Peter Nansen
Gottesfriede
Peter Nansen

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XX.

Oktober.

In dem Quellgarten, der zwischen der Stadt und dem Mühlenberg liegt, haben die kleinen Kinder ihren Park. Wenn das Wetter gut ist, werden sie von Müttern, Ammen und Kindermädchen hierhergeführt, entweder in ihren Wiegenkutschen ruhend oder auf ihren kurzen Beinchen trippelnd. Ein grosses, von hohen Bäumen geschütztes und von langen Bänken umgebenes Rondel ist der Sammelplatz. Hier steht eine Holzbude, in der Milch und Kuchen, Lakritzen, Johannisbrot und verlockende rotgestreifte Zuckerstangen verkauft werden. Mitten auf dem Platz aber steht die broncefarbene Statue eines vaterländischen Helden und schaut mit unbeirrt kriegerischem Sinn dem Spiele der Kleinen zu.

Auf unserem Wege zur Stadt schlagen Grete und ich gern den Weg durch den Quellgarten ein. Für mich ist es eine Neubelebung meiner frühesten Erinnerungen aus jener Zeit, als ich ein so bewegliches Gemüt war, dass ich vor Zorn dem Winde die Zunge aussteckte und vor Angst weinte, wenn mein Kindermädchen, der allgemeinen respektswidrigen Gewohnheit im Quellgarten folgend, mich die notdürftigen kleinen Geschäfte zu Füssen des strengen Generals verrichten liess. Vor allem aber gewährt mir Gretes Entzücken über die Kleinen einen Genuss. Mit strahlenden Augen folgt sie ihrem liebreizend ungeschickten Taumeln, und findet sie gleich bezaubernd, mögen sie lachen und plaudern oder plötzlich ein leidenschaftliches Gebrüll erheben. Am meisten aber liebt sie die ganz Kleinen, die im Wagen liegen und mit grossen, verwunderten Augen in die Welt hinausschauen. Heute geschah es, dass wir eine junge Mutter sahen, die so ein Kleines aus dem Kissen nahm und es an ihre grosse, weisse Brust legte, an die es sich mit gierigem Munde festsog und die es mit kleinen, eifrigen Händen umklammerte. Mit zärtlicher, andachtsvoller Anbetung verlor sich Gretes Blick in dies Bild, und als sie sich endlich losriss und wir weiter gingen, sah ich, dass sie Thränen in den Augen hatte.

– – – Wir sprachen später über ihre Liebe zu den Kindern. Sie sagte:

»Mein höchster Wunsch ist, Mutter vieler Kinder zu werden und auf dem Mühlenberg zu wohnen, wo Platz genug ist, sich mit ihnen zu tummeln. Ich könnte mir nicht vorstellen, dass ich verheiratet wäre, selbst wenn ich meinen Mann noch so innig liebte, ohne Kinder zu haben. Kann es etwas Schöneres für eine Frau geben, als dem Mann, den sie liebt, Kinder zu schenken? Kann man sich etwas Schöneres denken, als Mutter genannt zu werden? Zu wissen und zu fühlen, ja, es dem Klang, womit das Wort gesagt wird, anzuhören, dass man nicht vergebens lebt, dass es jemand giebt, dem man ganz unentbehrlich ist? Mein Mann sollte keine Einbusse erleiden durch die Zärtlichkeit, die ich unsern Kindern opfere. Ich würde ihn als ihren Vater doppelt lieben. Aber weil ich dies so empfinde, verstehe ich die jungen Frauen, von denen ich in den modernen Büchern lese, gar nicht, ja, ich entsetze mich über sie. Es hat ja fast den Anschein, als fürchteten sie die Kinder wie eine Gefahr, die ihr Glück bedroht. Und nicht genug damit, sie jammern und klagen noch obendrein über die Grausamkeit der Natur, die sie in Schmerzen gebären lässt. Als erhielten sie nicht tausendfachen Ersatz selbst für den qualvollsten Schmerz, wenn sie das Kind in den Armen halten. Als ob die Mutterschaft überhaupt einen Wert hätte, wenn sie nicht durch Schmerzen erkauft würde! Ich dachte anfangs: es sind nur Männer, die in weichlichem Mitleid so thöricht über etwas schreiben, das sie nicht verstehen. Aber ich las später dasselbe und in weit stärkeren Ausdrücken in Büchern, die von Frauen geschrieben waren und die die Sache der Frauen verfechten wollten. Diese weiblichen Schriftsteller, die oft selber Gattinnen und Mütter sind, fühlen sich beinahe beleidigt, dass allein die Frau Mutter sein und Mutterpflichten erfüllen soll, die sie von der Teilnahme an wichtigern gemeinnützigen Aufgaben abhalten. Ich verstehe diese Frauen nicht, ich bin entsetzt über sie. Ich sehe sie vor mir mit ihren vor Empörung gegen die Natur verzerrten Gesichtern. Ich werde krank, wenn ich ihre Bücher lese. Ich habe ein Gefühl, als würden kleine Kinder in mir ermordet.«

