Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Mechanik

Hoff wachte auf, an den Schultern berührt. Hertz stand vor ihm, in einem seidenen, etwas bunten Schlafrock. Die Stehlampe brannte immer noch; die schweren Samtvorhänge hingen immer noch wie vor der Nacht. – Es sei bald sieben, sagte Hertz, ob er noch Zeit habe. – »Nein«, versetzte Hoff, stand auf und reckte sich. Sein steifes Oberhemd war verbeult, der Smoking sah zerdrückt und unstatthaft aus. – Vielleicht sei es ihm auch nicht angenehm, wenn das Hauspersonal ihn noch sehe, bemerkte Hertz.

Die Hunde waren verschwunden. Hoff wollte nach ihnen fragen, unterließ es aber, weil er nicht sicher war, ob der Hausherr an die nächtliche Unterhaltung erinnert werden wollte. Es war bereits ein Abstand da. Hertz war wortkarg. Er ging nur bis zur Haustür mit, öffnete das Gartentor elektrisch und verabschiedete sich ohne viel Umstände. Allerdings sagte er: Auf Wiedersehen.

Hoff hatte Zeit genug, um den Weg nach Hause zu Fuß zu gehen. Es wäre auch schwierig gewesen, in diesem stillen Viertel ein Gefährt aufzutreiben. Die Straßenbahn, die niemals häßlicher ist als in der ersten Frühe von Wintertagen, mied er.

Die schwarzgrauen und undeutlichen Straßen sahen aus, als schnappten sie nach Tag. Die Laternen brannten noch, aber sie waren von ihrer eigenen Schwäche und Nutzlosigkeit in weißliche Nebelsäcke gesteckt. Die Menschen, die allmählich zahlreicher wurden, hatten noch keine Gesichter.

Hoff ging ganz ohne Gedanken, auch ohne rechtes körperliches Bewußtsein. Seine Beine gingen und sie schienen Bescheid zu wissen. Das genügte ja auch. Seitdem er Hertzens Haus verlassen hatte, zog es ihn seine Wegrinne entlang, durch diese und jene Straße, ohne daß er eine Anweisung zu geben oder zu lenken brauchte. Er rollte wie eine der mißachteten Trams, die auch ihren Antrieb von außen empfingen – nur langsamer, gleichsam gemütlicher.

Es ging ihm ganz gut. Die Hände staken warm behandschuht in den Taschen des dicken Mantels, der hochgeschlagene Kragen schützte den Hals und versteckte zugleich Smokingkrawatte und -kragen, die dieser Stunde übler noch standen als die brennenden Laternen. Er blickte auch nicht zu Boden, schon weil er jetzt nicht seine ungehörigen Lackschuhe sehen wollte, sondern nahm die undeutlichen Dämmerbilder des Weges auf, wie es sich gehörte. Aber er behielt sie nicht und bedachte sie nicht: sie fielen durch ihn hindurch ins Leere.

Nicht nur er: alles ging seinen Weg in Regel und Ordnung, wenn auch ein wenig subaltern und unfreiwillig. Es lag ein Generalkommando in der dunklen Luft. Die Leute marschierten alle wie gezogen oder gestoßen. Daß auf einen Schlag sämtliche Laternen verlöschten, gehörte dazu. Ein simpler Mechanismus regierte: man tat das Vorgesehene – und es ging einem ganz gut.

In das Polizeirevier, an dem Hoff vorbeitrieb, wurde gerade ein Mann eingeliefert, der so verdächtig wie möglich aussah. Was ging ihn dieser Mann an? – Nichts, gar nichts. – Aber weil diese üble Physiognomie nur durch die beiden Schergen, die rechts und links seine Hände und seine Arme ausrenkenden Griffes gepackt hielten, einen erbarmungswürdigen Anflug von Märtyrertum erhielt, drehte er sich doch flüchtig nach ihr um, wie andere Passanten auch. Sein Interesse an dem Gefangenen war nicht dauerhafter und nicht tiefer als bei dem Briefträger, der seit geraumer Zeit plattfüßig vor ihm herging und ungefähr zu gleicher Zeit der Gruppe nachsah, eine sehr abfällige Bemerkung äußernd. Es war nicht zu unterscheiden, ob er den Festgenommenen oder die Festnehmer beschimpfte. Hoff bekam in diesem Augenblick die Theorie von der Brutuszeit als unverbindliches und unpersönliches Stichwort wie von ungefähr in den Sinn und sprach deshalb den Briefträger der Partei des Häftlings zu. Er selber war eher für die Polizisten, weil sie ihre sogenannte Pflicht gegen einen sogenannten Pflichtvergessenen erfüllten. Aber diese Parteinahme war ein sehr flüchtiges Zwischenspiel. Und auch sein letzter Blick auf das transparente Schild »Polizeirevier des XXI. Bezirks«, blaue Buchstaben auf weißem Glas, schuf keine weitere Verbindung mit ihm selber, geschweige denn den Gedanken, hineinzugehen und das zu tun, was er dem schlafenden Hertz vorgeschlagen hatte.

