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Am folgenden Morgen war Harran schon um sechs Uhr auf den Beinen. Sein Frühstück nahm er in der Küche ein, da er nicht warten wollte, bis der chinesische Koch den Tisch im Eßzimmer gedeckt hatte. Er wußte, daß es heut viel für ihn zu tun geben würde, und wollte sich beizeiten an die Arbeit machen. Der tätige junge Mann bewirtschaftete, von einem Oberbeamten und drei Abteilungsverwaltern unterstützt, die große Los Muertos-Ranch; ihm lag es ob, die Pläne und Anordnungen seines Vaters auszuführen, Lieferungen abzuschließen, Rechnungen zu bezahlen und die Bücher zu führen.

Während der letzten drei Wochen hatte es nicht viel zu tun gegeben. Die Ernte war – soweit man überhaupt etwas geerntet hatte – längst eingebracht, und ihr kümmerlicher Ertrag verkauft; dann war diese lange Ruhepause gefolgt. Jetzt aber nahte der Herbst und mit ihm das Ende der trockenen Jahreszeit; vom Zwanzigsten des Monats ab waren die ersten Regen zu erwarten, die den steinharten Boden so weit erweichen sollten, daß mit dem Pflügen begonnen werden konnte. Vor zwei Tagen bereits hatte Harran den Abteilungsverwaltern auf drei und vier aufgetragen, ihm den zur Saat zurückbehaltenen Weizen zu schicken. Auf Abteilung zwei war rein gar nichts gewachsen. Auf eins, der Abteilung mit dem Wohnhause und den Hauptgebäuden, der sogenannten Heimfarm, die unter Harrans persönlicher Leitung stand, war der Saatweizen bereits abgemessen und sortiert worden. Harran beabsichtigte heut mit dem Vitriolisieren desselben zu beginnen, ein umständliches und große Vorsicht erforderndes Verfahren, das Rost und Brand bei der in die Aehren schießenden Saat verhindern sollte. Daneben wollte er aber auch noch Zeit finden, nach Guadalajara zu fahren, um seinen, mit dem Morgenzuge eintreffenden Vater abzuholen. Der Tag versprach also vielgeschäftig zu werden. Als Harran eben seinen Kaffee austrank, erschien Phelps, der Gehilfe auf der Heimfarm, der auch den Speicher für das Saatgut unter sich hatte, die Mütze in der Hand, in der auf die rückwärtige Veranda führenden Tür.

»Ich wollte wegen des Saatweizens von Vier mit Ihnen sprechen, Herr,« begann er. »Bis jetzt habe ich ihn noch nicht bekommen.«

»Ich werde danach sehen,« erwiderte Harran. »Sie haben noch genug Kupfervitriol, Phelps? Sagen Sie dem Stallmann,« fügte er hinzu, ohne eine Antwort abzuwarten, »daß ich gegen neun Uhr nach Guadalajara fahren will. Er soll die Braunen an den Buggy spannen, verstehen Sie?«

Als Phelps gegangen war, trank Harran seinen Kaffee aus und begab sich dann durch das Speisezimmer und einen glasüberdachten Vorraum in die Office Kontor, Geschäftsstube..

Die Office war das Nervenzentrum der gesamten Zehntausend Acker von Los Muertos; in ihrer Einrichtung hatte sie nichts, was an den landwirtschaftlichen Betrieb erinnerte. Mitten hindurch lief ein grün- und goldgestrichenes Drahtgitter, und hinter diesem Gitter waren die Schreibpulte mit den Geschäftsbüchern, die Kopierpresse, das Fachgestell für die Briefe, der eiserne Geldschrank und Harrans Schreibmaschine. Eine große Karte von Los Muertos mit jedem Wasserlaufe, jeder Bodenerhebung und Senkung und der genauen Angabe der Lehm- und Tonschichten sowie ihrer Tiefe hing an der Wand zwischen den beiden Fenstern; neben dem Geldschrank war das Telephon angebracht. Der am meisten auffallende Gegenstand in der Office war jedoch der Telegraphenapparat. Der schlaue, geschäftskluge Annixter hatte diese Neuerung im San Joaquin-Distrikt eingeführt; die Derricks waren sofort seinem Beispiel gefolgt, bald darauf Broderson und Osterman und noch eine ganze Anzahl der Weizenbauer in Tulare County. Die Ranchos hatten auf diese Weise direkte telegraphische Verbindung mit San Francisco und von dort aus mit Minneapolis, Duluth, Chicago, New York und – was das wichtigste war – mit Liverpool. Die Preisschwankungen auf den großen Weizenmärkten der Welt pflanzten sich mit Blitzesschnelle bis in die Offices von Los Muertos, Quien Sabe, der Broderson- und Osterman-Ranch fort. Während der großen Beunruhigung der Chicagoer Weizenbörse im August ebendieses Jahres, die bis in San Francisco gespürt worden war, hatten Harran und Magnus fast die ganze Nacht hindurch den weißen Papierstreifen beobachtet, wie er sich in unregelmäßigen Rucken von der Spule abhaspelte. In Augenblicken gespanntester Aufmerksamkeit hatten sie das Gefühl der eignen Persönlichkeit völlig verloren. Der Rancho Los Muertos schrumpfte dann zu dem winzigen Teile eines riesigen Ganzen zusammen, von dem zu einer ungeheuren Masse vereinigten Weizenlande der ganzen Welt bildete er nur eine kleine Einheit, die alle Wirkungen Tausende von Meilen entfernter Ursachen mitfühlte – eine Dürre in den Prärien Dakotas, Regengüsse in den Ebenen Indiens, Frost, der die Steppen Rußlands erstarren machte, oder den heißen, über die Llanos der argentinischen Republik wehenden Wind.

Harran ging zum Telephon und läutete sechsmal, womit er das Signal für den Abteilungsverwalter auf vier gab. Sein Haus stand am weitesten von der Heimfarm entfernt, ganz allein auf dem südwestlichsten Zipfel des Ranchos, dicht am Grenzzaun; nur selten kam jemand zu dieser einsamen Wohnstätte, die sich als ein vereinzelter Punkt in der weiten Fläche verlor. Die Entfernung von dort bis zur Office betrug auf dem Fahrwege elf, auf dem über Hoovens Farm und den »Unteren Weg« führenden Pfade neun Meilen.

»Wie ist's mit dem Samen?« fragte Harran, als Cutter sich auf seinen Anruf meldete. Der Abteilungsverwalter entschuldigte sich wegen einer unvermeidlichen Verzögerung und fügte hinzu, daß er sich eben hätte auf den Weg machen wollen. Harran ließ ihn nicht ausreden. »Kommen Sie auf dem Pfade hierher,« rief er. »Das spart Zeit – ich hab's nämlich eilig. Legen Sie Ihre Säcke den Pferden auf den Rücken. Und, Cutter, wenn Sie Hooven treffen, so sagen Sie ihm, daß ich ihn brauche, und sehen Sie im Vorbeireiten doch auch mal nach dem Bewässerungsgraben. Ueberzeugen Sie sich, wie die Arbeit fortschreitet, und fragen Sie Billy, ob er irgendwas braucht. Sagen Sie ihm, wir erwarteten die neuen Schaufeln morgen oder übermorgen – bis dahin muß er sich behelfen! Wie geht's auf vier? ... Schön! Uebergeben Sie Phelps Ihren Saatweizen, wenn ich nicht mehr hier sein sollte. Ich will nach Guadalajara und den Governor abholen. Wir haben übrigens den Prozeß verloren. Der Governor schrieb mir's gestern ... ja, wir haben Pech gehabt! S. Behrman war uns über. Gut, adieu, und verlieren Sie keine Zeit mit dem Weizen! Ich will heut vitriolisieren.«

Harran läutete ab, nahm seinen Hut und ging hinüber nach dem Speicher, wo er Phelps bei der Arbeit traf. Der hatte eben das Faß, in dem das Kupfervitriol aufgelöst werden sollte, gereinigt und sortierte jetzt noch einmal das Saatgut. Eine Reihe voller Säcke stand hinter ihm an der Wand. Harran durchschnitt die den Verschluß bildende Schnur und untersuchte genau den Inhalt der Säcke. Ganze Hände voll Weizen ließ er durch die Finger laufen; hin und wieder brach er ein Korn, um dessen Härte zu prüfen, zwischen den Fingernägeln.

Das Saatgut bestand ausschließlich aus den hellen, mit großer Sorgfalt ausgewählten Weizensorten; die Körner waren hart und schwer und förmlich geschwollen von Stärkemehl.

»Wenn all unser Weizen so wäre, Herr!« bemerkte Phelps.

»Brot würde dann ebenso gut wie Kuchen sein,« entgegnete Harran, der von Sack zu Sack ging, den Inhalt prüfte und die Aufschriften der Anhängsel an den Oeffnungen nachsah.

»Hallo,« rief er plötzlich, »hier ist ein roter Weizen! Wo ist der her?«

»'s ist der rote Clawson, den wir auf das Stück von vier säten, nördlich vom Missionsbach. Wir wollten mal sehen, wie er sich machte. Viel haben wir nicht davon gehabt.«

»Wir können nichts Besseres tun als bei dem weißen Sonora und Propo bleiben,« erwiderte Harran. »Damit haben wir die besten Erträge gehabt, und die europäischen Müller mischen ihn gern mit den östlichen Weizen, die mehr Kleber haben als unsre. Das heißt, wenn wir nächstes Jahr überhaupt Weizen haben.«

Ein Gefühl von Mutlosigkeit hatte ihn plötzlich erfaßt. Es kam von Zeit zu Zeit über Harran; für den Augenblick überwältigte es ihn geradezu. In solchen Momenten drängte sich ihm immer die Frage auf: Wozu plagen wir uns? Alles schien zusammenzuwirken, um den Weizenpreis immer mehr herabzudrücken. Der Anbau wuchs in einem viel größeren Maßstabe als der Verbrauch; von Jahr zu Jahr verschärfte sich die Konkurrenz. Der Gewinn des Farmers war der Gegenstand eines von den verschiedensten Seiten kommenden Angriffs. Es war, wie wenn sich ein Flug Geier auf eine gemeinsame Beute stürzte – die Zwischenhändler, die Elevatorengenossenschaft, der Spekulantenring der Mischspeicher, die Banken, die Lagerhäuser, die Arbeiter und vor allen andern die Eisenbahn. Immer mehr und mehr drückten die Liverpooler Käufer den Preis. Er war jetzt herunter bis auf siebenundachtzig Cents. Dafür hatte man die diesjährige Ernte losschlagen müssen. Und der Governor hatte während des türkisch-russischen Krieges den Weizen mit zwei Dollar und fünf Cents notiert gesehen!

Harran gab noch einige Anordnungen und ging dann trübgestimmt und mutlos, die Hände tief in die Taschen vergraben, zurück nach dem Wohnhause. Wohin sollte das noch führen, wenn der Preis weiter sank! Der Profit war so gering geworden, daß ein weiteres trockenes Jahr die kleineren Farmer im ganzen San Joaquin-Distrikt bankerott machen mußte. Harran kannte den allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang während der letzten zwei Jahre aus persönlicher Erfahrung. Waren doch die eigenen Pächter auf Los Muertos in einer geradezu verzweifelten Lage. Magnus Derrick mußte Hooven und einige andre tatsächlich durchfüttern. Er selbst hatte heuer so gut wie nichts verdient; ein weiteres schlechtes Jahr mit beständig zurückgehenden Preisen mußte ihn unbedingt zugrunde richten. Das ist aber wohl nicht anzunehmen, dachte Harran sich besinnend. Zwei trockene Jahre hintereinander hatte es in Kalifornien bis jetzt kaum gegeben, ein drittes war daher so gut wie ausgeschlossen, und dann würde der nächsten Ernte auch die Ruhe zugute kommen, die der größte Teil des Weizenlandes gehabt hatte. Wohl hatte man nichts verdient, aber auch nichts verloren. Auf der Ranch lasteten gottlob keine Hypotheken; ein einziges gutes Jahr würde den Ausfall reichlich wieder wettmachen.