Aber nach einer Pause fügte Grete hinzu: »Sehen Sie, ich glaube, der Umstand, dass ich meine Mutter so früh verlor, hat viel dazu beigetragen. All der unbefriedigte Drang nach Mutterliebe, den ich hatte, hat meinem Mutter-Drang Wachstum verliehen.

Ich, die ich mich nicht entsinne, wie es ist, auf einer Mutter Schoss zu sitzen, konnte schon als kleines Mädchen kein Kind sehen, ohne dass sich meine Arme darnach sehnten, es zu umschliessen, es an mich zu ziehen.«

So sprach die Mutterlose zu dem Mutterlosen. Und während ich ihren üppigen Körper anschaute, wie sie so stolz und rein in ihrem offenherzigen Bekenntnis dahinschritt, dachte ich, dass ich meinem Sohn kein grösseres Glück schenken könne, als ihn von diesem Weibe geboren werden zu lassen.

XXI.

Oktober.

Wir stehen still vor einem langen, niedrigen, schmutzig-gelben Hause in einer engen Querstrasse. Vor jedem der niedrig gelegenen Fenster sitzt hinter Geranien und Goldlack eine alte Frau, ein buntes, gestricktes Tuch um die Schultern.

»In diesem Hause,« erzähle ich Grete, »wohnen alte, arme Frauen und Mädchen, die nicht fein genug sind, um ins Stift zu kommen. Das Haus besteht aus einem einzigen langen Zimmer, das durch Kattunvorhänge nach jeder Seite hin in zwanzig kleine Räume geteilt ist. In einem jeden solchen »Stand« wohnt eine alte Frau. In meiner Kindheit hiess eine von ihnen Annemarie. Sie ist die einzige, von der ich jemals etwas geerbt habe.