Schon gelangte er in seine Straße. Das Haus, in das er gehörte, bellte seinen immer lauten Griesgram durch das offene Tor bis auf den Bürgersteig. Die Treppe lag noch im Dunkel. Das Stiegenlicht versagte natürlich; aber Hoffs Feuerzeug funktionierte. Jede Stufe krachte, Hoff war es gewöhnt. Er begegnete hintereinander zwei Männern, die zur Arbeit gingen. Keiner von ihnen sagte »guten Morgen«. Hoff war hier nicht beliebt, weil er gut angezogen war. Viele kannten ihn auch nicht. Jedes Stockwerk warf etwas von seinem groben Leben bis ins Treppenhaus: entweder schrie ein Mann oder eine Frau oder brüllte ein Kind. Hoff machte sich keine Gedanken darüber. Vom zweiten Stock an wurde es heller, weil das Treppenhaus ein Glasdach hatte. Er konnte das Feuerzeug auslöschen.

Der Vorteil seines Zimmers war bekanntlich der eigene Eingang. Er schloß leise auf, um seine Wirtin, die natürlich schon tätig war, nicht für den ganzen Tag stutzig zu machen. Die Witwe, die außer Krankheit, Wohnung und Zimmerherrn nichts zu bedenken hatte, wäre durch seine Heimkehr zu ungewohnter und unsolider Stunde in einen inneren Aufruhr und dadurch in eine Neugierde geraten, die sich am wenigsten für diesen Tag eignete. Hoff bedachte dies alles nicht, sondern handelte, als ob es bedacht worden wäre. Sein Tun stand ja in vollkommener Übereinstimmung mit einer scheinbar außen waltenden, sozusagen behördlichen Vernunft.

Er zog sich aus, hing ordentlich Jacke und Weste auf den Kleiderbügel, spannte die Hosen in den Strecker und tat Oberhemd und Kragen in die für gebrauchte Wäsche bestimmte Schublade. Er legte sich ins Bett und hatte noch eine Viertelstunde Zeit, bis ihm die Wirtin den Morgenkaffee brachte. Er überlegte nicht, was er mit den fünfzehn Minuten anfangen solle. Hätte er es getan und vor ihrer Leere Angst gehabt, so wären sie gefährlich geworden. Sie waren für ihn aber nur eine der kleinen Wartezeiten, die zum Kommando gehörten und von selber vorübergingen. Er dachte nichts und tat nichts; das heißt: er langte einmal mit der Hand unter das Bett und fand auch sofort den Koffer. Dann lag er still auf dem Rücken und starrte zur Decke.

