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Tagebuch von Asta Petrowitsch

geboren zu Nisch am 15. Juli 1897,
angefangen am Tage meines Austrittes aus dem Obrenowitsch-Kolleg in Belgrad am 20. Juli 1914.

Slobodu!

Sind auch nachfolgende Zeilen in der Sprache Rousseaus und Maupassants geschrieben, das erste Wort auf erster Seite sei das heiligste, was Serben kennen: »Freiheit«.

Ich bin frei, wenige Tage nach meinem vollendeten 16. Geburtstag habe ich die altersgrauen Mauern verlassen, in denen ich vier Jahre nichts kennen durfte als Gehorsam, Lernen und Gebet.

Graue Mauern, wie graute mir das letzte Jahr vor euch! Jugend will Luft und Licht, Schönheit gehört zur Freiheit, und ich bin, sagt man, das schönste Mädchen vom ganzen Institut gewesen, wie ja auch behauptet wird, daß mein Bruder Milan der schönste Leutnant sei von der berühmten Morawadivision, in welche Serbiens stattlichste Leute eingereiht sind.

*

Die Fahrt nach der Heimat war eine einzige flammende Begeisterung; alle Waggons voll Reservisten, die zur Fahne eilen, Offiziere, die mir und meinen beiden Freundinnen die Hand küssen. Tod allen Österreichern, aus den Wogen der Adria steigt die Krone des geeinten Großserbien!

*

Nisch. Der ganze Bahnhof ein Ozean von Militär. Vater, Mutter sind tiefernst, Milan strahlt. Es geht an den Erbfeind. Vater kann nachts nicht mehr schlafen. Wir haben seit Jahren keine so gute Pflaumenernte mehr gehabt wie dies Jahr, alle Keller sind zum Ende der Ernte voll Maische. Die Sliwowitzbrennerei müßte diesmal Summen abwerfen wie noch nie. Wir haben eine ganz neue Einrichtung bekommen. Mutter weint. Ich wäre, sagt sie, in drei Jahren das reichste Mädel auf Stunden im Umkreis geworden, und nun ist alles in Gefahr. Aber Milan zweifelt nicht an unserm Sieg, Rußland und Frankreich helfen uns.

Vater hat heimlich eine Unmenge Papiergeld und Wertpapiere gegen Gold eingewechselt, bevor die Regierung das verbot. Er hält es in seinem Schlafzimmer verborgen und hat nachts unsern großen Wolfshund bei sich. Milan besorgte uns vier ausgezeichnete französische Nagantrevolver sowie fünf prachtvolle Handschars, wie sie Offiziere tragen, mit echten Elfenbeingriffen und famosen türkischen Klingen. Mutter sagt, die Handschars müssen aber vom Popen geweiht werden, sonst ist im Kampf das Waffenglück nicht auf unserer Seite. Im Institut haben sie auch immerfort »geweiht«, sogar das Schweinefett, welches wir zuletzt nicht mehr riechen mochten. Vater kaufte im ersten Waffenladen von Nisch heute zu unserer Verwunderung vier teure Jagdgewehre, obwohl seine alten Flinten noch ganz gut sind. Auch Patronen schleppte er in unheimlicher Menge nach Hause, gerade als wollte er auf eigne Faust Krieg führen!

*

Durch die Straßen zieht Militärmusik, überall wehen Fahnen. Morgen gehen die ersten Truppen an die Grenze ab. Milan hat Abschied genommen und wir waren alle zusammen in der Kirche. Unser alter Pope segnete die neuen Handschars und wir gelobten aufs Abendmahl, mit der Waffe in der Faust für Serbien zu siegen oder zu sterben. Blutrache zu nehmen an jedem Österreicher, der einen unserer Familie getötet.

*

Sieg! Der Erbfeind ist geworfen. Vater verteilt Sliwowitz und Rotwein. Alles jubelt.

*

Ein schwerer Rückschlag. Der Feind geht über die Donau mit überlegenen Kräften. Von Milan keine Nachricht, seine Division ist ganz vornedran. Mutter weint.

*

Vater ist voll schwerer Sorge. Die Regierung beschlagnahmt allen Sliwowitz und sämtliches Vieh für die Armee. Heute nacht hat Vater mit seinen zwei Nachbarn lange heimlich beraten. Morgens gab er unserm alten treuen Mirko Geld und sandte ihn fort in die Berge.

*

Meine Freundinnen Jelica, Danila und ich sind riesig neugierig, was Mirko oben in der Planina besorgen mußte. Mir sagt er es auf jeden Fall.

Fünf Tage sind herum. Die Nachricht von der Kampffront lauten immer trostloser! Mirko ist zurück. Vater atmet sichtbar auf. Meine Freundin Jelica hat herausgebracht, was es mit der Reise unseres alten Dieners für eine Bewandtnis hatte. Er mußte für uns drei Mädchen und sich vier gute Gebirgsesel kaufen, bevor alle für das Militär weggenommen werden. Unsere Väter rechnen sicher damit, daß der Österreicher ins Land einbricht und wir Mädels fliehen müssen hoch hinauf in den wildesten Teil der Cegowar-Planina, wo fast gar keine Ansiedelungen mehr stehen.