Annemarie war eine brustschwache Nähterin. Wie alt sie war, weiss ich nicht; sicher aber war sie ziemlich zu Jahren, da sie einen Platz in diesem milden »Stand« erhalten hatte. Sie bewahrte indessen, so lange, wie ich mich ihrer erinnern kann, ein vollständiges Kindergesicht, glatt und fein mit zwei treuherzigen, stets lächelnden braunen Augen. Von Gestalt war sie das Kleinste, was ich jemals gesehen habe. Gleich einem kleinen, bescheidenen Schatten schlich sie die Strasse hinab, ihre Bauernmütze auf dem Kopf, den grünen, wollenen Shawl um die mageren Schultern gewickelt. Hier im Hause hatte sie freie Wohnung, im übrigen aber musste sie sich selber ernähren. Das that sie, indem sie in der Stadt auf Nähen ausging; sie hatte jede Woche ihren bestimmten Tag bei sechs Familien. Weitere Fertigkeit in der Nähkunst besass Annemarie nicht. Auf Flicken und Stopfen aber verstand sie sich wie keine zweite; mochte ein Stück Leinenzeug oder Wäsche noch so durchlöchert sein, sie fand es stets zu gut, um es zu kassieren. Die kinderreichen Familien, die zu ihrem Unterhalt beitrugen, waren folglich mit ihr nicht übel beraten, namentlich da man ihr nicht nachsagen konnte, dass sie sie übervorteilte. Ihr Nähterlohn, den zu erhöhen sie sich auf das entschiedenste weigerte, – sie fand ihn durchaus hinreichend – betrug sechs Schillinge pro Tag. Aber dann hatte sie ja freilich auch den grössten Teil ihrer Beköstigung. Und in Bezug auf die Beköstigung wurde Annemarie verhätschelt, wohin sie kam. Die verschiedenen Familien sorgten stets dafür, dass ihre Leibgerichte gekocht wurden, was nun allerdings für die Hausfrau ebenfalls nicht unerschwingbar war und uns Kindern ihren Besuch doppelt lieb machte; denn Annemarie hatte sich auch in ihrem Geschmack eine entschiedene Kindlichkeit bewahrt. Hätte sie das Diner nennen sollen, das ihr am verlockendsten erschien, so würde sie ohne Bedenken Fruchtsuppe und Pfannkuchen geantwortet haben. Seit meiner frühesten Kindheit, bis wir die Stadt verliessen, kam Annemarie jeden Donnerstag zu uns. Glich sie auf der Strasse einem Schatten, so wurde sie im Zimmer zu einem milden, kleinen Sonnenstrahl. Sie war stets zufrieden, stets davon erfüllt, wie gut sie es habe, und wie gut die Leute gegen sie seien; stets lächelte sie dankbar aus ihren braunen Kinderaugen. Mitteilsam aber wurde sie erst, wenn sie mit uns Kindern allein war. Die Erwachsenen beängstigten sie ein wenig mit ihrer Vernunft und ihrem Ernst. Zusammen mit Kindern fühlte sie sich in ihrem Element. Ihre kleinen Sorgen und Freuden verstand sie, als seien es ihre eigenen. Ihre Interessen und Vorstellungen teilte sie; den ganzen Nachmittag, sobald wir aus der Schule gekommen waren, sassen wir bei ihr in der kleinen Plättstube und plauderten auf das gemütlichste wie mit einem gleichaltrigen Knaben.

– Als aber die Abschiedsstunde anbrach und wir die Stadt verliessen, stand sie am Schiffe und weinte, als solle ihr das Herz brechen.

Sie vergass ihre kleinen Freunde nicht.

Jahre vergingen, ich war bereits ein grosser Bursche und hatte eben mein Abiturienten-Examen absolviert, als ein Brief eintraf mit der Nachricht, dass Annemarie, der ich in kindischem Leichtsinn nicht oft einen erinnernden Gedanken geschenkt hatte, gestorben sei und mich und meinen Bruder, sowie zwei Kinder aus einer andern Familie zu ihren Erben eingesetzt habe. Das hinterlassene Kapital betrug 50 Reichsthaler und sollte zu gleichen Teilen unter uns verteilt werden, so dass 12½ Thaler auf jeden Erben kamen.

Fünfzig Reichsthaler, das bedeutete für Annemarie eine von 800 Arbeitstagen zusammengesparte Einnahme, sechs Schillinge auf sechs Schillinge.

Ich verreiste mein Erbe. Für Annemaries sechs Schillinge machte ich eine herrliche, vierzehntägige Fusstour nach dem überstandenen Examen.

– – Und deswegen, Grete, kommen mir Thränen in die Augen, wenn ich dies armselige Haus ansehe, wo alte Frauen hinter Goldlack und Geranien am Fenster sitzen.«

XXII.

November.

Meine Freundin im Stift ist Gretens und mein einziger Verkehr. Wir hatten sie vor einiger Zeit zum Chokoladefest auf mein Giebelstübchen eingeladen. Sie wurde in einer Droschke geholt, bekam Chokolade und Schlagsahne und, als sie ihre Equipage wieder bestieg, einen ganzen Korb mit Äpfeln und Birnen, sowie einige kleine Gläser Eingemachtes, das Grete für sie mitgebracht hatte. Kurz, sie wurde, wie sie selber sagte, accurat so behandelt wie eine von den Prinzessinnen in den Märchen, die sie, als ich noch ein Kind war, für mich dichtete.

Aber auch wir haben sie besucht und sind ihre gefeierten Gäste gewesen.