Er hörte die Alte in der nahen Küche wirtschaften und dabei mit dem Kater Joseph sprechen. Sie wandte für den Umgang mit dem Tier keine Kindersprache an, wie es viele Frauen tun, sondern redete mit dem Kater sogar hochdeutsch wie mit dem Zimmerherrn, im Gegensatz zum niederbayerischen Idiom ihrer vielen Selbstgespräche. Vor Unzeiten in diese fremdgebliebene Stadt verschlagen, kleidete sie wenigstens die eigenen Gedanken in heimatlichen Dialekt – und um ihn zu hören, sprach sie sie laut. Die Meditationen und die Gespräche mit dem Haustier gingen oft ineinander über und hatten inhaltlich wenig Unterschiede. Hoffs Ohren, die es nun einmal hören mußten, hielten sie nur durch die sprachlichen Abgrenzungen auseinander. Die Witwe fragte den Kater Joseph nach dem Wetter, nach seiner Gicht, nach dem Siedepunkt der Milch auf dem Feuer. Sie schaltete überraschend ein paar moraltheologische Bemerkungen eigener Prägung ein: ob Joseph wisse, daß man dem lieben Gott für jeden neuen Tag dankbar sein müsse und daß ein Mensch wie der Fritz Boll vom dritten Stock, der jungen Katzen die Schwänzchen zwischen der Tür abzuquetschen pflege, viel strafwürdiger sei und vom Schicksal auch viel härter bestraft werden würde als seine Schwester Berta, die abgetrieben habe. Hoff gab ihr recht, mißtraute aber dem Gerechtigkeitssinn des Schicksals gegen Fritz und der Menschen gegen Berta. Die Alte in der Küche hatte inzwischen eine niederbayerische Aussprache mit sich über die kurzen Freuden und langen Leiden von Mädchen wie Berta und offenbarte dabei eine schöne Toleranz. Hoff sah auf die Uhr. »Joseph«, hörte er aus der Küche, »jetzt bringen wir unserem Herrn das Frühstück.«

Hoff brachte das Bett noch ein wenig in Unordnung, schloß die Augen und ließ die Wirtin zweimal klopfen, ehe er verschlafen »Herein!« rief. Sie trat ein, schmal und klein hinter dem großen Tablett und von Joseph behindert, der ihr zärtlich um die Füße ging. Sie mahnte den Kater freundschaftlich, auf ihre Pflichten Rücksicht zu nehmen, und knüpfte auf ihre unvermittelte Art an Herrn Hoffs gestrige Unpäßlichkeit an. Hoff hatte sie vergessen und gestand es ein. Sie bedauerte es, weil man schon aus Dankbarkeit gegen den lieben Gott keine Krankheit leicht nehmen dürfe – wo bleibe dann die Freude über ihre Überwindung und über Seine Hilfe? – und weil sie bereits den Kamillentee zubereitet habe. Hoff versprach, ihn vor dem Kaffee zu trinken. Die Alte streute noch ein paar Sätze aus, die sich für den Tagesanfang geziemten: über das Wetter, über den Kater, über die Post, die heute nichts brachte, über das Leben, das gut ist, wenn man es nur will, und zog sich dann mit Joseph zurück.

Hoff frühstückte, stand dann sofort auf, rasierte sich, wusch sich, zog sich an. Er schnitt sich nicht, er band die Krawatte nicht schlechter als sonst. Er war um zehn Minuten vor acht fertig, wie er es wollte. Er verschloß keine Schublade. Politische Korrespondenz besaß er nicht. Wenn der Koffer fort war, konnte man bei ihm nach Belieben Haussuchungen veranstalten.

Der Koffer war ziemlich schwer. Es war von den Kameraden eine Dummheit gewesen, ihn mit der unnützen Munition zu belasten. Jetzt riskierte er durch die Schlepperei angestrengte und unruhige Hände. Aber dagegen war nichts mehr zu machen. Er stellte ihn ins Stiegenhaus hinaus.

Er ging ins Zimmer zurück, setzte einen alten Filzhut mit heruntergebogener Krempe auf, zog einen Ulster mit sehr breitem Kragen an, stülpte ihn auf und schaute in den Spiegel. Man sah vom Gesicht fast nichts. Er klappte den Kragen zurück und streifte langsam die Handschuhe an. Er sah sich im Zimmer um. Er blickte nochmals in den Spiegel. Sein Gesicht war ruhig und unauffällig, nicht blasser als sonst. Er versuchte, sich zuzulächeln; das allerdings mißlang. Er öffnete die Tür zum kleinen Korridor der Wohnung, wie immer vor dem Weggehen, und rief sein »Adieu, Frau Hansmann!« hinaus. Die Witwe antwortete aus der Küche: »Adieu, Herr Hoff, gute Verrichtung! Joseph, sage adieu zum Herrn! Joseph sagt Adieu, Herr Hoff!«

Hoff ging die Treppe hinunter und trug den Koffer zumeist in der linken Hand, um die rechte zu schonen. Er begegnete keinem. Nur ein kleiner ungewaschener Junge mit kurzgeschorenem Kopf saß auf der Schwelle einer der zahllosen Wohnungstüren und zeigte ihm stumm und ernst die Zunge.