Harrans Stimmung hatte sich wesentlich gebessert, als er den zum Wohnhause führenden Fahrweg betrat und das Gebäude selbst vor sich sah; der Anblick seines Heims heiterte ihn auf. Das Ranchhaus von Los Muertos lag inmitten eines Hains großer, schöngewachsener Eichen, Zypressen und Eukalyptusbäume; der Rasen, über den sie ihre Kronen breiteten, war ebenso frisch und gut gehalten wie in irgendeinem städtischen Garten. Der Lieblingsaufenthalt der Familie war die dem größeren Teil dieser Rasenfläche zugekehrte Seite des Hauses; die andre, mit dem Ausblick auf die Felder der Heimfarm, die Eisenbahn und Bonneville, wurde nur wenig benutzt. Die ganze Front entlang lief eine breite Veranda; dicht an den zum Garten herabführenden Stufen stand eine Lebenseiche, in deren unterste Zweige Harran eine kleine Sommerlaube für seine Mutter hineingebaut hatte. Links vom Wohnhause, nach der Countystraße zu, stand ein Gebäude mit Küche und Schlafräumen für die auf der Heimfarm beschäftigten Arbeiter. Der Blick von der Veranda nach Süden hin war unbegrenzt; auch nicht der kleinste Zweig beschränkte die Aussicht. Durch nichts gehindert schweifte das Auge bis zu der fernen, feinen Linie, in der Erde und Himmel sich zu vereinigen schienen. Aus der Einförmigkeit dieser endlosen, von Zäunen nicht unterbrochenen Fläche hob sich als ein bloßer Punkt, und nur wenig dunkler als das Erdreich, das Dach des Verwalterhauses von Abteilung drei. Cutters Hans auf vier war nicht zu sehen; es lag bereits unter dem Horizont.

Als Harran näherkam, bemerkte er seine Mutter, die auf der Veranda frühstückte; mit einer Hand rührte Frau Derrick ihren Kaffee um, mit der andern hielt sie die Seiten von Walter Paters »Marius« offen. Zu ihren Füßen saß Prinzeß Natalie, die weiße, überfütterte Angorakatze, und leckte emsig das glänzende Fell an ihrer Brust; dicht daneben, an der Verandabrüstung, hantierte Presley mit einer neuen Fahrradlampe, die er mit Oel füllte, um dann an dem Docht herumzuschrauben. Harran, der seine Mutter geküßt hatte, ließ sich in einem Stuhl aus Weidengeflecht nieder, nahm den Hut ab und fuhr mit den Fingern durchs Haar.

Magnus Derricks Frau sah kaum alt genug aus, um die Mutter zwei solch großer Gesellen wie Harran und Lyman Derrick sein zu können. Sie war noch nicht weit in den Fünfzigern, und ihr braunes Haar hatte sich seinen jugendlichen Glanz bewahrt. Sie konnte noch als eine hübsche Frau gelten. Ihre großen Augen nahmen leicht einen fragenden, unschuldigen Ausdruck an, wie man ihn bei jungen Mädchen sehen kann. Von Natur zurückhaltend, liebte sie es, möglichst unbemerkt zu bleiben. Sie war nicht für die Härten der Welt geschaffen, und doch hatte sie diese Härten in ihren jüngeren Jahren kennen gelernt. Mit einundzwanzig Jahren hatte sie Derrick geheiratet; sie war damals, nachdem sie bereits vor einigen Jahren ihr Lehrerinnenexamen an der staatlichen Normalschule gemacht hatte, in der Stadt Marysville an einer Mädchenschule als Lehrerin für Literatur, Musik und Schönschreiben angestellt. Sie überarbeitete sich in ihrem Beruf, der ihr noch dazu verhaßt war; aber sie hielt hartnäckig daran fest, da sie sich sehr wohl bewußt war, ihren Lebensunterhalt auf keine andre Weise erwerben zu können. Beide Eltern waren gestorben, und sie stand ganz allein. Von jeher war es ihr Herzenswunsch gewesen, Italien und den Golf von Neapel zu sehen. Der »Marmorfaun«, Raffaels Madonnen und »Il Trovatore« waren ihre Ideale in Literatur und Kunst. Sie träumte von Italien, Rom, Neapel und den großen »Kunstzentren« der Welt. Ihre Verbindung mit Magnus war zweifellos eine Liebesheirat gewesen, aber Annie Payne würde jeden andern Mann geliebt haben, der sie von dem ewigen, geist- und herztötenden Einerlei des Schul- und Musikzimmers befreit hätte. Ohne Bedenken war sie Magnus überallhin gefolgt. Zuerst hatte sie die ganze unruhige Zeit seiner politischen Laufbahn mit ihm in Sacramento verbracht; dann war das Paar nach Placerville in El Dorado County gegangen, wo Derrick einen Anteil an der Corpus Christi-Minengruppe besaß, und schließlich nach Verkauf dieses Viertelanteils nach Los Muertos. Dort ließ er sich als Landwirt auf dem von der Eisenbahn eben erschlossenen Weizenlande nieder. Annie Derrick lebte jetzt seit nahezu zehn Jahren in Los Muertos. Während dieser ganzen Zeit aber, seitdem ihr Blick sich zum erstenmal in der ungeheuren, einförmigen Fläche verloren hatte, war ihr auch nicht ein Augenblick ruhiger Zufriedenheit beschieden gewesen. Immer wieder kam in ihre schönen, weitgeöffneten Augen ein unruhiger, scheuer, argwöhnischer Ausdruck. Los Muertos flößte ihr Furcht ein. Sie dachte zurück an die Tage, die sie als ganz junges Mädchen auf einer Farm im östlichen Ohio zugebracht hatte; die fünfhundert Acker waren nett abgeteilt in die Wiese mit der Viehtränke und das Mais-, Gersten- und Weizenfeld. Wie übersichtlich, bequem und heimisch das doch gewesen war! Dort liebten die Farmer noch ihr Land, sie taten schön damit, sie gaben ihm Nahrung, beinahe wie ein bewußtes Wesen behandelten sie es. Da wurde noch mit der Hand gesät, und ein einziger Pflug mit zwei Pferden genügte für die ganze Farm; mit der Sense mähte man das Getreide und drosch es mit den Dreschflegeln aus.

Der neuzeitliche Betrieb aber – eine nur vom Horizont begrenzte Ranch, ein Besitz, der sich so weit das Auge reichte, nach allen Himmelsrichtungen ausdehnte, ein von Eisen und Dampf beherrschtes Fürstentum, dem man Erträge bis zu dreimalhundertfünfzigtausend Bushel ein Hohlmaß von zirka 36½ Liter. abpreßte, ein Land, aus dem, selbst wenn es abgeerntet, ungepflügt und ungeeggt ruhte, Weizen hervorschoß – alles das beunruhigte sie und flößte ihr zeitweise sogar ein unerklärliches Grausen ein. Diese großen Verhältnisse erschienen ihr ungeregelt, ja fast unnatürlich. Die brutale Tatsache von zehntausend Acker Weizen, nichts als Weizen, so weit man sehen konnte, betäubte sie. Die ehemalige Schreiblehrerin der höheren Töchterschule mit den schönen Rehaugen und den zarten Fingern entsetzte sich davor. Sie mochte so viel Weizen nicht sehen; verband sie doch mit dem Anblick dieser Massen von Getreide, das ganze Völker ernährte und hier voll ursprünglicher Natur- und Lebenskraft in der ganzen unbewußten Nacktheit eines ruhenden Riesen der Urzeit von den Strahlen der Sonne überflutet wurde, die unbestimmte Vorstellung von etwas Unflätigem.

Stunde auf Stunde, Jahr auf Jahr nagte ihr die Einförmigkeit des Ranchlebens am Herzen. Würde sie wohl je Rom, Italien und den Golf von Neapel zu sehen bekommen? Magnus hatte versprochen, mit ihr zu reisen, sobald alles auf der Ranch glatt gehen würde. Er mußte sie aber immer wieder vertrösten – bald aus diesem, bald aus jenem Grunde. Die Maschine lief noch nicht von selbst; er mußte noch seine Hand auf dem Regulierhebel haben. Nächstes Jahr vielleicht würde es sich ermöglichen lassen, wenn der Weizen auf neunzig stiege oder reichlicher Regen fiele. Sie drang nicht auf Erfüllung des Versprechens. Unbemerkt, unbeachtet wollte sie sein; nur hin und wieder suchten ihre schönen fragenden Augen die des Gatten. Ein stilles Innenleben führend, umgab sie sich mit Büchern. Ihr Geschmack war von der Feinheit eines Spitzengewebes. Austin Dobson wußte sie auswendig. Noch immer befangen in dem Gedankenkreise der Marysviller Töchterschule, las sie Gedichte und Essays. »Marius der Epikureer«, die Abhandlungen von Elias, »Sesam und Lilien«, »Die Steine von Venedig« sowie die kleinen, von den weichlichen Banalitäten der »jüngeren Dichter« strotzenden Musenalmanache waren immer in ihren Händen.

Sie war glücklich, als Presley nach Los Muertos kam. In ihm hoffte sie endlich eine verwandte Seele zu finden. Ueber Literatur, Kunst, Ethik würde sie sich mit dem jungen Manne aussprechen können. Presley aber enttäuschte sie. Daß er – mit Ausnahme der wenigen von ihm anerkannten Gottheiten – sich nicht viel um Literatur kümmerte, verletzte sie unsäglich. Seine Gleichgültigkeit gegen »formvollendeten Stil«, gegen elegantes Englisch war eine tatsächliche Beleidigung. Wenn Presley die gekünstelten, phrasenhaften Rondos, Sestinen und Chansons der Musenalmanache maßlos schmähte und lächerlich machte, so beging er ihrer Meinung nach eine ebenso boshafte wie unbegründete Grausamkeit. Sie fand seinen Homer mit all den Schlächtereien und Hekatomben, den barbarischen Festgelagen und ungebändigten Leidenschaften roh und gemein. Es war ihr unerklärlich, wie er in dem Leben hier etwas wie Romantik und Poesie zu sehen vermochte; dergleichen konnte sie nur von Italien erwarten. Nur einmal hatte er versucht, ihr zu erklären, wie er sich seinen »Sang vom Westen« dachte; in leidenschaftlicher Erregung und ohne Zusammenhang hatte er auf sie eingesprochen. Das ungestüm hastende Leben aber, das er in seiner ganzen Wahrheit, seiner Größe und Wildheit, seinem Heldentum und seiner Verruchtheit schildern wollte, wirkte abstoßend und empörend auf sie.

»Aber Presley,« murmelte Frau Derrick, »das ist nicht literarisch«.

»Nein,« hatte er zwischen den zusammengepreßten Zähnen hervorgestoßen, »das ist's gottlob nicht!«

Zur bestimmten Zeit brachte einer der Stalleute den Buggy und die Braunen bis vor die Verandastufen. Harran wechselte den Rock, setzte einen schwarzen Hut auf und fuhr davon nach Guadalajara.

Der Morgen war schön, und der Himmel zeigte nicht ein Wölkchen. Als Harran aber von dem das Haus umgebenden Hain in den »Unteren Weg« eingebogen war und, durch nichts am freien Ausblick gehindert, prüfend nach dem Himmel und den in der Ferne dämmernden Hügeln jenseits der Quien Sabe-Ranch blickte, bemerkte er einen für sein erfahrenes Auge nicht mißzuverstehenden feinen Schleier über der Landschaft. Der erste Herbstregen konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen. »Das ist gut,« murmelte Harran. »Hätten wir nur erst unsre Pflüge!«

Magnus Derrick hatte diese Pflüge bereits vor einigen Monaten bei einer Fabrik im Osten bestellt, da er mit den bisher von ihm gebrauchten, in Bonneville angefertigten nicht zufrieden war. Es verging einige Zeit, ehe sie abgesandt werden konnten; ganz unglaubliche und höchst verdrießliche Verzögerungen waren aber unterwegs eingetreten. Magnus und Harran hatten bestimmt darauf gerechnet, die Pflüge allerspätestens diese Woche in ihren Gerätschuppen zu haben; ein nach der säumigen Fracht abgeschickter Laufzettel hatte sie endlich unterwegs zwischen The Needles und Bakersfield aufgespürt. Nun würde es sehr wahrscheinlich noch diese Woche regnen. Unmittelbar darauf, sobald der Boden genügend erweicht war, konnte gepflügt werden. Ließen die ersehnten Pflüge noch länger auf sich warten, so verzögerte sich die Ackerbestellung, und es ging kostbare Zeit verloren.