Grete hat meine Freundin ganz erobert, es würde ihr wohl schwer werden, zu sagen, für wen von uns, für Grete oder für mich, ihr altes Herz am stärksten pocht. Es verwirrt und ärgert sie ein wenig, dass wir nicht verlobt sind; aber sie hat offenbar die Hoffnung nicht aufgegeben, dass das noch kommen kann. Wenn wir sie besuchen, zieht sie bald mich, bald Grete beiseite und ergeht sich in verblümten Lobpreisungen: über Grete mir gegenüber, und umgekehrt. Zu mir lautet der stete Refrain: »Ist sie nicht ganz reizend? Hat er jemals so ein prächtiges Mädchen gesehen? Strahlt sie nicht vor lauter Herzensgüte? Und wie ihre Augen glänzen, wenn sie ihn ansieht! Ja, das kann man doch mit halbem Auge sehen, dass sie ein gut Teil für ihn übrig hat.«

– – Gestern waren wir zu einer grossen Kaffeegesellschaft bei ihr. Zu ihrem Kummer erhielt sie nicht die Erlaubnis, den Herrn Pfarrer einzuladen, sie musste sich darauf beschränken, uns durch einige der vornehmsten Damen des Stiftes zu ehren; im übrigen aber verlief das Fest auf die schönste Weise. Die Bewirtung war eine königliche: der Kaffeekessel kam nicht aus dem Kochen, und der Teller mit Wienerbrot war kaum geleert, als er auch schon wieder gefüllt war. Und die Unterhaltung konnte nicht lebhafter sein. Im selben Augenblick, wo die eine Dame einen Bericht über ihre Gebrechlichkeiten und Widerwärtigkeiten beendigte, ergriff auch schon die nächste das Wort. Schliesslich wollte meine Freundin mir und Grete absolut die Karten legen, die andern Damen brannten vor Eifer, diese spannende Vorstellung zu erleben; Grete aber, die den Zweck dieses Kartenlegens kannte, und die aus früherer Erfahrung wusste, dass meine Freundin stets etwas vor hatte von der »Herzensdame« und von »geheimer Botschaft« und einem »seufzenden Freund« und allem andern, was zum Fach gehörte, wünschte offenbar, in dieser grösseren Gesellschaft von Ehestifterinnen verschont zu werden.

Mit dankbarem Blick ging sie deswegen auf meinen Vorschlag ein, dass wir die Karten bis zu einem andern Tag ruhen lassen wollten, und dass sie statt dessen das Fest mit dem Vortrage einiger Lieder ihrer Kleinen in der Spinnstube vor allen den Alten beschliessen solle. – –

In der Spinnstube stehen die Rocken der Alten, und während die Rädchen schnurren, werden die Angelegenheiten des Stifts in zungenfertigem Geplauder durchgehechelt. Aber die Spinnstube dient gleichzeitig als Betsaal. Infolge dessen ist sie auch mit einem Harmonium ausgestattet.

Das bevorstehende Ereignis ist überall bekannt gemacht, und als wir unter Anführung meiner Freundin, die sich als Direktrice einer grösseren Oper fühlt, in die Spinnstube treten, ist der Saal ganz gefüllt. Mit ihren in aller Eile aufgesetzten Sonntagsmützen sitzen die alten Frauen da und nicken so verlegen und andächtig mit dem Kopf, als sollten sie mindestens zum Abendmahl gehen. Schlank und üppig in lichter, holder Jugend steht Grete mitten zwischen ihnen: ein schimmernder Birkenstamm, der in einem verwitterten, verkrüppelten Gebüsch aufgeschossen ist. Aber in den Herzen aller dieser runzligen und eingefallenen Alten regt sich, als sie sie erblicken, ein Wiederschein des Frühlings, und in bewunderndem Murmeln wogen die nickenden Haubenköpfe hin und her.

Dann tritt wieder Totenstille ein: Grete hat sich an das Harmonium gesetzt, schlägt eine Melodie an ¦dann singt sie. Die Luft in dem niedrigen, überfüllten Saal ist dick und schwer. Die Töne rieseln tauklar hindurch, steigen empor gleich zwitschernden Yögeln, blitzen in muntern Sonnenstrahlen, verbreiten einen Duft von Feld und Wald, spannen eine hohe, blaue Wölbung über den armseligen Raum und die alten Frauen. Es sind die süss-schmachtenden, fromm-schelmischen Lieder aus der Jugendzeit unserer Mütter und Grossmütter, die Grete singt. Die Alten lauschen, diese Töne lassen längst vergessene Saiten in ihnen erbeben, vorsichtig wagen sie sich vor, allmählich bewegen sich alle die alten Münder, nicken alle die getollten Mützen im Takt mit Gretens Gesang. Lieder von der Liebe Leid und der Liebe Freud' finden aber doch den empfänglichsten Klangboden. Bei jedem Kuss auf den roten Mund im duftenden Hain zur Abendstund' gleitet ein glückliches Lächeln über die runzligen Gesichter; wenn aber Grete von heissen Thränen und brennendem Sehnen singt, da werden fünfzig alte, roträndrige Augenpaare feucht.