Der Weg zur Garage war nicht weit; aber er mußte hin und wieder stehenbleiben und den Koffer absetzen. Ihm wurde trotz des kühlen Morgens heiß. Er zündete sich eine Zigarette an. Ein junger Bursche ohne Kragen holte ihn ein und erbot sich, den Koffer zu tragen. Hoff lehnte freundlich ab. Der Junge hatte einen mächtigen Unterkiefer, den er dauernd bewegte; er kaute wohl Gummi. Er schaute immer noch auf den Koffer, mit nervösem Augenblinzeln, und hatte scheinbar fatale Gedanken. Hoff nahm den Koffer und ging weiter. Der Kerl folgte ihm: das war peinlich. Hoff ging zum nächsten Droschkenstand, stieg in einen Wagen, stellte den Koffer zwischen die Füße und verlangte einen Vorortbahnhof. Der Bursche stand in der Nähe, grinste unverschämt und wünschte kauend dem Herrn Grafen eine gute Reise. Nach einigen Minuten Fahrt ließ Hoff halten, bekundete den Entschluß, zunächst noch einen Freund zu besuchen, und entlohnte den Kutscher, der mürrisch, aber ohne Blick für den Fahrgast, den Taxameter ausschaltete.

Die provisorische Wellblechgarage stand unkontrolliert auf einem Bauplatz zwischen zwei Mietskasernen einer wenig belebten Straße. Sie gehörte einer ziemlich entfernt gelegenen Reparaturwerkstätte, in der ein Ligamitglied als Mechaniker arbeitete. Dieser Mann hatte die Garage, den Wagen und die falschen polizeilichen Kennzeichen besorgt und war für die Fahrbereitschaft verantwortlich. Er galt als zuverlässig.

Vor dem Grundstück war ein übermannshoher Bretterzaun mit einem primitiven Tor an der Einfahrtstelle. Die beiden Nachbarhäuser kehrten dem Bauplatz ihre blinden Brandmauern zu. Die Garage konnte also weder von der Straße noch von den Flanken her beobachtet werden. Auf der anderen Seite der Straße war eine kleine Selterwasserfabrik mit Fensterscheiben, deren untere Hälften mattiert waren. Hoff hatte sich persönlich um die Beschaffenheit der Garage und ihrer Umgebung gekümmert.

Er drückte gegen das Zauntor, das ein unaufmerksamer Passant leicht übersehen hätte. Die beiden Flügel gaben nach, ein Beweis, daß die innere Sperrstange befehlsgemäß zurückgeschoben war. Hoff nickte zufrieden, betrat das Grundstück und sperrte das Tor hinter sich ab. Die Garage lag etwa zwanzig Meter zurück, so daß er auf dem Zufahrtweg den Wagen ausprobieren konnte, ohne das Zauntor öffnen und auf die Straße fahren zu müssen. Auf dem Bauplatz war eine fuchsrote Katze, die den Eindringling überrascht und regungslos anstarrte und dann mit langen Sätzen in den Hintergrund floh, wo ein anderer Holzzaun den Bauplatz gegen ein Laubengelände abschloß.

Hoff stellte den Koffer ab, schob den Hut zurück und sah sich um. Ein bißchen Sonne fingerte über das leblose Geviert und zeigte die paar bräunlichen Gräser auf der Erde, die wie verkohlt aussah. Hoff nickte wieder. Es ging ihm ganz gut. Er schloß die Garage auf. Es roch nach verbrannten Gasen und frischem Benzolgemisch. Der Mechaniker hatte offenbar pflichtgetreu gearbeitet und den Wagen täglich untersucht. Der Mechaniker war ein kleiner, eifriger, etwas geschwätziger Mann mit einem Kalmückengesicht und hieß, wie es sich für einen alten Militärkraftfahrer schickte: Bremser. Er glitt nach dem Krieg von einem Abenteuer ins andere – Baltikum, Oberschlesien, Ostpreußen, Mecklenburg – eigentlich ohne persönlichen oder politischen Willen, sondern im Zug seiner immer benötigten motortechnischen Sachverständigkeit. – Hoffentlich fliegt er jetzt nicht hinein, dachte Hoff flüchtig.