Harran erreichte den Bahnhof von Guadalajara zehn Minuten vor Ankunft des Zuges. Von dem Bahnhofsvorsteher erstand er eine mit einem früheren Zuge eingetroffene San Franciscoer Zeitung, die er überflog, bis ein ferner, langgedehnter Pfiff die Ankunft des Zuges meldete.

Harran, der in einem der vier aussteigenden Fahrgäste sofort seinen Vater erkannte, stand halb von seinem Sitze auf und machte sich durch einen schrillen Pfiff und Winken mit der Hand bemerklich; rasch schritt der Vater auf ihn zu.

Magnus – der Governor – war sechs Fuß hoch und hielt sich, obgleich er bereits im sechzigsten Lebensjahre stand, grade und aufrecht wie ein Reiteroffizier. Von schlanker und doch kräftiger Gestalt mit breiten Schultern, war er eine höchst stattliche, achtunggebietende Erscheinung: sein ganzes Wesen machte den Eindruck von Würde, Ernst und einem gewissen aristokratischen Selbstgefühl. In dem glattrasierten Gesicht mit den dünnen Lippen und dem breiten Kinn saß eine scharfgeschnittene Adlernase. Sein dichtes eisengraues Haar hatte die Neigung, sich an den Schläfen nach vorn zu kräuseln. Er trug einen grauen Zylinderhut mit flachem breitem Rande, zweireihigen schwarzen Gehrock und einen Stock mit gelblichem Elfenbeinknopf.

Als junger Mann hatte er den Ehrgeiz gehabt, seinen Heimatstaat – Nord-Carolina – im Senat der Vereinigten Staaten zu vertreten; er war jedoch in zwei aufeinanderfolgenden Wahlkampagnen seinem Gegner unterlegen. Darauf ging er, da ihm ein weiterer Versuch, in die politische Laufbahn zu gelangen, aussichtslos erschien, in den fünfziger Jahren nach Kalifornien. Dort wurde er der vertraute Freund von Männern wie Terry, Brodrick, General Baker, Lick, Alvaredo, Emerich, Larkin und vor allen Ralston, des vom Mißgeschick verfolgten und unverstandenen Ralston. Er wurde auch einmal als demokratischer Kandidat für den Gouverneurposten aufgestellt, ohne jedoch gewählt zu werden. Danach gab Magnus alle politischen Bestrebungen endgültig auf und legte sein ganzes Vermögen in den Corpus Christi-Minen an. Nachdem er dann seinen Anteil mit geringem Nutzen losgeschlagen und damit die unmittelbar nach dem Verkauf eintretende Gelegenheit verpaßt hatte, ein vielfacher Millionär infolge des unter der Bezeichnung » Comstock boom« berühmt gewordenen plötzlichen Aufschwunges der Minenwerte zu werben, sah er sich nach einer neuen Kapitalsanlage um. Da verbreitete sich mit einem Male eine überraschende Nachricht: Weizen war in Kalifornien »entdeckt« worden. Es war tatsächlich eine Entdeckung. Doktor Glenns erster Versuch mit Weizen in Colusa County, der in aller Stille unternommen wurde und in der bekannten, eine geradezu dramatische Wirkung hervorrufenden Weise glückte, erregte im neuen Westen die Aufmerksamkeit aller auf die Entwicklung des Landes bedachten Männer. Unangekündigt trat Kalifornien plötzlich ein in den Wettbewerb auf den Weizenmärkten der Welt. In wenigen Jahren stellten seine Weizenernten einen größeren Wert dar als die Goldgewinnung. Als dann die Pazifische und Südwest-Eisenbahn die fruchtbaren Ländereien in Tulare County zur Besiedlung ausbot, die der Gesellschaft als Prämie für den Bahnbau von der Regierung überlassen waren, hatte Magnus sofort diese Gelegenheit ergriffen und die zehntausend Acker von Los Muertos angekauft. Seine Familie hatte ihn überallhin begleitet. Lyman war in Sacramento geboren worden inmitten all der Unruhe und Aufregung während der Wahlkampagne seines Vaters für den Gouverneurposten, Harran sechs Jahre später in Shingle Springs in El Dorado County.

Magnus war durchaus »ein Prominenter« – der sich über den Durchschnitt weit erhebende Mann. In allen Kreisen spielte er die Hauptrolle. Unbewußt sahen seine Mitbürger in ihm ihren Führer. Er selbst war stolz auf die ihm stillschweigend eingeräumte, hervorragende Stellung und hatte eine ihm wohl anstehende, würdevolle Art, sich zu geben. Die Sprache der Rednerbühne übertrug er sogar in sein Privatleben. Alles, was er selbst in der ungezwungensten Unterhaltung aussprach, hätte, wie man sagte, nach stenographischer Niederschrift sofort als bewundernswertes Muster von reinstem, wohlgewähltem Englisch vorgelesen werden können. Er liebte es, alles im großen zu tun, an der Spitze zu stehen, zu herrschen. Bei guter Laune hatte er etwas von der heiteren Majestät eines Jupiter. War er zornig so zitterte alles vor ihm. Er hatte weder Sinn für Einzelheiten noch Geduld. Seine alles Kleinliche verabscheuende, zu verschwenderischer Freigebigkeit neigende Herrennatur war mehr auf die Ergebnisse als auf die zu diesen führenden Mittel bedacht. Er war immer bereit, sein Glück zu wagen und alles einzusetzen in der Hoffnung auf ungeheuern Gewinn. In den alten Goldgräberzeiten zu Placerville war er weit und breit der gefürchtetste Pokerspieler gewesen. Mit seinen Minen hatte er ebensoviel Glück wie beim Spiel gehabt; trotzdem er gegen alle Regeln der Erfahrung und Wissenschaft seine Schächte abteufte und seine Tunnels trieb, so stieß er doch stets auf das kostbare Metall. Ohne es zu wissen, ließ er sich bei der Bewirtschaftung seiner Ranch von denselben Grundsätzen leiten wie ehedem bei der Ausbeutung seiner Minen. Der alte wagehalsige Geist von 1849, der sich um keine von der Erfahrung und Wissenschaft festgesetzte Regeln kümmerte, beherrschte ihn noch immer. Alles war ein Glücksspiel –, wer den größten Einsatz tat, hatte auch die größte Chance, den größten Gewinn einzuheimsen. Den Gedanken, sein Land zu düngen, haushälterisch zu wirtschaften und die großen Hilfsquellen von Los Muertos richtig auszunutzen, würde er als von kleinlichem, jüdischem Geiz eingegeben verächtlich von sich gewiesen haben.

Magnus stieg in den Buggy, wobei er sich der Hand Harrans, die er nicht losgelassen hatte, als Stütze bediente. Vater und Sohn liebten sich ungemein und waren stolz aufeinander. Sie waren stets zusammen, und Magnus hatte keinerlei Geheimnisse vor seinem Lieblingssohn.

»Nun, wie geht's, mein Junge?«

»Danke, gut, Governor!«

»Es freut mich, daß du selbst gekommen bist, Harran. Ich fürchtete schon, du würdest zu beschäftigt sein und Phelps schicken. Du hast gut getan.«

Harran wollte darauf erwidern; im selben Augenblick aber bemerkte Magnus die drei flachen, offenen, mit buntbemalten Ackergeräten beladenen Güterwagen, die noch immer oberhalb der Station auf dem Nebengleise standen. Er legte seine Hand auf die Zügel, und Harran hielt das Gespann an.

»Harran,« sagte Magnus, der, die Stirn runzelnd, scharf nach den Ackergeräten hinblickte, »diese Pflüge sehen fast so aus, als ob es die unsern sein könnten. Fahre hinüber, Sohn.«

Der Zug hatte inzwischen die Station verlassen, und Harran konnte nach dem Nebengleise fahren.

»Ah, ich hatte recht,« sagte der Governor. »Magnus Derrick, Los Muertos, Bonneville, von Ditson & Co., Rochester. Es sind unsre Pflüge, Sohn.«

Erleichtert atmete Harran auf. »Endlich!« erwiderte er. »Und grade noch zur rechten Zeit. Es wird regnen, ehe die Woche um ist. Da ich grade hier bin, will ich Phelps telefonieren, sofort die Wagen zur Abholung herzuschicken. Ich hab' heut mit dem Vitriolisieren angefangen.«

Mit würdevollem Nicken gab Magnus seine Billigung zu erkennen. »Du hast gut getan, Sohn. Was den Regen betrifft, so glaube ich, daß du recht haben wirst. Wir werden zeitig mit der Ackerbestellung beginnen können. Die Pflüge sind in der Tat zu guter Stunde angekommen.«

»Für uns bedeutet's Geld in unsre Tasche,« bemerkte Harran.

Eben als er das Gespann etwas zur Seite wandte, um dem Vater das Einsteigen zu erleichtern, wurden beide durch den Klang einer fetten, heiseren Stimme überrascht, die ihnen guten Morgen wünschte. Sie wandten sich um und sahen S. Behrman vor sich, der unbemerkt herangekommen war, während sie die Pflüge besichtigten. Bei seinem Anblick begannen Harrans Augen zu funkeln; scharf zog er die Luft durch die geblähten Nüstern ein. Magnus, der noch nicht eingestiegen war, richtete sich zu seiner vollen Höhe auf und blickte steifnackig und abweisend über die Rücken der Pferde nach dem auf der andern Seite des Gespanns stehenden Behrman. Der aber ging unbefangen um den Buggy herum und trat auf Magnus zu.

S. Behrman war ein schwerer, fetter Mann mit vorstehendem Hängebauch. Hals und Wangen, glatt rasiert und bläulich schimmernd, liefen zusammen in einen mächtigen, wabbeligen Kehlbraten; eine mit dünnem Haar bewachsene Fettwulst quoll über den Hinterrand seines Halskragens. Den Mund bedeckte ein dichter, schwarzer Schnurrbart. Der Dicke trug einen steifen glänzend braun lackierten Strohhut mit nach oben abgerundetem Kopfteil. Den Hängebauch umspannte eine mit unzähligen ineinandergreifenden Hufeisen gemusterte, braunleinene Weste; die schwere, großgliedrige Uhrkette hob und senkte sich mit den schnaufenden, kurzen Atemzügen und klirrte leise gegen die Westenknöpfe von falschem Perlmutter. S. Behrman war der Bankier von Bonneville. Er war aber noch vieles andre. Er war Land- und Heimstättenagent. Er kaufte Weizen; er machte Hypothekengeschäfte. Er war eines der politischen Parteihäupter der Stadt, vor allem andern aber war er der Vertreter der Pazifischen und Südwest-Bahn in Tulare County. Ohne ihn tat die Eisenbahn so gut wie nichts in seinem Bezirke. Mochte es sich um Weizenfrachten oder Ueberweisungen von Gütern, um die Prozeßführung in einer Schadenersatzklage oder selbst um Wegerechtsangelegenheiten handeln – überall hatte er die Hand im Spiele. Während der ganzen Dauer des von den Ranchbesitzern des County gegen die Eisenbahn geführten Weizentarifprozesses war er viel in den Gerichtshöfen von San Francisco und deren Umgebung sowie in der Vorhalle des gesetzgebenden Körpers zu Sacramento gesehen worden. Vor kurzem erst, seitdem die Entscheidung gegen die Ranchbesitzer so gut wie feststand, war er wieder nach Bonneville zurückgekehrt. Der Platz, den er auf der Gehaltsliste der Pazifischen und Südwest-Eisenbahn einnahm, konnte nicht ohne weiteres bestimmt werden; denn er war weder Fracht- noch Passagieragent, weder Anwalt noch Grundstückmakler oder politischer Handlanger in den Diensten der Bahn; trotzdem übte er in allen diesen Aemtern einen ebenso zweifellosen wie außerordentlichen Einfluß aus. Die Ranchbesitzer in der Umgegend von Bonneville wußten nur zu gut, wer ihnen alle die großen Unannehmlichkeiten bereitete, mit denen sie zu kämpfen hatten. Es war eine unbestrittene Tatsache, daß für Osterman, Broderson, Annixter und Derrick die Eisenbahn und S. Behrman eins waren.