Ich sitze ganz im Hintergrunde der Stube neben meiner Freundin. Sie, der es sonst nicht an Worten gebricht, ist so bewegt, dass sie nicht reden kann. Aber sie streichelt unausgesetzt meine Hand. Und als sich Grete endlich vom Instrument erhebt und von dankenden, handküssenden, knixenden und segnenden Alten umringt wird, spricht meine Freundin die Worte aus, für die ich sie hätte küssen können: »Ach nein! Wie leibhaftig sie seiner seligen Mutter gleicht.«

XXIII.

Dezember.

Ich gehe mit Grete nach dem Grabe meiner Mutter.

Es ist winterlich dunkel auf dem Friedhof. In dem grossen Garten des Todes leuchten nur die nackten, weissen Kreuze. Es hat kürzlich geregnet, und wir treten lautlos auf das gefallene Laub.

Der Tod wird grösser und mächtiger in seinem Wintergewande. Zur Sommerzeit wird sein wunderliches Grauen von bunten Blumen und lächelndem Laubwerk bedeckt. Wir suchen den Tod mild und gut zu machen mit den reichen Opfergaben des Sommers. Im Winter aber erhebt er sich in seiner strengen Majestät, breitet seinen Mantel so schwarz aus und drückt jedem Baum des Friedhofes seinen Gerippe-Stempel auf.

Ich schreite mit Grete über den winterlich dunklen Friedhof, und das Grauen des Todes erschreckt mich nicht. Ich stehe im Bunde mit dem guten Herrn des Todes; es will mir scheinen, als weiche der Tod überall dort, wohin wir die Schritte lenken.

Wir sitzen am Grabe, und Grete sagt: »Obwohl Sie so oft mit mir von Ihrer Mutter gesprochen, haben Sie mir doch niemals erzählt, wie sie aussah. Sie waren doch damals, als sie starb, nicht mehr so klein, dass Sie nicht einen bestimmten Eindruck von ihr empfangen haben sollten.«

»Das Bild meiner Mutter, das ich am deutlichsten in meiner Erinnerung bewahre, stammt nicht aus ihren allerletzten Lebensjahren. Es stammt aus der Zeit, ehe die Krankheit sie gebleicht hatte, aus der Zeit, als sie noch jung und hübsch war oder mir doch so erschien. Ich sehe sie an einem schönen Sommertag in einem Garten mitten auf einem Rasen stehen. Sie stand zwischen uns Kindern, die um sie herumspielten, mit einem leichten Shawl, der anmutig um ihre Schultern drapiert war. Ich entsinne mich nicht, jemals eine Frau gesehen zu haben, die einen Shawl so hübsch zu tragen verstand. Ein grosser Gartenhut umrahmte das feine Oval ihres Antlitzes, und das dunkle Haar lag glatt über ihrer Stirn, einer Stirn, so klar und weiss. Mit strahlenden Augen stand sie in ihrer spielenden Kinderschar. Da plötzlich sass ein Kanarienvogel auf ihrer Schulter. Ein fliehender Vogel, der Zuflucht bei ihr suchte. Uns zur Ruhe mahnend, erhob sie die Hand. Eine Weile blieb der Vogel sitzen, strich dann liebkosend seinen Schnabel gegen ihre Wange und flog davon.«

Ich ergreife Gretes Hand, die in ihrem Schosse ruht. »Ja, Grete, so erinnere ich mich meiner Mutter. Wollen Sie aber mehr wissen, da fragen Sie unsere alte Freundin im Stift. Sie sagt, und ich bezweifle nicht, dass sie recht hat, dass Sie ihr leibhaftiges Ebenbild sind.«

Grete schaut mit grossen, liebevollen Augen zu mir empor. Und ich fühle ihre Arme um meinen Hals und ihre Lippen auf den meinen. Dann stehen wir lange, Arm in Arm, in stiller Andacht vor Mutters Grab.