Der kleine Wagen, ein hochbeiniger Vorkriegsford, sah gepflegt und verlässig aus. Hoff hatte ihn übrigens schon gefahren. Es war ein viersitziger Phaeton mit einem Planverdeck, das durch Leinenseitenteile und gelbliches Marienglas das Wageninnere vollkommen verschloß und undurchsichtig machte. Hoff prüfte Kühler, Benzin- und Öltank und fand sie, wie erwartet, wohlgefüllt. Er untersuchte Reifen, Bremsen, Zündkerzen, Vergaser und Benzinzuleitung. Er schaltete die Zündung ein und drückte auf den Anlasser, der von Bremser in den alten Wagen hineingebaut worden war, um die Katastrophe eines Motorstillstandes während der Aktion abzuschwächen und vor allem zu verhüten, daß der Führer aussteigen müsse, um den Wagen wieder anzukurbeln. Der Motor sprang sofort an und hatte den gleichmäßigen und sonoren Klang, an dem das kundige Ohr Gesundheit, Kraft und guten Willen der Maschine erkennt. Hoff nickte zufrieden und stellte den Motor wieder ab. Man muß die Technik loben, sagte er sich, und man müßte Herrn Bremser eine Sondervergütung zukommen lassen; denn er ist doch ein armer Teufel.

Er trat aus der Garage, um den Koffer hereinzuholen. Er sah sich draußen um, als vorsichtiger Mann. Der Bauplatz lag in seiner starren Anmutlosigkeit. Die rote Katze war wieder da und äugte ihn an, den Leib am Boden, den Kopf vorgeschoben. Rote Katzen sind Glückskatzen, stellte Hoff fest. Das Tier sprang plötzlich wieder fort, aus keinem äußerlichen Grund; denn der Mensch tat keinen Schritt: es schien seinen Anblick auch nach dem zweiten Versuch noch nicht auszuhalten. Sie braucht sich ja gar nicht an mich zu gewöhnen, dachte Hoff und trug den Koffer in die Garage.

Dieses Mal schloß er die Wellblechtür hinter sich ab, nachdem er die Scheinwerfer des Wagens eingeschaltet hatte. Die beiden starken Lichtbalken schlugen unbarmherzig und unmäßig durch den winzigen Raum zwischen den Vorderrädern und der Türwand, die jetzt wie ein eiserner Theatervorhang im Rampenlicht aussah. Hoff hockte zwischen den Lichtströmen vor dem Kühler, mit dem Rücken zum Wagen, und öffnete den Koffer. Er nahm die Mauserpistole, strich über den langen schlanken Lauf, wog sie in der Hand und zielte mit ihr gegen die Türklinke. Die Waffe lag gut und ruhig, Korn und Kimme rührten sich nicht von dem gewählten Richtpunkt. Er nahm das Magazin heraus; es enthielt die acht Schuß, die es faßte. Die Geschosse standen paradehaft und in beinahe eleganter Gleichheit nebeneinander und sahen als Form und in ihrer graublanken Hülle wenig hinterhältig aus. Hoff nahm die erste Patrone heraus, um die Federwirkung des Magazins zu prüfen: die zweite drängte eilfertig nach, mit einem winzigen Knacken. Hoff füllte das Magazin wieder auf und schob es in die Waffe zurück. Es glitt wie auf Schienen in seine Höhle und schnappte verlässig ein. Welche Präzisionsarbeit! dachte Hoff und streifte wieder die Stoffhülle über die Pistole.

Diese Hülle aus dunkelgrauer Wolle war etwa wie ein weiter Ärmel geschnitten und nur an der seitlichen Naht zusammengeheftet. Sie hatte ungefähr den gleichen Zweck wie die grünen Sträucher und belaubten Zweige, die ein Geschütz gegen unerwünschte Sicht maskieren sollten. Man hätte auch einfach eine Zeitung nehmen können oder einen großen Papiersack. Aber Stoff war elastischer und haftender als steifes und leicht abgleitendes Papier, und dieser Ärmel, der nach Hoffs Angaben angefertigt worden war, erlaubte besseres Zielen. Man zog ihn über Waffe und Hand, und zwar so, daß die Mündung nur um ein paar Millimeter herausschaute. Der Schutzärmel reichte bis zum Unterarm und war so weit, daß im Notfall die linke Hand hineinfassen und Patronenhülsen oder Ladehemmungen beseitigen konnte. Hoff probte ihn aus und betrachtete die einfältige Tarnkappe: sie wirkte wie eine groteske Armprothese oder wie die grob angedeutete Hand einer Kasperlefigur; aber sie maskierte den Inhalt: Hand mit Pistole. Mehr war nicht verlangt. Hoff war mit seiner Erfindung zufrieden. Er war mit allen Erfindungen zufrieden, die ihm hier zur Verfügung standen. Man muß die Technik loben.