»Guten Morgen, Herr Derrick,« rief der Dicke auf die beiden zutretend. »Guten Morgen, Harran. Es freut mich, Sie wieder hier zu sehen, Herr Derrick.« Er hielt die fette Hand zum Gruße hin. Magnus, hochaufgerichtet und schlank, blickte von oben auf S. Behrman herab, den er um Kopfeslänge überragte, ohne die ausgestreckte Hand zu sehen. »Guten Morgen,« erwiderte er und wartete darauf, daß der andre weiterreden würde.

»Herr Derrick,« fuhr S. Behrman fort, während er sich mit dem Taschentuch über den schwitzenden Nacken fuhr, »ich sah gestern in der Zeitung, daß Sie den Prozeß gegen uns verloren haben.«

»Für Sie, dächt' ich, ist das keine große Neuigkeit gewesen,« stieß Harran mit dunkelrotem Gesicht hervor. »Wie Sie das erstemal mit Ulsteen zusammen waren, da werden Sie schon gewußt haben, nach welcher Seite er fallen würde. Sie lieben keine Ueberraschungen in solchen Sachen, S. Behrman.«

»Sie wissen das besser, Harran,« erwiderte Behrman freundlich. »Ich verstehe, was Sie damit sagen wollen, aber es fällt mir nicht ein, ärgerlich zu werden. Ich wollte Ihrem Governor sagen – ich wollte Ihnen, Herr Derrick, sagen – als Mann zu Mann – von dem Umstand, daß wir Prozeßgegner waren, sehe ich für den Augenblick ab –, daß es mir leid tut, daß Sie nicht gewonnen haben. Auf Ihrer Seite ist gut gegen uns angekämpft worden, – aber in einer irrtümlichen Auffassung. Davon kommen alle die Unzuträglichkeiten. Ja, Sie mußten sich doch sagen, ehe Sie sich überhaupt in den Prozeß einließen, daß derartige Frachtsätze gleichbedeutend mit Beschlagnahme unsers Eigentums sind. Sie müssen uns – Sie müssen der Eisenbahn eine angemessene Verzinsung des Anlagekapitals zubilligen. Sie wollen uns doch nicht dem Konkursverwalter ausliefern, Herr Derrick, – das wollen Sie doch nicht?«

»Die Eisenbahnkommission ist gekauft worden,« bemerkte Magnus scharf, in dessen Augen es wetterleuchtete.

»Ein abgekartetes Spiel war's!« rief Harran. »Untereinander habt ihr ausgemacht, daß die Kommission den Tarif weit unter irgendwie annehmbare Frachtsätze herunterschrauben sollte, – das wäre dann ebensogut wie Konfiskation gewesen. Mag Ulsteen euer Werkzeug sein oder nicht, – er konnte gar nicht anders, als den Tarif auf die ursprüngliche Höhe zurückbringen.«

»Wenn Sie die Tarifsätze der Kommission erzwingen wollten, Harran,« entgegnete Behrman ruhig, »dann würden unsre Einnahmen nicht für die Betriebskosten und Gehälter ausreichen – von einem Ueberschuß zur Dividendenzahlung gar nicht zu reden – –«

»Wollen Sie mir sagen, wann die P. und S. W. jemals Dividenden gezahlt hat?«

»Der niedrigste Tarif,« fuhr S. Behrman fort, »den die Legislatur aufstellen kann, muß so sein, daß er uns die normale Verzinsung unsers Anlagekapitals sichert.«

»Schön, was ist Ihre Norm? Heraus damit! Die Eisenbahn hat darüber zuweilen ihre Privatansichten.«

»Die Gesetze des Staates,« entgegnete S. Behrman, »normieren den Zinsfuß auf sieben Prozent. Das ist für uns gut genug. Es ist kein Grund vorhanden, daß der in einer Eisenbahn angelegte Dollar sich nicht ebenso hoch verzinsen sollte wie der von einem Schuldschein repräsentierte – mit sieben Prozent. Wenn wir Ihren Tarif annehmen müßten, würden wir nicht einen Cent verdienen; wir würden bankerott.«

»Verzinsung Ihres Anlagekapitals!« platzte Harran wütend heraus. »Schöne Redensarten sind das über normale Verzinsung! Ich weiß und Sie wissen, daß der Totalertrag der P. und S. W. auf den Haupt-, Neben- und gepachteten Linien während des letzten Jahres sich auf neunzehn bis zwanzig Millionen Dollars belief. Wollen Sie behaupten, daß zwanzig Millionen Dollars die siebenprozentige Verzinsung des ursprünglichen Anlagekapitals sind?«

S. Behrman breitete lächelnd seine Hände aus. »Das war der Brutto-, nicht der Nettoertrag, – und was können Sie von dem Betrage des ursprünglichen Anlagekapitals wissen!«

»Ah, das ist's ja eben,« schrie Harran mit funkelnden Augen und jedes Wort mit einem Faustschlag aufs Knie bekräftigend, »Ihr sorgt verdammt gut dafür, daß keiner von uns etwas von dem ursprünglichen Anlagekapital erfährt. Aber wir wissen, daß ihr Aktien für den dreifachen Wert der Bahn ausgegeben habt. Und ferner wissen wir, daß die Bahn für vierundfünfzigtausend Dollar die Meile gebaut werden konnte, während ihr sagt, daß sie euch siebenundachtzigtausend kostet. Es macht einen Unterschied, S. Behrman, auf welche von beiden Zahlen ihr eure sieben Prozent basiert.«

»Alles das mag von Hartnäckigkeit zeugen, Harran,« sagte S. Behrman obenhin, »von gesundem Menschenverstand zeugt es aber nicht.«

»Ich glaube, wir dreschen leeres Stroh, meine Herren,« bemerkte Magnus. »Die fragliche Angelegenheit ist vor Gericht aufs gründlichste erörtert worden.«

»Sehr richtig,« stimmte ihm S. Behrman bei. »Es ist am besten, wenn Eisenbahn und Farmer sich verstehen und freundschaftlich vertragen. Wir sind beide aufeinander angewiesen. Ich glaube, das sind Ihre Pflüge, Herr Derrick.« S. Behrman blickte kopfnickend nach den offenen, mit Ackergerät beladenen Güterwagen.

»Sie sind an mich konsigniert,« sagte Magnus.

»Es sieht fast nach Regen aus,« bemerkte Behrman, dessen Kehlbraten in dem mittlerweile vom Schweiß aufgeweichten Kragen noch mehr hervortrat. »Ich vermute, Sie werden nächste Woche mit dem Pflügen beginnen wollen.«

»Wohl möglich,« sagte Magnus.

»Ich werde zusehen, daß Ihre Pflüge schnell befördert werden, Herr Derrick. Sie sollen mit Eilfracht durchgehen, und Ihnen soll es nichts extra kosten.«

»Was meinen Sie denn?« fragte Harran. »Die Pflüge sind hier. Wir haben nichts mehr mit der Eisenbahn zu tun. Meine Gespanne werden heut nachmittag zur Abholung hier sein.«

»Das tut mir leid,« antwortete S. Behrman, »die Wagen gehen nach Norden; sie kommen nicht von dort, wie Sie zu glauben scheinen. Die Wagen sind noch nicht in San Francisco gewesen.«

Magnus machte eine leichte Bewegung mit dem Kopf wie jemand, der sich einer bisher vergessenen Tatsache erinnert. Harran aber war die Sache unverständlich.

»In San Francisco!« wiederholte er. »Wir brauchen die Pflüge hier, – wovon reden Sie denn?«

»Na, vom Reglement natürlich!« antwortete S. Behrman. »Derartige Fracht, die von östlichen Plätzen in den Staat kommt, muß zunächst nach San Francisco gehen und von dort wieder versandt werden.«

Jetzt erinnerte sich Harran dieser Bestimmung; noch nie war er aber davon so im Innersten getroffen worden. In stummer Bestürzung lehnte er sich einen Augenblick in seinen Sitz zurück. Sogar Magnus war etwas bleich geworden. Dann aber brach Harran außer sich vor Wut los.

»Was sonst noch? Mein Gott, warum überfallt ihr uns nicht nachts in unsern Häusern? Warum stehlt ihr nicht die Uhr aus meiner Tasche und die Pferde aus dem Geschirr? Warum haltet ihr uns nicht die geladene Flinte vor die Nase? Ihr braucht dann bloß noch zu rufen: Das Geld oder das Leben! Wir lassen unsre Pflüge vom Osten her über eure Bahn kommen, aber ihr seid nicht zufrieden mit euerm Tarif für lange Fracht zwischen östlichen Plätzen und Bonneville. Ihr wollt noch den enormen Tarif für kurze Fracht zwischen Bonneville und San Francisco und wieder zurück aus uns 'rausschinden. Das soll man sich nur vorstellen! Hier ist eine Ladung Kram, der nach Bonneville konsigniert ist. Er darf aber nicht hier bleiben, o nein! Erst muß der ganze Krempel hier über Bonneville nach San Francisco gehen zum Preise von vierzig Cents per Tonne für lange Fracht, und dann wird er von San Francisco wieder nach Bonneville zurückgefahren zu einundfünfzig Cents per Tonne für kurze Fracht. Und das alles müssen wir bezahlen, oder wir bekommen unser Eigentum nicht. Hier sind die Pflüge, hier dicht neben dem Acker, auf dem sie gebraucht werden sollen, noch gerade zur rechten Zeit, und wir dürfen sie nicht anrühren. Ist das nicht wunderschön? Eine infame Komödie spielt ihr mit dieser ganzen dreckigen Geschichte.«

S. Behrman hörte ihm gelassen zu; seine kleinen Augen zwinkerten unter der fettigen Stirn, und die großgliedrige goldene Kette klirrte leise gegen die Perlmutterknöpfe seiner Weste, wenn er Atem holte.

»Es hat keinen Zweck, so loszulegen, Harran,« sagte er endlich. »Ich will für Sie tun, was ich nur kann. Ich will ja die Pflüge möglichst schnell durchexpedieren, aber ich kann das Frachtreglement nicht ändern.«

»Was wollen Sie von uns erpressen?« schrie Harran. »Wieviel wollen Sie haben? Was müssen wir zahlen, damit wir die Erlaubnis erhalten, unsre Pflüge zu gebrauchen – was ist denn Ihr Preis? So spucken Sie ihn doch aus!«

»Ich sehe, Sie wollen mich ärgerlich machen, Harran,« entgegnete S. Behrman, »aber das wird Ihnen nicht gelingen. Geben Sie den Versuch auf, junger Mann! Wie ich schon sagte, ist es das beste, wenn Eisenbahn und Farmer sich freundlich vertragen. Nur so lassen sich Geschäfte machen. Na, adieu indessen, Governor, ich muß weiter. Adieu, Harran.« Er machte sich wieder auf den Weg.

Ehe sie Guadalajara verließen, begab sich Magnus noch in einen der kleinen Kolonialwarenladen, um ein Kistchen mexikanischer Zigarren von einer besonderen Sorte, die es sonst nirgends gab, zu kaufen. Harran blieb im Buggy sitzen. Während er wartete, erschien Dyke am unteren Ende der Straße. Er sah Harran und ging auf ihn zu, um ihm die Hand zu geben. Dabei erzählte er ihm seinen Fall mit der P. und S. W. und fragte Harran, wie er über die erwartete Preissteigerung in Hopfen dächte.

»Mit Hopfen müßte was zu machen sein,« erwiderte der. »In Deutschland und im Staat New York waren während der letzten drei Jahre miserable Hopfenernten. Und da haben viele Leute den Anbau aufgegeben. Hopfen dürfte daher knapp und der Preis entsprechend hoch sein. Nächstes Jahr wird er wohl bis zu einem Dollar hinaufgehen. Gewiß, Hopfen dürfte 'ne gute Sache sein. Wie geht's der alten Dame, Dyke, und Sidney?«

»Im ganzen gut, dank' schön, Harran. Sie sind jetzt in Sacramento bei meinem Bruder. Ich hatte vor, zusammen mit meinem Bruder in das Hopfengeschäft zu gehen. Aber ich bekam heute einen Brief von ihm. Er wird die Sache wahrscheinlich nicht machen können. Er steckt noch in 'nem andern Geschäft. Tut er nicht mit – und so wird's wohl sein –, so muß ich die Sache allein machen; ich muß aber dann Geld borgen. Ich dachte mir, mit seinem und meinem Gelde zusammen würden wir genug haben, um durchzukommen, ohne daß wir auf irgendwas 'ne Hypothek aufzunehmen brauchten. Wie's aber ist, werde ich mich wohl an S. Behrman wenden müssen.«

»Verdammt will ich sein, wenn ich's täte!« rief Harran aus.