*

Mirko war in jungen Jahren einmal in der Planina Schafhirt und Räuber. Er kennt da oben jeden Fußbreit Weg und schwört, daß uns dort niemand finden kann. Er weiß eine große Höhle, in der jahrelang Räuber gehaust haben, mit denen er sehr gut Freund war. Sie sind später erwischt und aufgehängt worden und ihr Versteck hat niemand mehr gefunden, denn es liegt tief im Gebüsch verborgen. Die Hirten oben sagen, daß es nachts dort umgeht und die Seelen der Räuber immer nachsehen, ob ihre vergrabenen Schätze nicht gefunden wurden. Mirko versichert aber, daß wir uns vor seinen alten Freunden nicht zu fürchten brauchen. Jelica graut aber sehr davor. Sie will viele geweihte Kerzen mitnehmen.

*

Mirko ist wieder auf vierzehn,Tage fort. Er kann aber auch drei Wochen ausbleiben, ohne daß wir um ihn in Sorge sein müssen, sagte er uns beim Abschied. Er bereitete die Höhle zum längeren Aufenthalt für uns vor! Es muß Brennholz gemacht und eine größere Menge Lebensmittel hinaufgeschleppt werden, bis vier Menschen heimlich dort hausen können. Es kann uns passieren, daß wir tagelang nicht wagen dürfen, den Kopf herauszustecken, falls Militär durchstreift. Aber so weit wird es nicht kommen. Gott verläßt seine Serben nicht, sagt unser Pope. Vater schafft an Lebensmitteln, die der Beschlagnahme verfallen, zur Seite, was er kaufen kann. Tee und Kaffee, Zucker, Salz, Mehl, Bohnen, Erbsen. Alles wird als Traglast verpackt und geht nachts auf Maultieren bis zum letzten Dorf am Fuße der Planina. Dort lebt ein Verwandter Mirkos und hebt alles auf, bis wir kommen.

*

Wir richten uns ein, den Winter über in der Höhle zu verbringen. Der Schneider arbeitet aus Fellen junger Lämmer für uns wunderschöne warme Pelzjacken und lange Mäntel. Weniger gut gefallen mir die scheußlichen schweren Stiefel, die Vater für uns bestellt. Aber Mirko läßt nichts anderes gelten und behauptet, wir würden noch sehr froh sein um das gute Leder.

*

Die Nachrichten von der Kampffront übertreffen die schlimmsten Befürchtungen! Vater betreibt die Verproviantierung der Höhle fieberhaft. Gestern ging die letzte große Ladung mit Speck, Räucherfleisch, Paprika, Sliwowitz und Rotwein ab. Sowie Mirko zurückkommt, wird es ernst. Wir sind sehr traurig. Unsere Eltern wollen unter allen Umständen zu Hause bleiben. Vater läßt seine großen Keller mit ihrem Wert, der ein ganzes Vermögen darstellt, nicht allein. Mutter geht von ihm nicht weg.

*

Mirko ist zurück. Die Abschiedsstunde hat geschlagen.

Letzter Eintrag ins Tagebuch vor der großen Reise.

Ein Büffelkarren trägt Kleider, Wäsche, Patronen und Bettzeug. Wir Mädchen sind in Männerkleidung, gut bewaffnet und beritten. Jede trägt Jagdgewehr, Revolver, Handschar und zwei Patronengurte. Jetzt muß es sein!

Vaterhaus, leb wohl! Fast bricht das Herz.

*

Wir sind fast am Ziel – ununterbrochen immer nur bei Nacht gereist, tagsüber im Wald versteckt geruht. Niemand hat uns aufgehalten. Jetzt kommt noch der mühsame Aufstieg in die Planina. Hoffentlich bekommen wir etwas Mondlicht. Mirko sagt, der letzte Teil sei schlimm, nur mehr Ziegenpfad, oft haarscharf an tiefen Abgründen vorüber. Mirko tröstet uns aber und meint, es ginge alles gut, wenn wir nur nicht klüger sein wollten als unsere Esel. Es sind gebirgsgewohnte prächtige Tiere und absolut trittsicher. Wir nehmen auch vier schöne Milchziegen mit hinauf, die Mirko unter hundert ausgesucht hat.

*

War das ein Marsch! Nun sind wir da und sehen uns einander recht kleinlaut an. Hier in diesem öden Gefelse und ewiger Finsternis sollen wir vielleicht von Oktober bis März sitzen. Das ist ja zum Wahnsinnigwerden.