Er legte die eingewickelte Waffe auf den rechten Vordersitz des Wagens und bereitete aus der Menge der vorhandenen Munition nur noch zwei Kassetten zu je acht Schuß. Mehr war auch im ungünstigsten Fall nicht notwendig. Er nahm noch den Paß und die Banknoten an sich, verschloß dann den Koffer und verstaute ihn auf dem Boden des Wageninnern. Es wäre ihm laut Komiteebeschluß freigestanden, den Koffer in der Garage zurückzulassen; aber er tat es nicht, aus Rücksicht auf den Kameraden Bremser. Er stellte die Scheinwerfer ab, öffnete das Garagentor und stieg in den Wagen.

Es ist immer ein gutes Gefühl, am Steuer zu sitzen, es ist eine gewisse Beleihung mit nicht natürlicher Kraft und Macht. Das Lenkrad zwischen den Händen verändert sogar das Gesicht. Steuernde hängen von ihren Augen ab. Der Blick beherrscht die anderen Sinne und vereinfacht den menschlichen Ausdruck. Hoff hatte die Ruhe und die feste Schau wie jeder Fahrer am Start. Der Motor sprang an, als freue er sich auf die Fahrt, der Gang schaltete sich wie ein Spielzeug.

Als der Wagen anfuhr, hatte Hoff für den Bruchteil einer Sekunde den Schauder eines Gefangenen, der die Zellentür zuschlagen hört. Es war ihm, als sei das rollende Rad nicht mehr aufzuhalten und als sei sein Körper von der Berührung mit dem Erdboden endgültig geschieden. Er drückte unwillkürlich auf das Bremspedal; und mit dem Augenblick des Maschinengehorsams – der Wagen hielt sofort – war nicht nur der Schauder überwunden, sondern auch schon abgeleugnet: er habe die Bremse prüfen wollen.

Hoff fuhr jetzt bis zum Holzzaun, stieg ab und ging zurück, um die Garage zu schließen. Er sah sich während des Hin- und Herweges nach der roten Katze um, aber er entdeckte sie nicht. Dann öffnete er das Tor der Umzäunung. Auf dem Straßenstück, das er überblicken konnte, gingen zwei Frauen mit Markttaschen.

Er schlug den Ulsterkragen auf, bestieg den Wagen, schloß sorgfältig die Seitenteile mit dem Marienglas ab, fuhr auf die Straße und ließ den Zaun offen, um nicht nochmals halten und aussteigen zu müssen. Die Straße war ziemlich leer, er gab Gas, der Motor toste auf, die Tachometernadel war im Nu auf fünfundvierzig Stundenkilometern. Das Pflaster war holprig, der Koffer klapperte. Hoff bog in die nächste Querstraße ein und fuhr langsamer.

 

Der Wagen stand am »Abschnitt«, metergenau auf der vorbestimmten Stelle, die sich Hoff an den Bordsteinen gemerkt hatte. Er sah nicht auf die Uhr, um nicht durch die Unaufhaltsamkeit des Zeigers und eine unnütz genaue Kenntnis der Minute nervös zu werden. Überdies wußte er, daß er noch etwas zu warten haben würde. Es verlangte ihn nach einer Zigarette. Er fragte sich: darf ich rauchen? Er sagte Nein; aus Härte gegen sich. Es gab jetzt keine persönlichen Wünsche, so wenig wie Gefühle. Er paßte höllisch auf sich auf, so gut er bisher parierte.

Die Straße war schwach belebt, wie er es für den Freitag erwartet hatte. Hin und wieder gingen Leute vorbei. Ein Bengel, der den Randstein entlang turnte, blieb einen Augenblick vor dem Wagen stehen und drückte die freche Nase gegen das Marienglas. Hoff rührte sich nicht. Der Junge ging weiter.