»Freilich, S. Behrman ist ein Halsabschneider,« gab der Lokomotivführer zu, »und er ist ›Eisenbahn‹ bis in die Stiefelabsätze; aber Geschäft ist Geschäft, und einen Kontrakt schwarz auf weiß muß er innehalten, und dann ist die Chance für Hopfen zu gut, um sie vorübergehen zu lassen. Ich will's versuchen, Harran. Ich kann gerade jetzt einen Vormann kriegen, der mit Hopfen genau Bescheid weiß, und wenn die Sache was Hübsches einträgt, – na, ich möchte doch Sid in ein Mädchenseminar nach San Francisco schicken.«

»Verpfänden Sie die Ernte, aber nehmen Sie keine Hypothek auf die Heimstätte, Dyke,« sagte Harran. »Und haben Sie denn auch die Frachtsätze für Hopfen angesehen?«

»Nein, noch nicht,« antwortete Dyke. »Da müßt' ich mich erst vergewissern, nicht wahr? Ich hab' übrigens gehört, daß die Fracht mäßig ist.«

»Machen Sie nur zuerst die Fracht klipp und klar mit der Eisenbahn aus,« warnte ihn Harran.

Als Magnus aus dem Laden gekommen war und wieder im Buggy saß, sagte er zu Harran: »Sohn, fahre hinüber zu Annixter, ehe wir uns auf den Heimweg begeben. Ich möchte ihn auffordern, heut abend mit uns zu speisen. Osterman und Broderson werden, wie ich glaube, kommen, und da wäre mir auch Annixters Anwesenheit erwünscht.«

Magnus war außerordentlich gastfrei. Allen seinen Nachbarn standen stets die Türen von Los Muertos offen, und oft lud Magnus seine näheren Freunde zu Tisch ein.

Auf dem Wege nach Annixters Ranch fragte Magnus, was während seiner Abwesenheit vorgegangen sei. Er erkundigte sich nach seiner Frau und der Ranch und besprach die Arbeit an dem Bewässerungsgraben. Harran teilte ihm die Neuigkeiten der letzten Woche mit – Dykes Entlassung und seine Absicht, Hopfen zu bauen, Vanamees Rückkehr, das von der Lokomotive unter den Schafen angerichtete Unglück und schließlich die Bitte Hoovens, als Pächter auf der Ranch bleiben zu dürfen. Es bedurfte nur Harrans Befürwortung, um von dem Vater die sofortige Erlaubnis für das weitere Bleiben des kleinen Deutschen zu erlangen.

»Du bist darüber besser unterrichtet als ich, Sohn,« sagte er, »was du für gut hältst, soll geschehen.«

Harran berührte die Braunen mit der Fahrgerte und ließ sie scharf austraben. Bis zum Hause Annixters war es noch eine ganze Strecke, und Harran wollte bei guter Zeit daheim sein, um noch das Vitriolisieren beaufsichtigen zu können.

»Wie geht es übrigens Lyman, Governor?« fragte er nach einer Weile.

Lyman, Magnus' ältester Sohn, hatte keinerlei Neigung für das Ranchleben gezeigt. Er ähnelte der Mutter mehr als dem Vater und hatte von ihr den Widerwillen gegen die Landwirtschaft und die Neigung für einen gelehrten Beruf geerbt. Während Harran den Ackerbau praktisch lernte, besuchte Lyman die staatliche Universität; nachdem er dort graduiert hatte, widmete er sich drei Jahre lang juristischen Studien. Allmählich entwickelte er Eigenschaften, die sein Vater in hohem Grade besaß. Die Politik fesselte ihn. Er hielt sich für einen geborenen Politiker und war auch in der Tat ein diplomatischer, zur Intrige neigender Kopf. Gewandt und von guten Umgangsformen hatte er die glückliche Gabe, sich leicht Freunde zu erwerben; vor allem aber verstand er es in einer wahrhaft genialen Weise, sich einflußreiche Männer zu verpflichten. Es war ihm bereits geglückt, zwei wichtige Aemter in der städtischen Verwaltung von San Francisco zu erhalten; er war Anwalt des Sheriffs Der sheriff ist der von den Bürgern gewählte höchste Exekutivbeamte eines politischen Bezirks. und Gehilfe des Anwalts beim Bezirksgericht geworden. Die Großzügigkeit des Charakters seines Vaters war bei ihm in hochgradige Selbstsucht umgeschlagen, mit der sich schrankenloser Ehrgeiz verband. Im Gegensatz zu Magnus, der während seiner politischen Laufbahn sich lediglich als Vertreter von Grundsätzen betrachtete, denen er Geltung verschaffen wollte, hatte Lyman nur das zu erstrebende Amt und die damit verbundene, persönliche Macht und Größe im Auge. Er gehörte zu der neuen Schule, die ihre Ziele nicht durch Reden vor gesetzgebenden Körpern und Versammlungen zu erreichen sucht, sondern durch Ausschußsitzungen, Zusammenkünfte von Parteiführern, Vergleiche und Rücksichten der Zweckmäßigkeit. Sein ganzes Streben war darauf gerichtet, dereinst tatsächlich zu werden, was der Vater nur dem Namen nach war – Gouverneur. Mit zusammengebissenen Zähnen hatte er den unerschütterlichen Vorsatz gefaßt, eines Tages den Gouverneurssessel in Sacramento einzunehmen.

»Lyman hält sich gut,« antwortete Magnus. »Ich möchte wünschen, daß er ausgesprochener in seinen Ueberzeugungen wäre und weniger zu Kompromissen neigte. Aber ich bin von dem Ernste seines Strebens überzeugt und finde in ihm ein entschiedenes Talent für Regierung und Verwaltung. Sein Ehrgeiz verdient Anerkennung; wenn er etwas mehr auf die anzuwendenden Mittel und weniger auf die Ergebnisse bedacht wäre, würde er sicherlich der ideale Diener des Volkes sein. Ich bin unbesorgt. Die Zeit wird kommen, wo der Staat stolz auf ihn sein wird.«

Als Harran in die vor Annixters Wohnhaus führende Einfahrt bog, fragte Magnus: »Ist das nicht der junge Annixter selbst dort auf der Veranda?«

Harran bejahte und fügte hinzu: »Governor, ich würde Annixter nicht allzu freundlich und dringend einladen. Ich weiß, daß er sehr gern kommt; wenn er aber glaubt, daß dir was Besonderes dran liegt, so wird er in seinem verwünschten Eigensinn alle möglichen Ausflüchte machen.«

»Darin liegt wohl etwas Wahres,« entgegnete Magnus, als Harran vor den zur Veranda führenden Stufen anhielt. »Er ist ein sonderbarer, widerhaariger, aber in mancher Hinsicht äußerst tüchtiger Mensch.«

Annixter lag gerade so, wie Presley ihn tags zuvor gefunden hatte, in seiner Hängematte: wieder las er »David Copperfield« und stopfte sich mit Backpflaumen. Er stand jedoch auf, als er Magnus sah; dabei legte er es darauf ab, daß man bemerkte, wieviel Unbehagen ihm das Aufstehen verursachte. Weitläufig schilderte Annixter sein altes Leiden; sein Magen wäre nicht besser als ein Schwammbeutel. Ob Magnus und Harran nicht absteigen und einen Trunk nehmen möchten? Irgendwo hätte er Whisky stehen.

Magnus dankte. Er sei nur vorgefahren, um Annixter zu bitten, heut abend um sieben Uhr in Los Muertos zu speisen. Osterman und Broderson würden auch kommen.

Annixter reckte sein Kinn empor und brachte sogar zu Harrans Ueberraschung sofort eine Menge Entschuldigungen vor. Wahrscheinlich fürchtete er, sich etwas zu vergeben, wenn er die Einladung so ohne weiteres annahm. Nein, er glaubte kaum, daß er kommen könnte – es würde schlechterdings nicht möglich sein. Er müßte heute abend verschiedenes erledigen. Er hätte sich mit jemand in Bonneville verabredet, dann dächte er auch daran, morgen früh nach San Francisco zu fahren, und müßte deshalb zeitig zu Bett gehen, um auszuschlafen; außer alledem wäre er ein kranker Mann, sein Magen hätte einen Knacks weg, und wenn er sich bewegte, kämen die Schmerzen wieder. Nein, sie dürften nicht auf ihn rechnen.

Magnus kannte seinen Mann und drang nicht weiter in ihn; der ganze Vormittag wäre sonst mit Hinundherreden draufgegangen. Er setzte sich wieder im Buggy zurecht, und Harran nahm die Zügel auf.

»Na,« sagte der, »Sie wissen am besten, was Sie zu tun haben. Kommen Sie, wenn's sich machen läßt. Wir speisen um sieben.«

»Ich höre, Sie wollen diesmal ganz Los Muertos allein bewirtschaften,« bemerkte Annixter in einem gewissen herausfordernden Tone.

»Wir denken daran,« entgegnete Magnus.

Annixter ließ ein spöttisches Brummen hören.

»Hat Presley Ihnen ausgerichtet, was ich ihm auftrug?« Annixter, derb, geradeaus und taktlos wie er war, hätte selbst einem Manne wie Magnus Derrick ins Gesicht gesagt: »Sie sind ein Narr!« Er kam jedoch nicht dazu, denn eben kam S. Behrman langsam in seinem einspännigen Buggy angefahren und machte auf der anderen Seite von Magnus' Gespann Halt.

»Guten Morgen, meine Herren,« sagte er und nickte den beiden Derricks zu, als ob er sie heute noch nicht gesehen hätte. »Wie geht's, Herr Annixter?«

»Was zum Teufel wollen Sie denn hier?« fragte Annixter ihn anstarrend.

S. Behrman räusperte sich und strich mit der fetten Hand über den Magen.

»O, nichts Besonderes, Herr Annixter,« erwiderte er, ohne auf den gereizten Ton des Fragers zu achten. »Ich werde Sie nur verklagen müssen, weil Sie Ihren Grenzzaun an der Bahn nicht im Stande halten. Die Schafe waren vorige Nacht auf dem Gleise – hier diesseits der langen Trestlebrücke, und haben, wie ich fürchte, unsern Oberbau stark beschädigt. Wir – die Eisenbahn – können unser Wegerecht nicht einzäunen. Das ist Sache der Farmer – wir müssen uns also an Sie halten. Ich bedaure, aber ich werde klagen müssen –«

Annixter kehrte zu seiner Hängematte zurück, streckte sich lang darin aus und sagte mit der größten Seelenruhe: »Gehen Sie zum Teufel!«

»Die Sicherheit des reisenden Publikums liegt ebenso in Ihrem wie in unserm Interesse und –«

»Sie haben doch gehört, was ich sagte? Gehen Sie zum Teufel!«

»Das alles mag von Hartnäckigkeit zeugen, Herr Annixter, aber – –«

Blitzschnell sprang Annixter auf und eilte bis an den äußeren Rand der Veranda; sein Gesicht wurde scharlachrot bis an die Wurzeln der struppigen strohgelben Haare. Zähneknirschend schrie er S. Behrman an: »Sie – Sie – ich will Ihnen sagen, was Sie sind! Sie sind ein – ein – ein Pips!«

Er hielt diesen Ausdruck für die gröbste und schwerste Beleidung. Ueber ein schlimmeres Schimpfwort verfügte er nicht.

»– – mag von Hartnäckigkeit zeugen,« wiederholte S. Behrman, der seine Phrase zu Ende bringen wollte, »von gesundem Menschenverstand zeugt es aber nicht.«

»Ich werde meinen Zaun reparieren, vielleicht werde ich ihn auch nicht reparieren,« brüllte Annixter. »Ich weiß, was Sie meinen – die wildgewordene Lokomotive letzte Nacht. Schön, Sie haben kein Recht, innerhalb des städtischen Weichbildes so toll drauflos zu fahren!«

»Wieso städtisches Weichbild? Die Schafe waren auf dieser Seite der langen Trestlebrücke.«

»Nun, das ist im Weichbilde von Guadalajara.«

»Aber, Herr Annixter, die lange Trestlebrücke ist gut zwei Meilen von Guadalajara.«

Annixter stürzte sich förmlich auf diese wundervolle Gelegenheit, einen Streit anzufangen.