Die Höhle selber wäre gar nicht so übel. Das Gefelse ist trocken, die Luft gut. Es gibt Spalten und Löcher im Gestein, durch welche der Rauch unseres Herdfeuers tadellos abzieht. Wir können sogar stark einheizen, ohne daß man außen eine Spur von Rauch entdeckt. Es liegen drei Höhlen hintereinander, nur durch schmale Gänge im Stein getrennt. Über der letzten, kleinsten Höhle liegt aber eine größere, welche durch ganz engen Schlupf Ausgang ins Freie hat. Dieser geheime Notgang ist Goldes wert, denn er endet in fast undurchdringlichen Nadelholzgestrüpp, welches sich stundenweit am Bergkamm hinzieht. Wir können also ungesehen fliehen, wenn wirklich jemals der Höhleneingang entdeckt und belagert würde. Diese oberste Höhle wird Schlafgemach von uns drei Mädchen, die darunterliegende kleine ist Vorratskammer, dann kommt Mirkos Schlafraum und in der am Eingang liegenden Höhle sind die Esel und Ziegen untergebracht.

Die Türe ist aus Baumstämmen roh gezimmert, aber nicht einzurennen. Von innen kann ein Sperrbalken vorgelegt werden und oben ist eine Schießscharte eingeschnitten, durch die man das ganze Vorgelände unter Feuer nehmen kann.

*

Drei Tage voll mühsamer Arbeit sind herum. Mirko hat nur immer den Kopf geschüttelt zu all den vielen Wünschen, die wir ihm vortrugen. Aber jetzt sieht die Sache doch schon ganz anders aus.

Die Räuber, welche vor uns Jahre durch hier gehaust, waren wirklich ohne jedes Bedürfnis. Unsere Wohnhöhle sieht nun ganz nett aus. Wir haben alle zusammengeholfen und in Säcken abgefallene trockene Nadelspreu eingeschleppt wie Mäuse in den Bau. Unser Höhlenboden ist jetzt handhoch mit dieser sauberen glatten Spreu bedeckt, die warm hält und wunderbar nach Harz riecht. Nur mit dem Feuer müssen wir eben sehr acht geben!

Die Nächte sind im Freien schon recht frisch, und wir werden vierzehn Tage lang abwechselnd noch Brennholz sammeln, damit wir bei Schneefall nicht frieren. Mirkos alter Freund, der Ziegenhirte, besorgt uns einen guten Jagdhund, damit wir doch Hasen und Füchse schießen können, von denen es hier in dieser Einsamkeit ziemlich gibt. Mirko weiß in den tiefen Lagen des Berges auch Rehe. Aber wir dürfen nicht unvorsichtig sein und uns durch Schüsse vor den Talbewohnern verraten.

Hoffentlich kommt kein starker Schneefall, denn dieser bringt in der Hochlage Wölfe, behauptet Mirko. Wir fürchten uns aber nicht, denn unsere Gewehre sind vorzüglich. Nicht einmal meine Freundin Danila, die vor Gespenstern zittert, scheut einen Gegner, dem sie mit der Waffe an den Leib kann.

*

Nun haben wir endlich auch reines Trinkwasser!

War das eine Arbeit, bis der Boden unserer Zisterne von all den Resten toter Tiere gesäubert wurde, die im Laufe der Jahre hineinfielen. Mirko begreift gar nicht, wie man darüber ein Wort verlieren mag. Er und seine Räuberfreunde haben viele Jahre dies Wasser getrunken, und es schadete ihnen nie, wenn tote Mäuse, Schlangen, Käfer und Frösche darin lagen. Wir bestanden darauf, daß ein Deckel aus Kistenbrettern über den Felsspalt kommt, den man mit einem Felsstück einschwert.

Das Wasser ist auch im Sommer sehr frisch, denn es kommt aus großer Tiefe, und die Felsspalte ist wohl fünf Meter tief, aber nur zwei im Durchmesser. Mirko erzählt uns, daß um diese Wasserstelle schon blutige Kämpfe geführt wurden. Es ist die einzige auf Stunden im Umkreis, welche in sehr heißen Sommern nicht ganz versiegt, weil eben außer dem Regenwasser noch der Quellzufluß da ist. Unsere Höhle und das Wasser zusammen sind soviel wie eine kleine Festung wert, sagt Mirko. Kein Gendarm weiß sie und hat sie je gesehen, und wenn, dann mußte er sterben!

*

Mirko ist auf drei Tage fort ins Tal zu seinem Vetter, um die Bracke zu holen. Wir freuen uns sehr auf den Hund, denn es soll ein bildhübsches Tier sein und sehr wachsam. Ich freue mich besonders auf die Jagd, denn mein neues Jagdgewehr hat drei Läufe, einen für Kugel, zwei für Schrot und stammt aus Deutschland, wo ganz vorzügliche Gewehre gebaut werden. Vater hat dafür ein rasendes Geld bezahlen müssen.

Auch ist frisches Wild zum Essen etwas ganz anderes als immerfort Schweinespeck oder geräuchertes Fleisch. Ohne die Büchsenkonserven brächte man das Zeug fast nicht mehr hinunter. Wie wäre das erst nach Monaten?!