Hoff saß quer im Wagen und beobachtete die Straße durch den Fensterschlitz der Rückwand. Erst wenn die bekannten Silhouetten des Ministers und seines Begleiters in diesem Ausschnitt auftauchten, würde er die paar Griffe tun, die noch notwendig waren. Die beiden hatten dann noch fünfzig Schritte zu gehen, bis sie den »Abschnitt« betraten; eine genügend lange Zeit, um den Motor anlaufen zu lassen und die Waffe in Anschlag zu bringen. Der Zielschlitz in der Wand konnte mit zwei Druckknöpfen des Seitenteils geöffnet und geschlossen werden.

Zu hoffen war, daß kein Unbeteiligter ins Feuer kam.

Zu bedenken war, daß irgendein Zwischenfall den gewohnten Gang des Ministers verschieben oder gar verhindern konnte. Hoff wollte eine Stunde über die Zeit hinaus warten. Kamen die beiden nicht, so würde er sie suchen. Dieser Fall würde allerdings eine neue Lage schaffen, die zu überlegen er sich jetzt verbot.

Das Hirn war zu steuern wie das Rad vor ihm. Unwillig bereits, daß es jetzt in Stundenräumen dachte, drückte er es in die engste Konzentration auf den Augenblick der Tat. Das Hirn gehorchte wie die Maschine vor seinen Füßen und die Maschine neben seiner rechten Hand. Es ging mit der Maschine Hoff ganz gut.

Konzentration: Achtung auf den Sekretär, der links geht, also zwischen sich und dem Wagen als Deckung den Minister hat. Der Sekretär wird vermutlich eine Waffe bei sich führen. Er wird sich möglicherweise weniger um den Minister als um den Angreifer kümmern. In diesem Falle sofort Schuß. Wenn er die Nerven verliert, lasse ich ihn laufen.

Ein Lastwagen polterte vorbei und bremste. – Wenn er hier hält ... – Er bog in die stille Seitenstraße. – Wenn er dort stehen bleibt ... – Der Lauschende hörte ihn weiterfahren.

Wenn ich eine Zigarette rauchen könnte! – Pfui Teufel! Willst du sie erst ausdrücken und dann schießen? Oder willst du sie im Maul behalten?

Und dann ist die Frage des Schußmoments, die Frage von gestern früh, Stirn oder Rücken: dieser Bärenrücken ... – – – – – – – –

 

Achtung – sie kommen. Sie gleiten durch den Ausschnitt des Rückwandfensterchens. Das Herz sticht in die Höhe. Im Mund bildet sich Wasser. Er muß schlucken, einmal, zweimal. Ruhig jetzt! Ruhig jetzt! – Er ist ruhig. Er ist so ruhig, daß das Blut kalt wird und er wie in einer Eisrinde steckt. Ein Druck: der Motor läuft – Präzisionsarbeit. Er nimmt die Pistole aus der Hülle, entsichert sie, spannt sie. Er zieht den Ärmel über sie, über die Hand, über die Manschette. Er öffnet die beiden Druckknöpfe des Seitenteils und lehnt sich etwas zurück. Die Waffe ist im Anschlag. Er kann sie sogar aufstützen. Er hört im Motorgeräusch keine Schritte. Er beginnt zu zählen: eins, zwei, drei ... es ist unsinnig, aber er läßt es zu ... acht, neun, zehn ... Ein bebrillter Mann geht vorbei, mit Geiernase, pfeifend, merkwürdig aus dem Mundwinkel pfeifend – er hat es, Gott sei Dank, eilig ... siebzehn, achtzehn, neunzehn ... sind fünfzig Schritte so lang? Nicht mehr zählen! Mach das Maul auf, wenn die Luft nicht mehr durch die Nase will!

Jetzt!

Die beiden betreten den Abschnitt. Der Minister spricht lachend und mit großen Gesten. Der Sekretär schaut lächelnd auf den Wagen.

Noch nicht.

Vorbeigehen lassen. Es geht nicht anders. Streifschuß darf nicht riskiert werden. Und du verzichtest gern auf seinen letzten Blick.

Es geht nicht anders. Dieser blinde Bärenrücken ...

Natürlich traf der erste Schuß.