»Zwei Meilen! 's ist keine fünf Viertelmeilen. Nicht einmal eine Meile ist's. Magnus hier soll entscheiden.«

»O, ich habe darüber kein Urteil,« erklärte Magnus, der sich nicht einmischen wollte.

»Jawohl, Sie wissen's! Sie wissen's ganz genau! Der dümmste Kerl weiß, wie weit es von Guadalajara nach der Trestlebrücke ist. 's ist ungefähr fünf Achtel von 'ner Meile.«

»Vom Bahnhof von Guadalajara,« bemerkte S. Behrman gelassen, »bis zum Anfang der Trestlebrücke ist's zwei Meilen.«

»Das ist 'ne Lüge, und Sie wissen, daß es 'ne Lüge ist,« schrie der über die Ruhe seines Gegners wütende Annixter. »Und ich kann's beweisen, daß es 'ne Lüge ist. Ich hab' die Entfernung auf dem oberen Wege abgeschritten, und ich weiß genau, wie schnell ich gehe und wenn ich vier Meilen in der Stunde gehen kann – –«

Magnus und Harran fuhren davon, während Annixter sich vergeblich mühte, den unerschütterlichen S. Behrman aus seiner Ruhe zu bringen.

Nachdem auch S. Behrman sich wieder auf den Weg gemacht hatte, kehrte Annixter zu seiner Hängematte zurück und verzehrte den Rest der Backpflaumen, wobei er ein neues Kapitel aus »David Copperfield« zu Ende las. Dann legte er das aufgeschlagene Buch auf sein Gesicht und schlief ein. Eine Stunde später, um die Mittagszeit, erwachte er plötzlich von seinem eignen entsetzlichen Schnarchen auf. Er richtete sich in die Höhe, rieb sich das Gesicht und blinzelte mit den verschlafenen, vom Sonnenlicht geblendeten Augen. Von dem Schlafen mit weitgeöffnetem Munde hatte er einen schlechten Geschmack auf der Zunge; stöhnend ging er nach dem Speisezimmer und mischte sich ein großes Glas Whisky und Soda, das er in drei mächtigen Schlücken austrank. Er fühlte sich jetzt, wie er meinte, besser und verspürte auch Hunger. Durch einen dreimaligen Druck auf den Knopf der an der Wand neben dem Anrichtetisch angebrachten, elektrischen Klingel gab er der in einem besonderen Gebäude befindlichen Küche das Zeichen, daß er sein Mittagessen zu haben wünschte. Dabei fiel es ihm plötzlich ein, daß möglicherweise Hilma Tree sein Essen bringen und ihn bei Tisch bedienen würde.

Auf seiner Ranch hatte Annixter auch eine kleine Molkerei eingerichtet, die gerade genug Butter und Käse für seine Leute lieferte. Das Ehepaar Tree und dessen Tochter Hilma betrieben diese Molkerei. Da es nicht immer genügend Arbeit für die drei gab, so machte sich Hilma öfters anderweitig nützlich. Sie half in der Küche und vertrat auch zwei- bis dreimal wöchentlich die Mutter bei der Hausarbeit, indem sie die Betten machte, Annixters Zimmer aufräumte und seine Mahlzeiten aus der Küche holte. Sie hatte diesen Sommer bei Verwandten in einer Stadt an der Küste zugebracht und war vor einer Woche wieder nach Hause zurückgekehrt. Annixter hatte Hilma unvermutet in der Molkerei wiedergesehen, als sie gerade Käse machte und dabei die Aermel ihrer gestärkten blauen Bluse bis an die Schultern aufgerollt hatte. Der Anblick ihrer bloßen weißen Arme, die blank, frisch und kühl in formvollendeter Rundung bis zur Schulter verliefen, machte einen ebenso lebhaften wie nachhaltigen Eindruck auf ihn. Er hätte es nicht geglaubt, daß ein solch junges Mädchen solch volle, schöne Arme haben könnte. Als er abends zu Bett gegangen war, entdeckte er zu seiner Ueberraschung, daß er an sie dachte, und am andern Morgen war es ihm zu seinem Verdruß so, als ab er von Hilmas schönen weißen Armen geträumt hätte. Da verlor er die Geduld mit sich selbst; in seiner Wut, daß ihm dergleichen im Kopf herumging, verwünschte er das ganze Weiberpack. Mit solchen Sachen seine Zeit zu vertrödeln! Er hatte seine Erfahrungen mit dem schüchternen kleinen Geschöpf aus der Handschuhreinigungsanstalt in Sacramento gemacht. Das genügte. Feminina! Blödsinn! Für so was bedankte er sich! Der Blick war ihm nicht entgangen, den ihm Hilma Tree in der Molkerei zugeworfen hatte, o nein! Aber er durchschaute sie. Ködern wollte sie ihn, war's nicht etwa so? Er wartete nur, daß sie ihm wieder vor die Augen käme. Da sollte sie was erleben! Er nahm sich vor, dieses Milchmädchen aufs rücksichtsloseste zu behandeln –, sie war ihm doch mehr als gleichgültig, sie existierte einfach nicht für ihn. Als aber Hilma am nächsten Morgen mit seinem Frühstück ins Zimmer trat, da war er wie vor den Kopf geschlagen. Er nahm seine Augen nicht vom Teller weg und hockte stumm und dumm – ein Bild hilfloser Verlegenheit – mit ängstlich an die Seiten geklemmten Ellbogen auf seinem Stuhle.

Als überzeugter Weiberhasser sah er auf Hilma, die doch ein Weib war und auch im übrigen, wie er meinte, tief unter ihm stand, mit doppelter Verachtung herab. Am wütendsten war er auf sich selbst wegen seiner albernen Blödheit in ihrer Nähe. Zuerst hatte er sich einen Narren gescholten, daß er nicht mehr wie bisher imstande war, von Hilma keine Notiz zu nehmen, in der Folge aber nannte er sich einen noch größeren Narren, weil er den Vorteil seiner Stellung ihr gegenüber nicht ausnutzte. Nicht als ob er irgendwelche Neigung für sie gefühlt hätte, aber Hilma war eine schöne Person. Er dachte an einen Liebeshandel mit ihr.

Während er das alles überdachte und dabei mürrisch den Knopf der elektrischen Klingel anstarrte, fiel es ihm ein, daß heut Buttertag war, und Frau Tree in der Molkerei zu tun hatte. Da würde Hilma ihre Mutter bei ihm vertreten. Er blickte in den Spiegel über dein Anrichtetisch und musterte sich mit grimmigem Mißfallen. Aber bald murmelte er, das unrasierte Kinn gegen den Strich reibend, seinem Spiegelbilde zu: »Was für 'ne Fratze! Guter Gott, was für 'ne Fratze!« Und dann nach einer Weile: »Ich bin doch neugierig, ob das dumme Femininum heut 'raufkommen wird.« Er ging hinüber in sein Schlafzimmer und lugte am Rande der herabgelassenen Gardine aus. Vom Fenster überblickte man das Turmgerüst des artesischen Brunnens, links davon das Küchengebäude und rechts die Molkerei. Der spähende Annixter sah Hilma aus der Molkerei treten und nach der Küche gehen; sie wollte offenbar sein Mittagessen besorgen. Als sie aber an dem artesischen Brunnen vorüberschritt, traf sie den jungen Delaney, einen von Annixters Leuten, der auf dem Pfade vom Bewässerungsgraben herkam und sein Pferd nach dem Stalle führte; in der behandschuhten Hand trug er eine große Rolle Stacheldraht, im Gürtel steckte eine Zange. Gewiß hatte er eben die schadhafte Stelle des Grenzzaunes bei der Trestlebrücke ausgebessert. Annixter sah, wie er Hilma grüßte und seinen breitkrämpigen Hut abnahm; dann plauderten die beiden ein Weilchen miteinander. Annixter hörte sogar Hilma sehr vergnügt lachen über etwas, was Delaney gerade sagte. Sie klopfte liebkosend den Hals seines Pferdes, und Delaney nahm seine Zange aus dem Gürtel und tat so, als ob er sie damit in den Arm kneifen wollte. Hilma griff nach seinem Handgelenk und drängte ihn lachend hinweg. Nach Annixters Ansicht schien das Paar ja außerordentlich vertraut miteinander zu tun. Heiß flammte der Zorn in ihm auf.

Ah, standen die Sachen so? Delaney und Hilma hatten ein Liebesverhältnis. Ganz öffentlich und ohne Scheu, dicht vor seinen Augen tändelten sie miteinander. Das war geradezu ekelhaft. Hatten die beiden denn gar kein Schamgefühl? Nun, so sollte es nicht weitergehen. Er wollte der Sache sofort ein Ende machen; auf seiner – Annixters – Ranch würden solche Geschichten nicht geduldet. Nein! Das Mädel mußte fort von hier, noch ehe er einen Tag älter war. Die Sorte konnte er hier nicht brauchen. Ein für allemal nicht! Fort mußte sie! Noch heut nachmittag wollte er mit dem alten Tree sprechen. Was auch draus würde –, er, Annixter, mußte unbedingt auf Moral halten! »Und mein Essen!« rief er plötzlich aus. »Ich muß warten und hungern und kann davon vielleicht wieder krank werden, während die dort unten so ekelhaft poussieren.«

Er wandte sich von dem ihm so widerwärtigen Anblick ab und eilte nach der elektrischen Klingel, deren Knopf er mit aller Macht drückte. »Wenn das Femininum hier 'raufkommt,« erklärte er, »will ich doch mal hören, warum ich so lange warten muß. Der werd' ich gehörig die Leviten lesen. Ich bin, weiß Gott, nachsichtig genug, aber alles kann ich mir nicht gefallen lassen!«

Einige Augenblicke darauf kam Hilma, um den Tisch zu decken. Annixter, der rauchend und mit den Füßen auf dem Fensterbrett am Fenster saß und so tat, als ob er eifrig die Zeitung studierte, nahm bei ihrem Eintritt unwillkürlich die Füße herunter und drückte das Feuer seiner Zigarre an der unteren Fläche des Fensterbrettes aus; von Zeit zu Zeit blickte er verstohlen über den Rand seiner Zeitung nach Hilma hin.

