelnen zufallen müsse, der ohne es darauf anzulegen, dem Abend die eindruckvollste Sensation verschafft hatte. Und hier zum erstenmal sah ich meinen neuen Freund in einer Verfassung, die ich beinahe als Verlegenheit oder Ungeschick bezeichnen möchte: tatsächlich, es flog eine leise Röte über sein Gesicht, als ihm die Schwedin den meisterlich ziselierten Silberpokal in die sträubende Hand legte.

Bald darauf nahm mich Argelander beiseite und vertraute mir: Jetzt bin ich wieder auf dem Gleise. Beachten Sie die Zeit, es ist eine Minute über Mitternacht, mein kritischer Tag erster Ordnung wäre überwunden. Gestern ein Preis verloren – heute ein Preis gewonnen, das gleicht sich aus, nicht in der Substanz, aber im persönlichen Wert. Das ist Schicksalsspruch. Mit meiner Millionenwette baute ich einen Prospekt in die Zukunft, das versagte; jetzt eben beschwor ich, halb unbewußt, die Vergangenheit, da gewinne ich den Grand Prix. Und der Schlüssel des Geheimnisses? Zeitumkehrung! Es wäre der Gipfel der Lebenskunst, diesen Schlüssel gänzlich in die Hand zu bekommen.

Zwölf Stunden später war das Schiff landungsbereit vor Zypern. Und ein Duft der Sinnenfreude, seltsam geschwängert mit einem Hauch, der die Nerven aufregte wie die Witterung heiliger Ruinen, strömte über Deck.


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