Der Minister stand, stand, die Beine unnatürlich gespreizt, die Fäuste gegen das Kreuz pressend, den Oberkörper entsetzlich nach hinten abbiegend, den Kopf im Nacken, den Hut verlierend, den Kinnbart in der Luft – und brüllte. Das Stehen war furchtbar, das Brüllen war furchtbar.

Er brüllte über den zweiten Schuß hinaus. Dann stürzte er mit seitlicher Drehung.

Der Sekretär hatte keine Waffe oder vergaß sie. Er vergaß auch den Mörder, er dachte nur an das Opfer. Er lief nach dem ersten Schuß vor seinen Herrn und wollte ihn mit seinem Körperchen decken. Er stand gar nicht in der Schußrichtung. Er hob mit einer heroischen Bewegung die Arme und sah dem Getroffenen in das leidvolle Gesicht. Er wollte den stürzenden Körper halten und wurde mit zu Boden gerissen.

Hoff fuhr nach dem zweiten Schuß an, hielt das Steuerrad mit der Rechten und schoß mit der Linken sehr rasch etliche Male in die Luft, um eine Panik zu erzeugen. Dann gab er Gas und fuhr mit heulendem ersten Gang den Abschnitt entlang, sah noch ein paar Menschen sich in Häuser flüchten und bog in die Seitenstraße. Er warf die Waffe auf den Nebensitz, schaltete um, packte das Steuerrad und jagte die leere Gasse hin. Er kannte seinen Weg. Er vermied belebte Straßen. Er hatte Glück an den Kreuzungen und brauchte wenig zu stoppen. Er fuhr jetzt in normalem Tempo durch Vororte auf der südlichen Ausfallstraße. Er kam ins Freie. Der Magen schmerzte ihn und oft kam Wasser in den Mund. Er mußte schlucken und schlucken.

Er kam in den mächtigen Staatsforst im Süden der Stadt. Er bog von der Chaussee in einen Nebenweg ab, fuhr zweihundert Meter in den Wald hinein, hielt, stieg aus. Er schwankte, preßte die Fäuste gegen die Schläfen und erbrach sich. Er rauchte eine Zigarette. Er grub mit der Pistole ein Loch in den Boden und verscharrte sie. Er nahm den Koffer aus dem Wagen, legte ihn in eine kleine Mulde und verdeckte ihn mit Herbstlaub und Baumzweigen. Er schlug das Wagenverdeck zurück und warf die Seitenteile mit dem Marienglas fort. Er löste die äußere der beiden falschen Nummerntafeln, die aufeinander geklebt waren, ab und warf sie fort. Er fuhr rückwärts aus dem Waldweg heraus. Er lenkte bei der nächsten Ortschaft von der großen Nord-Südstraße ab und rollte einen Verbindungsweg zur westlichen Ausfallstraße der Hauptstadt hinauf.

So fuhr er in großem Bogen in die Stadt zurück, in westliche Villenorte einmündend. Sie waren noch ruhig und ahnungslos. In der Stadt selber standen die Menschen schon vor den Telegrammtafeln. Hin und wieder sah man Lastwagen mit Truppen und Polizisten. Hoff fuhr an den Menschen vorbei und mochte sie nicht ansehen. Er war froh, daß er sie nicht hören konnte. Er sah über den Kühler hinweg auf die Straße vor sich: lenkte, lenkte, lenkte. Er hatte Angst vor dem Augenblick, wo er den Wagen verlassen und die Erde wieder betreten mußte. Aber schon war er vor der Garage. Der Zaun stand noch offen. Er fuhr rückwärts ein und hatte in dem Moment, in dem die Dinge rechts und links und der Boden vor den Kotflügeln nicht mehr nach hinten, sondern nach vorne flossen, die tolle Angst, er würde den ganzen bösen Weg zurückgerollt. Der Wagen drückte sich ruckweise von der Straße.

Er stand jetzt, wie zu Beginn der Fahrt. Hoff starrte auf das Steuerrad, tief verwirrt.

Selbst die gelenkten Räder wollten ihn nicht mehr. Sie hatten den Kreis geschlossen. Er war überflüssig. Die rote Katze war nicht zu sehen.

Er trat, schon in der Garage, schon im Stand, einmal noch auf das Gaspedal, wie aus Wut.


 << zurück weiter >>