*

Man hat in dieser Bergeinsamkeit viel Zeit zum Nachdenken. – Leider sind es zumeist trübe Gedanken, die um einen herumschwirren wie die Fledermäuse, welche vor uns diese Höhle bewohnten. Mirko sagt, in jedem dieser unheimlichen Nachtflieger steckte die ruhelose Seele eines Verdammten.

Auch ich komme mir als ein zur Ruhelosigkeit verurteiltes Wesen vor. Zuerst vier Jahre eingesperrt in den grauen Klostermauern des Belgrader Instituts, dann im Saus nach Hause mit der Angst um den Bruder im Herzen und, kaum zur Ruhe gekommen, wieder fort wie Diebe in der Nacht. Und nun hier in diesem Loch, von dem Mirko immer mehr erzählt, je länger wir da hausen. Diese Felswände haben Greuliches gesehen und die letzten Seufzer vieler gehört, welchen die Kehle durchschnitten werden »mußte«, wie Mirko behauptet. Entweder hatten diese Unglücklichen das verlangte Lösegeld nicht oder nicht rechtzeitig aufgebracht, oder sie waren Opfer der Blutrache. Dagegen gibt es eben kein Wehren. Das ist Balkanrecht!

*

Wie wird es zu Hause gehen? Wer tröstet die armen Eltern?

Wir drei Mädchen haben immer als die Schönsten des Städtchens gegolten und die reichsten waren wir sicher. Wenn die Offiziere von Milans Regiment sehen würden, wie wir jetzt in Räuberzivil herumgehen, bewaffnet bis an die Zähne und durch Mirko vertraut mit allen Kunstgriffen, Menschen um die Ecke zu bringen!

*

Heute ist ein wunderbarer Herbsttag. So todtraurig die Planina sein kann, wenn graue Nebelfetzen um ihre zerrissenen öden Wipfel fliegen und der Sturm heult wie der Jammer unerlöster armer Seelen, so märchenhaft schön ist die stolze einsame Landschaft, wenn leuchtende Sonnenpracht über den Wipfeln der Wälder liegt, eine Unzahl Raubvögel vom Kaiseradler bis zum kleinsten Falken in den warmen Lüften spielt.

In hellen, klaren Mondnächten hören wir ganz nahe die Stimmen unzähliger Zugvögel, welche in ungeheuren Geschwadern dem Südmeer zueilen. Wir geben ihnen Serbengrüße auf an unsere Verbündeten, die Franzosen und Engländer.

*

Mirko ist mit Verspätung von einem vollen Tag zurück. Der Hund ist einzig schön und soll famos jagen. Er heißt »Slobodu«, und das mag uns allen eine gute Vorbedeutung sein, daß wir mit ihm einst den Tag der Freiheit schauen dürfen!

Es ist erstaunlich, wie sehr Slobodu sich schon an Mirko gewöhnt hat. Aber es gibt ein Jägergeheimnis, um Hunde sogleich an sich zu fesseln. Man muß sich Haare unter der Achsel abschneiden, diese in rohes Fleisch verstecken und dem Tier zum Fressen geben. Sobald der Hund das geschluckt hat, ist er unbedingt anhänglich! Danila war so übermütig, Mirko zu fragen, ob dies Mittel auch bei Menschen helfe. Da wäre Mirko beinahe böse geworden!

*

Der erste Jagdtag ist vorüber. Ich weiß nicht, wer daran mehr Freude hatte – Slobodu, die Esel oder wir! Es war sehr mühsam und ohne die guten Reittiere hätten wir diese Anstrengung kaum ausgehalten. Die Beute ist nicht schlecht, Mirko hat sogar ein Reh geschossen. Wir haben feststellen können, daß sicher auf zehn Stunden im Umkreis keine Menschenseele haust und wir es ruhig wagen dürfen, jederzeit von unseren Gewehren Gebrauch zu machen.

Mirko versteht es meisterhaft, Wildpret zu räuchern. Eine Felsspalte ist unser Kamin und Wacholder wächst in Unmenge zum Unterfeuern. Wären wir nur nicht gar so weit vom Tal weg, so bekämen wir leicht feine Fische. Es gibt in den Bächen überall Forellen, wenn sie auch nicht sehr groß werden.

Erst in solcher Einöde wie hier merkt man, wie viele Genüsse der Städter als, selbstverständlich ansieht und schwer vermißt, wenn er sie entbehren muß.

Was gäben wir erst für Nachrichten von zu Hause und vom Kriegsschauplatz!

*

Die Sorgenvögel fliegen in Scharen um unsere Berge! Drei große Wachtfeuer brannten letzte Nacht im Gebirge zu gleicher Zeit. Eines war so weit entfernt, daß es nur einem Pünktchen glich. Mirko sagt, sie rufen das letzte Aufgebot zu den Waffen! Das sind also Buben von sechzehn und Männer von über fünfzig Jahren. Fallen auch diese, dann hat Serbien keine Söhne mehr, um es zu verteidigen.

*

Mirko muß ins Tal auf Kundschaft. Vielleicht gelingt es doch, Nachricht aus Nisch zu erhalten. Zeitungen kommen keine in dies abgelegene Gebiet, weil die paar Ziegenhirten ja nicht lesen können.