Die erst neunzehnjährige Hilma war ein großes gutgewachsenes Mädchen und über ihre Jahre hinaus entwickelt. Die rundliche Fülle ihrer schöngeformten Schultern und Hüften verkündete die frühe Reife des kräftigen und gesunden, unter der heißen, südlichen Sonne eines halbtropischen Landes aufgewachsenen Körpers. Voll und warm war ihr Blut, gleichmäßig und gutgeartet ihr Gemüt, das sah man auf den ersten Blick. Der volle Nacken verlief in wundervollen Linien zu den Schultern. Die Haut unter Kinn und Ohren war weiß und glatt wie Florettseide und im Genick, am Ansatz der Haare zu einem feinen, zarten Braun abschattiert. Ihr schlanker Hals rundete sich in schön gebogener Linie nach dem Kinn und den Wangen; bleiche, bernsteinhelle Schatten spielten auf der zarten Haut, deren Weiße in fast unmerklichen Abstufungen in das seine, warme Rot ihrer Wangen überging. Hilma hatte große, lichtbraune Augen mit glänzenden, schwarz schimmernden Pupillen, die sich, wenn sie lebhaft sprach oder jemand voll ins Auge blickte, zu ihrer ganzen Größe erweiterten; die Lider, nur ein geringes dunkler als der Grundton ihres Gesichts, hatten schwarze Wimpern; sie standen, ohne übermäßig lang zu sein, dicht beieinander und bildeten einen wirkungsvollen Rahmen für ihre schönen Augen. Der Mund war etwas groß und die Lippen dicht geschlossen; nichts konnte anmutiger und entzückender sein als die Formen dieser vollen Lippen und ihr weißes Kinn, das in reizvoller Rundung hinüberleitete zu den Linien von Hals, Brust und der holden, fraulichen Fülle ihres Busens. Die leiseste Bewegung von Kopf und Schultern setzte sich in sein schwingenden Wellen fort über alle diese Herrlichkeit von zarten, schöngeformten Linien und samtweichen, glatten Flächen; seine, bernsteinhelle Schatten kamen und gingen oder verloren sich unmerklich in der zarten Röte ihrer Wangen und den dichten Massen des braunen Haares. Dieses Haar schien beinahe ein Leben für sich selbst zu haben; seine medusenhaften Strähnen lagen feuchtschimmernd und glänzend in dichten, duftenden Massen auf ihrer Stirn und den kleinen Ohren mit den rosigen Ohrläppchen und reichten bis tief in den Nacken. Die dichten Flechten und Locken waren asphaltbraun im Schatten, im Lichte aber schimmerten sie wie glänzende Goldfäden. Hilmas Bewegungen hatten, wie die der meisten großen Mädchen, nichts Eiliges, und diese anmutige, zwanglose Bedachtsamkeit in Gebärden und Haltung war von besonderem, eigenartigem Reiz. Das Anziehendste an Hilma war jedoch ihre Einfachheit – eine Einfachheit, die sich ebenso in dem statuenhaften Ebenmaß ihres Profils, ihrer Wangen und Stirn, der ungezwungenen Anordnung des dichten, seidigen Haares zeigte wie in den edeln Linien ihres Körpers von der Fußsohle bis zum Gürtel und der wundervollen, vom Gürtel bis zum Halse sich rundenden Kurve. Einem fast unbewußten Gefühl folgend kleidete sie sich in Uebereinstimmung mit dieser Einfachheit; heute trug sie zu dem glatten, dunkelblauen Kalikorock eine blütenweiße leichtgestärkte Waschbluse. Trotz aller dieser Schlichtheit zeigte sie aber auch den seinen, weiblichen Sinn für alles Zierliche und Hübsche. Selbst Annixter bemerkte die netten Schuhe mit den kleinen Stahlschnallen an ihren schmalen, wohlgeformten Füßen; ebensowenig entging es ihm, daß ihre Fingerspitzen und Nägel rosig und wohlgepflegt waren. Annixter wunderte sich, daß ein Mädchen in Hilmas Verhältnissen sich so nett und sauber, so zierlich und damenhaft halten konnte; dann fiel es ihm aber ein, daß ihre Arbeit sich hauptsächlich auf die Molkerei beschränkte und auch nur von leichtester Art war. Sie lebte ihrer Eltern halber auf der Ranch, nicht aber wegen der Notwendigkeit, hier eine dienende Stellung einzunehmen. Annixter schien es dunkel zu ahnen, daß die günstigen Daseinsbedingungen in diesem großen Neuland des Westens und das gesunde Leben in der reinen, frischen Landluft die Verfeinerung der jungen Mädchen und Frauen förderte; es war nicht die Verfeinerung durch Erziehung und Bildung, sondern eine natürliche und im Wesen des Weibes begründete, die noch nicht verwischt und unterdrückt war durch den erniedrigenden, harten Daseinskampf in übervölkerten Landstrichen.

Annixter rückte unruhig in seinem Sitze hin und her, als Hilma beim Auflegen des Tischtuches die Arme zur vollsten Weite ausbreitete und das weiße Leinen dabei ihr Kinn im Widerstrahl zurückgeworfenen Lichtes schimmern ließ.

»O, Sie sind's, Fräulein Hilma!« bemerkte er, um etwas zu sagen. »Guten Morgen! Wie geht's Ihnen?«

Hilma blickte auf. »Guten Morgen, Herr Annixter,« erwiderte sie und stützte sich einen Augenblick auf die ausgebreiteten Handflächen. »Ich hoffe, daß es Ihnen besser ist?«

Ihre Stimme war tief und von einer samtnen Weiche; sie schien mehr aus der Brust als aus dem Halse zu kommen.

»Na ja, mir geht's etwas besser,« brummte Annixter, um dann unvermittelt zu fragen: »Wo ist der Hund?«

Ein altersschwacher irischer Vorstehhund ließ sich von Zeit zu Zeit im Wohnhause oder dessen Nähe blicken; er schlief dann auf dem Fußboden unter dem Bett und fraß, wenn grade jemand auf den Gedanken kam, ihn zu füttern.

Annixter lag gar nichts an dem Hund; wochenlang ließ er ihn unbeachtet. Es war nicht sein Hund. Heute aber schien er von nichts andern sprechen zu können. Er wußte es sich selbst nicht zu erklären, weshalb er immer wieder auf diesen Hund zurückkam. Er fragte Hilma aufs genaueste über den Hund aus. Wem gehörte er? Für wie alt hielt sie ihn wohl? Glaubte sie vielleicht, daß der Hund krank wäre? Wo war er nur hingekommen? Ob er sich vielleicht irgendwo verkrochen hatte, um zu sterben? Während Annixter aß, fing er immer wieder davon an; anscheinend konnte er von nichts anderm sprechen. Als Hilma mit dem abgeräumten Eßgeschirr hinausging, trat er auf die Veranda und rief ihr nach: »O, Fräulein Hilma!«

»Ja!«

»Lassen Sie mich wissen, wann der Hund wiederkommt.«

»Ganz recht, Herr Annixter!«

Er kehrte ins Speisezimmer zurück, setzte sich wieder auf den Stuhl, von dem er soeben ausgestanden war und murmelte: »Zur Hölle mit dem Hunde!« Er war wütend, ohne zu wissen weshalb.

Als Annixter endlich versuchte, nicht mehr an Hilma Tree zu denken, bemerkte er, daß er einen Thermometer an der Wand gegenüber unverwandt angestarrt hatte. Dabei fiel ihm ein, daß er schon lange vorhatte, sich einen guten Barometer zu kaufen, auf den er sich verlassen konnte. Der Barometer wieder Brachte ihn auf den gegenwärtigen Stand des Wetters und die Wahrscheinlichkeit baldigen Regens. Es fiel ihm ein, daß es noch viel zu tun gab. Der Saatweizen mußte zurechtgemacht und die Pflüge und Drillmaschinen nachgesehen werden. Zwei ganze Tage lang war er nicht aus dem Hause gekommen. Es war hohe Zeit, sich zu rühren. Er beschloß, den Nachmittag damit zuzubringen, nach allem zu sehen und spät zu Nacht zu essen. Nach Los Muertos mochte er nicht gehen; er wollte Magnus Derricks Einladung unbeachtet lassen. Es war aber doch vielleicht gut, wenn er hinging und sah, was los war.

»Wenn ich's tue,« sagte er sich, »will ich den Buckskin reiten.«

Der Buckskin war ein halbzugerittener »Broncho« broncho – spanische Bezeichnung für ein wildes oder halbwildes Pferd., der sich wie rasend gegen Sattel und Reiter wehrte, bis ihn Sporn und Peitsche zur Vernunft brachten. Annixter dachte daran, daß man von dem neben der Molkerei gelegenen Häuschen der Familie Tree den Platz vor dem Stall überblicken konnte; vielleicht würde Hilma ihn sehen, wenn er das wilde Tier bestiege, und so eine hohe Meinung von seinem Mut bekommen.

»Pah!« brummelte Annixter, »ich möchte sehen, wie der Schafskopf Delaney mit dem Broncho fertig werden wollte. Das möcht' ich wohl sehen.«

Als Annixter von der Veranda ins Freie trat, bemerkte er zu seiner Ueberraschung, daß der ganze Himmel sich mit einem grauen Dunst überzogen hatte; die Sonne war hinter dem trüben Schleier verschwunden, und die Luft hatte sich merklich abgekühlt. Die Wetterfahne auf dem Barn – ein prächtiger Harttraber aus vergoldetetem Blech mit flatternder Mähne und wehendem Schweif – schwang im Südwestwind. Der erhoffte Regen konnte nicht mehr lange aus sich warten lassen.

Während Annixter nach dem Stall hinüberging, überlegte er, ob er nicht mit dem Buckskin bis ans Häuschen der Trees reiten und Hilma sagen könne, daß er zum Abendbrot nicht zu Hause sein würde. Die Zusammenkunft mit den Nachbarn in Los Muertos gab ihm dazu willkommenen Anlaß, und er beschloß jetzt, der Einladung Derricks Folge zu leisten.

Als er an der Treeschen Behausung vorüberging, bemerkte er zu seiner Genugtuung, daß Hilma in dem Vorderzimmer war. Wenn er also den Buckskin auf dem Platze vor dem Stalle bändigte, so mußte sie ihn sehen. Hinter dem Barn stieß er auf den Stallmann, der gerade die Achsen des Buggys schmierte, und trug ihm auf, den Buckskin zu satteln.

»Ich dächte, der ist gar nicht hier, Herr,« erwiderte der Stallmann und blickte suchend in die Pferdestände. »Richtig! Delaney hat ihn ja gleich nach dem Essen genommen. Sein Pferd war lahm geworden, und er mußte doch nach der Trestlebrücke, um den Zaun dort zu reparieren. Er kam gleich zurück und holte sich den Buckskin.«

»O, Delaney hat ihn, so, so!«

»Ja, Herr. Und einen richtigen Zirkus hat er mit ihm gehabt, aber er hat ihn gehörig vorgenommen. Wenn sich's um so 'nen unbändigen Gaul handelt, da kann Delaney irgend 'nem cow-puncher wörtlich: »Kuhzwicker«. – Die Ohren der Rinder werden von den cow-punchers, auch cowboys genannten, berittenen Hirten durchlocht oder eingeschlitzt. Diese Zeichen werden ebenso wie die Brände auf dem Rücken oder den Hinterkeulen als Marken des betreffenden Besitzers gerichtlich eingetragen. im County die Augen auswischen.«

»O, kann er das?« sagte Annixter obenhin. Er schwieg ein Weilchen und setzte dann hinzu: » Gut, Billy, legen Sie meinen Sattel irgend 'nem Gaul auf. Ich will nach Los Muertos.«

»Sie werden naß werden, Herr Annixter,« meinte Billy. »Ich denke, daß es noch vor dem Abend regnen wird.«

»Ich will meinen Regenrock mitnehmen,« entgegnete Annixter. »Bringen Sie mir das Pferd vors Haus, wenn Sie fertig sind.«

Höchst verdrießlich ging er nach dem Hause zurück, um seinen Regenrock hervorzusuchen; er vermied es unterwegs, nach der Molkerei und dem Häuschen der Trees hinzublicken.

Als er die Stufen zur Veranda hinanstieg, hörte er das Telephon läuten. Presley rief ihn von Los Muertos an. Der hatte von Harran gehört, daß Annixter möglicherweise heut nachmittag hinüberkommen würde. Falls er käme, möchte er ihm doch sein – Presleys – Rad mitbringen. Er hätte es tags zuvor in Quien Sabe zurückgelassen und dann vergessen, es sich wiederzuholen.

»Schön,« entgegnete Annixter mit einem mürrischen Beiklang in seiner Stimme. »Ich wollte 'rüberreiten.«

»O, dann mach dir ja keine Umstände,« beschwichtigte ihn Presley. »Es war ja meine Schuld, daß ich das Rad vergaß. Ich komme nächster Tage und hole mir's.«

Mit einem heftigen Ruck hängte Annixter das Hörrohr an seinen Platz und stampfte aus dem Zimmer, dessen Tür er hinter sich zuschlug. Draußen im Korridor fand er seinen Regenrock hängen, in den er mit einer solchen Wucht hineinfuhr, daß er beinahe die Nähte gesprengt hätte. Es kam ihm heut aber auch alles in die Quere. Mußte dieser konfuse, verrückte Poet Presley auch noch sein Rad vergessen – das sah ihm ähnlich!