– – Als wir dann aber heimgehen nach dem Mühlenberg, frage ich:

»Erzähle mir doch, wie es gekommen ist, dass Du mich lieb gewonnen hast?« Sie antwortet: »Ich fühlte, dass Du meiner bedurftest, und von der Stunde an besassest Du mein Herz.«

Und dann sagte sie: »Versprich mir, dass Du, wenn ich sterbe, mich dicht neben Deiner Mutter begraben lassen willst. Meiner eigenen Mutter Grab ist an einem fremden Ort, und ich möchte nicht gern weit weg vom Mühlenberg. Ich möchte auch, dass Du Deine Mutter und mich beieinander findest.« Als sie aber sieht, dass ihre Worte mich traurig machen, fügt sie lächelnd hinzu: »Du thörichter Mann, glaubst Du, dass ich ans Sterben denke? Ich habe niemals das Leben mehr geliebt als jetzt!«

XXIV.

Dezember.

Wenn ich früher etwas erreichte, was ich ein Glück nannte, und wenn ich dann mein Herz erforschte, ob das Glück auch wirklich dort wohne, so fand ich stets in irgend einem Winkel den wunden Punkt, wo der Wurm des Zweifels im geheimen hinter der Blütendecke nagte. Und ich habe im geheimen gewusst, dass früher oder später der Augenblick kommen würde, wo die Pracht verblich.

Der Zweifel ist genügsam. Ein unruhiger Blick, ein unüberlegtes Wort verleiht ihm Nahrung. Du sitzest in einer Abendstunde mit der Geliebten da. Plötzlich siehst Du, wie ein fremder Gedanke, eine fremde Erinnerung ihr Auge verschleiert. Du fragst, und sie antwortet mit einem geistesabwesenden Lächeln, einem gleichgültigen Wort. Es ist nur ein Augenblick. Sie vergisst es, und Du vergisst es, während sie Dich in ihren Armen hält. Wenn aber die einsame Nacht kommt, steigt das Bild der Geliebten mit den Augen wie kalte Lügen und mit einem Lächeln, das Dein Herz erstarren macht, vor Deiner Seele auf. Was nützt es, dass sie Dir den nächsten Tag zärtlicher denn je begegnet? Du kannst Dich einen Tag, eine Woche, einen Monat geheilt glauben. Der Wurm hat Dein Glück mit seiner giftigen Zunge berührt. Du bist seine Beute.

Es giebt Menschen, die sich in armseliger Blindheit mit diesem kränkelnden Glück zufrieden geben. Es giebt andere, die in aufgeblasenem Trotz sagen: Sicherheit tötet das Glück.

Es giebt nur ein Glück: im Glück zu ruhen. Zu wissen, dass der Tag, der kommt, mit derselben Sonne anbricht, die gestern entschwand. Nichts mehr zu begehren, nichts mehr zu fürchten. Keinen Tag zurückzuwünschen, keinen Tag anders zu wünschen, weil jeder Tag gleich glücklich ist.

Dies Glück, das einzige, ist mir beschieden.

So eifrig wie nur irgend jemand habe ich darnach gejagt. Ich habe es draussen in der Welt gesucht, wo man sein Glück macht. Ich war früh auf und spät aus, um es zu finden, habe mich bei seiner Verfolgung aufgeregt und ermüdet.

Und dann schwebte es auf mich herab gleich einem stillen Lied an einem fernen, stillen Ort. Ich hörte es in einer herrlichen Sommernacht gedämpft vom Wasser her klingen. Ich wagte nicht, es anzurufen, ich fürchtete, es zu verscheuchen. Ich öffnete ihm nur in demütigem Glauben mein Herz. Und siehe, eines Tages sang das Glück dadrinnen.

Ich habe mein Herz erforscht, kein Zweifel verbirgt sich dadrinnen. Ich habe einsame Nächte wach gelegen, kein Schatten entstellte Gretens holdes Bild.

Ich gleite in einem weissen Boot einen sonnenbeschienenen Fluss hinab, und ich halte eine goldene Frucht, heil und rund, in meiner Hand.


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