*

Wir sind allein mit Hund und Eseln. Bis jetzt haben wir noch keine Spur von Wölfen gemerkt und lassen Esel und Ziegen den ganzen Tag frei herumlaufen, was ihnen vorzüglich gut bekommt.

Wenn die Sonne scheint, ist es immer noch fast unerträglich warm an den windgeschützten Stellen. Sobald wir drei Mädchen unter uns sind wie heute, laufen wir genau wie unser Tiergarten nur mit der Haut bekleidet herum, spielen »Drei Evas ohne Adam im Paradies!« Dafür sind die Nächte um so frischer, und wir merken nun erst, welchen Schutz unsere Höhle bietet im Vergleich mit einer Hütte aus Baumstämmen oder Lehm.

*

Das Wetter scheint umzuschlagen. Sturm heult wieder um die Gipfel, vom Tal herauf fliegen dichte Nebel, ballen sich zusammen, teilen sich wieder in Fetzen und jagen davon. Es beginnt zu regnen. Mirko bekommt schlechten Aufstieg, aber er ist trotz seiner sechzig Jahren noch aus Eisen! Ein Mann in der Blüte seiner Kraft könnte nicht mehr leisten.

*

Nichts tun und still vor sich hinbrüten, wie Danila es liebt, macht mich verrückt. Ich gehe sogleich nach dem Frühstück auf Entdeckungsreisen aus, trotz des immer noch abscheulichen Wetters. Slobodu muß zu Hause bleiben und wachen. Mirko hat mir gezeigt, wie lautlos man bei solch stillem Regen, der jeden Tritt unhörbar macht, auch auf steinigem Boden pirschen kann. Ich möchte einmal ganz allein Rehe schießen.

*

Der vergangene »Jagdtag« war vielleicht der glücklichste, wenn man in unserer Lage überhaupt noch dies Wort gebrauchen darf.

Ich bin stundenlang dort herumgeklettert, wo es mir Mirko strenge verboten hat. Er sagte, es gebe dort in der heißen Jahreszeit die enorm giftige gehörnte Sandviper in Unmenge und außerdem seien überall tiefe, von Gestrüpp überwachsene Löcher und Höhlen, deren Tiefe niemand ergründen könne. Mancher Hirte, der verstiegene Ziegen suchte, fand dort oben schon einen jammervollen Tod. Aber den Schlangen ist es jetzt schon viel zu kalt, sie liegen bereits im Winterschlaf, und mein Bergseil ist zwanzig Meter lang und hält fest wie Draht.

Nach stundenlangem Herumklettern war ich unter die Äste einer völlig krumm gewachsenen Fichte gekrochen und etwas eingeschlafen. Das Gezeter der Bergamsel weckte mich und da sah ich gerade noch, wie ein großer Fuchs ganz langsam auf eine scheinbar glatte Felswand zusteuerte, mit ein paar Sätzen einen Vorsprung erreichte, nochmals gemütlich umschaute und dann verschwand. Das war so hübsch und unterhaltend, daß ich ans Schießen gar nicht dachte. Aber ich wollte unbedingt wissen, wohin der Kerl so spurlos hatte verschwinden können, und machte mich daran, ihm nachzusteigen.

Meine Überraschung war grenzenlos, denn ich fand, daß hier früher regelmäßig Menschen verkehrt haben mußten. In die Felswand waren daumendicke eiserne Stifte eingelassen als Griffsicherung für die Leute, welche das nur handbreite Band betreten mußten, welches offenbar der Zugang für ein wichtiges Versteck bildete. Hinter einem Schopf unendlich dicht gewachsener, verzauster Wachholder und Schwarzföhren fand ich eine mannshohe Felsspalte, die, kaum meterbreit, tief in den Berg führte. Ich nahm das Seil um den Leib, sicherte das Ende an einem der letzten Eisenstifte und knipste die elektrische Taschenlampe an. Der Fels war trocken, und überall herumliegende Hasenknochen, Federn von Wildgeflügel bewiesen, daß nun Füchse hier gehaust und Junge gehabt. Eine Seilschlinge hatte ich noch um die Taille, als der Gang sich verbreiterte und eine kleine Höhle vor mir lag, deren Inhalt einem das Blut konnte gerinnen lassen.

Überall an den Wänden waren ebenfalls eiserne Stifte eingerammt und an jedem hing ein menschliches Gerippe mit gefesselten Händen und Beinen. Der Fußboden war überdies bedeckt mit Knochen und Totenköpfen, offenbar den Resten derer, die an den Wänden keinen Platz mehr gefunden oder neuen Opfern hatten Raum geben müssen! Nachdem ich meinen ersten Schreck überwunden, plagte mich doch die Wißbegier, herauszubringen, wer wohl die Opfer gewesen sein möchten, die offenbar von den Freunden Mirkos verräumt wurden. Es fanden sich einige Uniformknöpfe, welche bewiesen, daß Gendarmen unter den Toten waren, sodann Rosenkranzperlen billiger Sorte, wie Bauern oder Fuhrleute sie tragen, und zuletzt einige größere Silberstücke sowie ein sehr schönes goldenes Kruzifix, das nur Popen als Amts- und Würdenzeichen führen. Die Geschichte fing an, interessant zu werden!