Nun, er sollte sich's nur selbst holen. Er aber – Annixter – würde heut reiten. Als er wieder auf die Veranda trat, sah er das Rad am Zaune lehnen, wo Presley es gelassen hatte. Blieb es länger dort stehen, so mußte es gründlich verregnen. Annixter stieß einen greulichen Fluch aus. Seine üble Laune wuchs von Minute zu Minute. Trotz alledem ging er, das Rad vor sich herschiebend, nach dem Stalle, bestellte das Satteln ab und ordnete an, daß ein Pferd in den Buggy gespannt werden sollte. Eigenhändig verstaute er Presleys Rad unter dem Sitz und bedeckte es sorgfältig mit leeren Säcken und einer wasserdichten Wagendecke. Während er damit beschäftigt war, tat Billy, der Stallmann, der gerade das Pferd in die Gabeldeichsel treten ließ, einen Ausruf und hielt lauschend die Hand in die Höhe. Von dem Dach des leeren Barn, von der dicken, samtgleichen Staubschicht auf dem Erdboden und den Blättern der vereinzelten nahen Bäume kam ein gleichmäßiges, murmelndes Geräusch, ein anhaltendes, einförmiges Tropfen und Rieseln, das ohne Unterbrechung von allen Himmelsrichtungen zugleich auszugehen schien.

»Da ist Ihr Regen,« sagte der Stallmann, »der erste Herbstregen!«

»Und ich muß in diesem Regen draußen sein,« brauste Annixter auf, »und diese Schweinebande wird jetzt mit der Arbeit am Barn aufhören!«

Mittlerweile war das Pferd angespannt. Annixter zog seinen Regenmantel, den er beim Verpacken des Rades abgelegt hatte, von neuem an, kletterte in den Buggy und fuhr, ohne darauf zu warten, daß Billy das Verdeck in die Höhe schlug, eine frisch angebrannte Zigarre zwischen den Zähnen, hinaus in den Regen. Als er an der Molkerei vorbeifuhr, sah er Hilma in der Tür stehen; sie blickte forschend nach dem grauen Himmel und hielt, belustigt über den ersten Schauer der nassen Jahreszeit, ihre Hand in den strömenden Regen. Das nahm sie derartig in Anspruch, daß sie Annixter nicht sah und daher auch das unbeholfene Kopfnicken, mit dem er sie grüßte, nicht bemerkte.

›Das hat sie absichtlich getan,‹ dachte Annixter und biß wütend auf seine Zigarre. ›Sie schneidet mich, wie? Das hat gerade noch gefehlt! Sie muß weg von hier, noch ehe ich einen Tag älter bin!‹

Die beabsichtigte Prüfung von Saatgut und Ackergerät mußte er auf morgen verschieben, denn jetzt galt es, beizeiten Los Muertos zu erreichen. Mit dem Buggy mußte er die Fahrstraße halten, die in einem großen Umweg über Guadalajara nach Los Muertos führte. Der Regen würde aus der dicken Staubschicht der Fahrstraße bald einen zwei Fuß tiefen, zähen Brei machen. Volle drei Stunden konnten draufgehen, bis er sein Ziel erreichte. Zähneknirschend dachte er an Delaney und den Buckskin. Und all diesen Aerger und Verdruß hatte er wegen eines dummen femininen Frauenzimmers. Mit solchen Dummheiten seine Zeit zu vertrödeln! Aber jetzt war die Sache für ihn erledigt. Sein Entschluß stand fest. Sie sollte sich fortscheren.

Der Regen wurde immer stärker; dabei herrschte vollkommene Windstille. Ein dichter, nasser Schleier, der den Blick in die Ferne hemmte und die Landschaft in einförmiges Grau hüllte, schien vom Himmel senkrecht zur Erde herabzuhängen. Es goß jetzt in Strömen, und das anhaltende Plätschern und Rieseln wurde immer lauter. Annixter mußte bei dem Zauntor vor Dykes Hopfenland absteigen, um das Verdeck des Buggys in die Höhe zu schlagen. Dabei passierte es ihm, daß er mit dem fleischigen Teile seiner Hand in das Gelenk des Verdeckbügels kam und sich dabei empfindlich quetschte. Das schlug dem Faß den Boden aus – das war der Höhepunkt seiner heutigen Leiden und Aergernisse. Im Augenblick erfaßte ihn eine derartige Wut gegen Hilma Tree, daß er seine Zigarre mit den knirschenden Zähnen mitten durchbiß.

Während er an dem Bügel, der das Verdeck aufrechthielt, zerrte und drückte, wobei ihm das Wasser von der triefenden Hutkrempe über die Nase floß, wurde das Pferd von dem strömenden Regen unruhig.

»Ho–o–o–oh, du!« brüllte er in heller Verzweiflung. »Du – du – God – God – dam! Wart, bis ich dich kriege! Ho–o–o–oh, du!«

Zu alledem kam noch ein unerwarteter Zwischenfall hinzu. Delaney kam auf dem Buckskin im langsamen Trabe um eine Wegebiegung; Annixter, der eben wieder in den Buggy gestiegen war, sah ihn auf einmal dicht vor sich.

»Hallo, Herr Annixter,« begrüßte ihn Delaney und hielt sein Pferd an. »'s ist 'n bißchen naß heute, nicht wahr?«

Annixter, der einen scharlachroten Kopf bekam, rief, sich steif in seinem Sitze aufrichtend: »O – o, da sind Sie ja!«

»Ich war eben dort unten,« begann Delaney ihm mit einer Bewegung des Kopfes nach der Eisenbahn hin auseinanderzusetzen, »und habe das Loch im Zaun bei der Trestlebrücke repariert. Und weil ich gerade da war, da dacht' ich, es wäre gut, wenn ich den Zaun bis Guadalajara abritte, um zu sehen, ob noch irgend was kaput ist. Es scheint aber alles in Ordnung zu sein.«

»O, es scheint alles in Ordnung zu sein, meinen Sie?« zischte Annixter zwischen den Zähnen hervor.

»Nun – nun – ja,« erwiderte der über den gereizten Ton Annixters Verwunderte. »Ich hab' eben den Zaun bei der Trestlebrücke ausgebessert und – –«

»So, warum haben Sie's nicht schon vor 'ner Woche getan?« schrie ihn Annixter zornerfüllt an. »Den ganzen Morgen hab' ich auf Sie gewartet – und wer hat Ihnen gesagt, daß Sie sich den Buckskin nehmen können? Die Schafe sind letzte Nacht durch das Loch die ganze Bahn entlang gelaufen, und da kommt S. Behrman, dieser dreckige Pips, mir heut morgen auf den Hals und will mir die Hölle heiß machen.« Er hielt inne, um Atem zu holen, und wetterte von neuem los. »Wozu füttere ich Sie denn? Wofür habe ich Sie? Etwa, um Sie zu mästen, hä?«

»Aber, Herr Annixter –«

»Widersprechen Sie mir nicht!« Annixter schrie sich in immer größere Erregung hinein. »Bringen Sie mir keine Entschuldigungen vor! Ich hab's Ihnen gesagt wegen dem Loch im Zaun –, fünfzigmal hab' ich's Ihnen gesagt.«

»Der Zaun war in Ordnung, Herr,« entgegnete Delaney, der jetzt unwillig wurde. »Die Schafe haben ihn letzte Nacht selber kaput gemacht.«

»Ich hab' Ihnen schon gesagt, Sie sollen mir nicht widersprechen,« tobte Annixter.

»Aber ich kann doch –«

»Scheren Sie sich fort von der Ranch! Packen Sie sich! Und den Buckskin haben Sie auch gegen mein ausdrückliches Verbot genommen. Leute von Ihrer Sorte kann ich nicht brauchen. Ich bin, weiß Gott, nachsichtig genug, aber auf der Nase kann ich mir nicht 'rumtanzen lassen. Scheren Sie sich fort von der Ranch, verstehen Sie, und schleunigst! Gehn Sie zum Vormann und sagen Sie ihm, ich hätte gesagt, er soll Sie auszahlen –, und dann hinaus mit Ihnen! Und hören Sie wohl,« fuhr er mit drohendem Ausdruck fort, wobei sein Kinn noch weiter als gewöhnlich vorzustehen schien, »merken Sie recht auf: Wenn ich Sie um mein Haus 'rumstreifen finde oder Sie überhaupt irgendwo auf Quien Sabe zu sehen bekomme, mein Freund, so werde ich Ihnen den Weg heraus mit meiner Stiefelspitze zeigen. Und jetzt machen Sie Platz und lassen Sie mich vorbei!«

Delaney, der vor Zorn keiner Entgegnung fähig war, stieß dem Buckskin die Sporen in die Weichen und flog mit einem Satz an dem Buggy vorbei. Annixter nahm die Zügel wieder auf und fuhr, vor sich hin murmelnd, weiter; ein paarmal wandte er sich um und sah den Buckskin, unter dessen eiligen Hufen der Schmutz weit umherspritzte, in der Richtung der Ranch davonrasen. Sein Reiter hatte den Kopf gegen den strömenden Regen vornübergebeugt und trieb das dahinfliegende Tier zu immer tollerem Laufe an.

»Hm,« brummte Annixter voll grimmiger Genugtuung, »das wird dir wohl die Hefe aus deinem Teige nehmen, mein Freund.«

Seine Laune fing allmählich an, sich zu bessern.

Er war noch nicht weit gefahren, als er wieder aussteigen mußte, um ein zweites Zauntor zu öffnen, durch welches er nicht weit von Guadalajara auf den jenes Städtchen mit Bonneville verbindenden und parallel mit der nahen Eisenbahn laufenden »Oberen Weg« gelangte. Jenseits der Geleise breiteten sich unübersehbar die kahlen braunen Felder von Los Muertos, deren sonnenversengter Boden sich jetzt unter der beharrlichen Liebkosung des Regens zu feuchter, fruchtbarer Ackerkrume verwandelte. Die von der Hitze hartgebackenen Erdklumpen lösten sich, mit leisem Gurgeln saugten die Risse und Spalten des Erdreichs gierig das erquickende Naß ein. Trüb und öd war die Landschaft, und dichte Regenschleier verhüllten den Horizont; in trostloser, flacher Einförmigkeit und jeden Schmuckes bar lag die Erde unter dem auf sie drückenden bleigrauen Himmel. Die neben der Bahn herlaufenden Telegraphendrähte summten, in leichte Schwingungen versetzt, von den Myriaden der auf sie treffenden und von Draht zu Draht fallenden Regentropfen. Die Stangen selbst waren schwarz und wie geschwollen und glänzten vor Nässe, während die kleinen gläsernen Isolierkegel an den Querhölzern das trübe Licht des frühen Abends widerspiegelten.

Als Annixter sich eben anschickte, weiterzufahren, rollte ein Frachtzug an ihm vorbei, der von Guadalajara nordwärts nach Bonneville, Fresno und San Francisco ging. Es war ein langer Zug; schwerfällig und bedachtsam, unter dem regelmäßigen Pusten seiner Lokomotive und dem rhythmischen Geräusch der unzähligen, über die Schienenstöße rollenden Räderpaare strebte er seinem Ziele zu. Auf drei offenen Lowries unter den letzten Wagen konnte Annixter deutlich Magnus Derricks Pflüge sehen; ihr grüner und roter Anstrich war der einzige lebhafte Farbenton in all dem trüben Grau und Braun ringsum.

Annixter blieb halten und sah den Zug vorbeirollen, der Magnus Derricks Pflüge, die jetzt beim Beginn der Regenzeit am nötigsten gebraucht wurden, von seiner Ranch entführte. Schweigend und gedankenvoll folgte er dem Frachtzuge mit seinen Blicken. Noch lange sah er ihm nach, bis sich der Zug in der Weite verlor und sein langdröhnendes Rollen in fernes Brausen überging. Bald darauf hörte er den Pfiff der Lokomotive vor der langen Trestlebrücke.

Der Zug und seine Maschine verbreiteten heut nicht den Eindruck des Schreckens und der Zerstörung, der Presley in der vergangenen Nacht so tief erschüttert hatte. Mit langsamem, dumpfem Räderrollen wie ein Leichengeleit, wie eine lange Reihe rumpelnder Munitionskarren, die gefallene Streiter zur letzten Ruhestätte führen, verfolgte er seinen Weg. In einen langen, wehenden Trauerschleier hüllte ihn der Rauch der Lokomotive; ein Gefühl banger, herzbeklemmender Trauer ließ er auf seiner Spur zurück, wie er unter dem grauen Himmel dahinrollte, von dem der Regen unaufhörlich und unveränderlich mit eintönigem, scheinbar von allen Himmelsrichtungen zugleich ausgehendem Rauschen herabfloß.


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