Um zu ergründen, ob auch Leute im Kampf gefallen und hierher verzogen worden waren, nahm ich die Totenschädel nacheinander einzeln in die Hand und suchte nach Kugellöchern und Hiebverletzungen. Ich mußte die Findigkeit des Räuberhauptmanns schrankenlos bewundern, denn in diesen Schädeln hatte der schlaue Bursche seine Schatzkammer angelegt. Einer war voller Goldstücke und edler Steine sowie Fingerringe und drei mit Silberstücken angestopft. Was ich hier gefunden habe, ist mehr als das, was Vater mir auf die Flucht mitgab. Ich nehme es auch mit ganz gutem Gewissen in Besitz, denn wer die Toten waren, kann heute niemand mehr wissen, und den Gerippen hier nutzt auch das schönste Gold nicht mehr.

Aber Mirko wird Augen machen! Vielleicht brummt er auch, aber das schadet nicht. An meinem Mut kann er jedenfalls nicht mehr im geringsten zweifeln. Danila wäre vor Schreck über diese Knochensammlung und aus Angst vor den Geistern der Ermordeten glatt gestorben. Mein Bruder Milan würde sich am meisten über meinen Mut freuen, denn er war es, der mir immer sagte, daß Tote nicht mehr schaden können und jedermanns Freunde sind.

Lange habe ich überlegt, wie wohl die Räuber ihre Opfer da herauf gebracht haben mögen, wo doch der Zugang fast nur handbreit und nicht für das Fortschaffen schwerer Körper geeignet ist. Ein starker Eisenstift mit eiserner Seilrolle am Höhleneingang löste das Rätsel. Man zog mittels dieser einfachen Vorrichtung die Gefesselten an einem Seil in die Höhe und trug sie an ihre letzte Ruhestätte. Schreien konnte da heroben jeder nach Belieben bis zur vollen Erschöpfung; es hörte ihn außer Füchsen und Wölfen keine Seele!

*

Mirko ist zurück und war über meine Entdeckung ganz entsetzt. Er wollte zuerst etwas auffahren, aber meine Erklärung: »Ich bin deine Gospodina und tue stets letzten Endes nur das, was mir beliebt!« imponierte ihm maßlos und er wurde ganz handsam. Ich bemerke zu meiner stillen Genugtuung, daß er mich seitdem oft verstohlen von der Seite bewundernd mustert und sein Wesen das früher öfters störende Bevormundenwollen völlig verlor.

*

Der Winter hat seinen Einzug gehalten auf unserer luftigen Höhe. Während es unten im Tal regnet, was vom Himmel fallen kann, haben wir hier oben Schneegestöber mit Sonnenschein dazwischen. Wir liegen über den vom Mittagsmeer herübersegelnden schwarzen Wolken, unseren Bundesgenossen im Kampfe gegen die eingedrungenen »Schwabas«. Denn diese schweren Regengüsse werden sämtliche Talwege in einen einzigen grundlosen Morast verwandeln, in dem Reiterei und Fuhrwerk stecken bleibt. Sämtliche Ströme und Wildbäche aber führen binnen einer Woche Hochwasser und reißen mit einiger Nachhilfe die Holzbrücken fort wie Strohwische. Gott selbst ficht auf Seite Serbiens, sagt Mirko.

*

Es liegt so wenig Schnee, daß unsere Esel und Ziegen den ganzen Tag im Freien sind und ihr Futter zusammensuchen können. Es bekommt ihnen das viel besser, als wenn man sie tage- und wochenlang im Stall einsperren müßte.

Danila, Jelica und ich haben Schneespiele in der Sonne erfunden, laufen jeden Tag ohne Kleider um die Wette, nehmen Sonnenbäder und reiben uns gegenseitig die Haut am ganzen Körper mit Schnee ab. Es ist erstaunlich, wie gut das bekommt und wie gesund wir dabei bleiben, trotz unseres Höhlenmenschendaseins. Jelica sagte gestern zu mir: »Du wirst alle Tage schöner und stattlicher von Figur!« Und das gleiche fanden Danila und ich von ihr. Jelica ist die üppigste von uns drei, ihr Busen könnte einen Bildhauer begeistern. Ich bin die größte, obwohl jüngste, war beim Austritt aus dem Institut noch etwas sehr schlank, werde aber hier oben in der freien Bergluft von Tag zu Tag voller, ohne ein Lot Fett anzusetzen.

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Mirko hat für unsere Esel im Tal Kukuruz aufgetrieben. Wie er das Meisterstück fertiggebracht, will er nicht sagen. Es scheint fast, als wäre so ein kleiner Rückfall ins frühere Räuberleben dabei. Er versichert aber allen Ernstes, daß niemand ein Haar gekrümmt worden sei. Wahrscheinlich werden Militärdepots von Lebensmitteln ins Gebirge herein verlegt, falls unsere Truppen noch weiter zurück müssen.

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Irgendwo müssen viele Kämpfer gefallen sein und unbeerdigt herumliegen. Wir sehen täglich immer größer werdende Flüge von Aasgeiern, Krähen und Raben nordwärts streichen.

Die Sorge um unsere Lieben drückt uns fast das Herz ab!

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Im Süden scheinen Truppenbewegungen vor sich zu gehen. Wir haben plötzlich Wölfe im Gebirge, ohne daß nennenswert Schnee liegt. Mirko sagt, die Bulgaren ziehen ihr Militär gegen uns zusammen und den Montenegrinern scheint es schlecht zu gehen.

*

Mirko liegt mit Fieber und sehr unordentlicher Frisur auf seiner Wolldecke und phantasiert von dem Bären, welcher beinahe über ihn gesiegt hätte. Er war mit Slobodu am frühen Morgen allein ausgezogen, um Hasen zu jagen. Gegen Mittag fand er im Neuschnee zu seinem maßlosen Erstaunen die Fährte eines Bären, hier eine sehr große Seltenheit. Das Raubtier mußte von weither zugewandert sein, wahrscheinlich aus dem Montenegrinischen herüber, versprengt vielleicht durch kämpfende Truppen. Am späten Nachmittag hatte Mirko endlich bemerkt, daß der Bär einen Widergang machte, was er nur tut, wenn er beabsichtigt, sich irgendwo in ein Versteck zur Ruhe einzuschieben. Ringsum war nur wüstes Trümmerfeld und Gesteinsmeer, bloß ein paar zimmerhohe Felsblöcke trugen Schwarzföhren- und Wacholdergebüsch. Dort mußte Medwed stecken, sagte sich Mirko, und feuerte Slobodu an, herumzusuchen. Der gute Hund gab vor dem Gezausicht sogleich wütend Standlaut, ohne daß der Bär herauskam. Die Sache wurde bald langweilig und nun beging Mirko die grenzenlose Verwegenheit, ganz nahe heranzutreten und große Steine in das Gebüsch zu werfen. Sein doppelläufiges Gewehr hatte er mit Rundkugeln geladen und trug es gespannt unterm Arm.

Plötzlich tat es da drinnen zwischen den Felsen ein einziges, aber schon ganz ohrenbetäubendes »Uha« und im selben Augenblick sprang ein riesiges schwarzes Etwas mit langem Satz heraus auf Mirko, der, fast ohne zu zielen, blitzschnell beide Läufe nacheinander darauf abdrückte! Er fühlte noch einen scheußlich schmerzhaften Hieb über den Kopf, dann einen atemraubenden Druck über der Brust, spürte eine zottige Masse über sich und stieß, weil sein rechter Arm mit dem Gewehr darunter lag, im letzten Dämmern des Bewußtseins mit dem linken Arm den herausgerissenen Handschar bis zum Heft in den Riesenkörper seines Gegners. –

Im Abenddämmer kam Slobodu mit heraushängender Zunge angerannt und heulte jämmerlich. Wir wußten natürlicherweise sogleich, daß Mirko verunglückt sein mußte, und machten uns zu zweit auf den Weg. Slobodu gebärdete sich vor Freude wie verrückt, als er unsere Vorbereitungen zum Abmarsch sah. Jelica mußte zu Hause bleiben, Feuer hüten und kochen. Danila und ich nahmen für alle Fälle eine große Zeltbahn mit, das lange Kletterseil, unsere Bergstöcke und liefen hinter dem vorauseilenden Hund her, so gut das im Scheine unserer großen Reflektorlampen nur auf diesen lebensgefährlichen Pfaden ging.

Wir fanden Mirko bewußtlos unter dem toten Bären, dem der eine Schuß ins Herz gegangen war. Mirkos Handschar steckte noch hinter der rechten Blattschaufel, vergraben bis ans Heft, die Hand des Bewußtlosen hatte den Griff nicht ausgelassen. Wir mußten jeden Finger einzeln lösen. Es kostete uns zwei gewiß nicht schwachen Mädels unsagbare Mühe, den treuen Mann unter dem schweren Wildkörper herauszuziehen. Des Bären Tatze hatte Mirkos dicke Schaffellmütze durchschlagen und einen Teil der Kopfhaut mitgehen lassen. Aber der Schädelknochen war heil geblieben und das Bluten hatte aufgehört. Danila richtete Mirkos Oberkörper etwas hoch und ich goß ihm Sliwowitz zwischen die Lippen. Man sagt ja, daß ein toter Serbe lebendig wird, wenn er sein Nationalgetränk riecht, und wirklich schlug unser Getreuer die Augen auf und schluckte. In kurzer Zeit ermunterte er sich vollends und konnte feststellen, daß kein Glied gebrochen war. Allerdings schmerzte es im Brustkorb sehr arg und die Schwäche infolge des tollen Blutverlustes jagte einen Fieberschauer nach dem andern durch seine Glieder. Wir mußten ihn führen und Mirko selbst drängte zu beschleunigtem Heimmarsch. »Zwei Stunden noch, Gospodina«, meinte er, »dann sind schon die Wölfe da und lassen bis morgen von dem ganzen schweren Burschen hier nichts übrig als die Knochen. Schade, ich hätte seine schöne Winterdecke ganz gerne abgezogen!«

Nach Mitternacht sind wir endlich heimgekommen, zweimal wurde uns Mirko ohnmächtig. Die letzte Strecke ging es nur mehr Schritt für Schritt in dichtem Schneegestöber und dazu heulte in der Ferne ein Wolfsrudel von recht achtbarer Stärke. Ich mußte die sonst ängstliche Danila wirklich bewundern. Sie hatte nicht die Spur Furcht und verließ sich absolut auf ihre famose Winchesterschrotflinte mit fünf Schüssen und den haarscharfen Handschar. Aus diesem kleinen Furchthasen vor Geistern wird ein Heldenweib, sobald es gegen Feinde aus Fleisch und Bein geht!

*

Mirkos Kopfwunde wird mit Absud von Wacholder gewaschen und dann mit Sliwowitz behandelt. Das brennt wie Feuer, läßt aber keine Vereiterung aufkommen und verhindert Wundfieber. Es ist uraltes Räuber- und Heiduckenrezept.

*

Unsere Rollen sind völlig vertauscht. Mirko liegt nun die dritte Woche und ich gehe mit einem von den beiden Mädels jeden Tag zum Jagen. Vier starke Bergfüchse, zwölf Hasen, neun Steinhühner und zwei Rehe habe ich allein schon gestreckt. Mein deutsches Gewehr mit den drei Läufen schießt aber auch ganz großartig. Danila versteht mit ihrer amerikanischen Flinte ebenfalls vorzüglich umzugehen. Aus einem aufstehenden Volk Steinhühner bringt sie öfters zwei Stück nacheinander herunter und diese Vögel fliegen wie der Sturm!

Der Schädel von Mirkos Bär hängt nun weiß gebleicht über dem Eingang unserer Höhlentüre. Mirko behauptet steif und fest, wir dürften sicher damit rechnen, daß uns nun ein zweiter Bär besuchen würde, denn in jedem Medwed stecke die Seele eines Jägers, der ohne Beistand des Popen in Sünden gestorben sei. Ich finde das eigentlich sehr gemütvoll und nett.

*

Mirko ist wieder voll bei Kräften und steigt heute zum ersten Male seit langer Zeit zu Tal, um Nachrichten einzuholen. Daß es keine guten sein werden, die er heimbringt, wissen wir im voraus.

*

Unser Alter kam schwerbeladen heim. Beladen mit Beute und Trauer im Serbenherzen. Unter den Österreichern fechten bereits einzelne Abteilungen Deutscher und der Kleinkrieg des ganzen Hinterlandes ist gegen diese Eindringlinge in Gang. Jeder einzelne Reiter oder Bagagewagen wird aus dem Hinterhalt rücksichtslos abgeschossen und dafür stellen die Schwabas jeden Serben an die Wand, den sie dabei erwischen.

Nun wurde auf schmalem Saumweg ein deutscher Transportwagen mit Begleitung überfallen und alles erschossen. Befehlshaber war ein stattlicher deutscher Offizier in grüner Uniform, der tot mit gebrochenem Genick unter seinem abgestürzten Gebirgspony lag. Mirkos Freund, der Ziegenhirt, war so klug, alle Briefe, welche der Schwaba bei sich trug, aufzuheben, und ich ersehe daraus mit tiefer Trauer, welch ungeheures Unglück über unsere Heimat kam. Wir sind restlos vernichtet, wenn nicht vom Meere her Hilfe durch die Franzosen und Engländer kommt. Die falschen Bulgaren fallen auch noch über uns her!

Was dieser Offizier an Ausrüstung besaß, brachte Mirko mit, soweit es für uns Wert hat. Am meisten gefällt mir das Fernglas, welches natürlich bestes deutsches Fabrikat ist. Der Tote muß übrigens ein sehr wohlhabender Mann von Adel gewesen sein, denn er trug eine herrliche Pistole mit Elfenbeingriff. Auf einer Seite ist sein Wappen eingraviert, auf der anderen die Buchstaben A. v. G. mit siebenzackiger Krone darüber. Auch sein Pallasch ist feinste Klingenschmiedearbeit und der breite, schwere Jagddolch, den er am Wehrgehänge trug, ist etwas vom Besten. Was die Deutschen machen, das ist gut, selbst der Neid gebietet diese Feststellung. Sogar die Photographie ist von einzigartiger Schönheit, welche der Offizier von seiner Braut in lederner Brieftasche trug. Ist das ein blondes Prachtweib! Sie ist in großer Gesellschaftstoilette aufgenommen, hat also oben sehr wenig an und kann sich wirklich sehen lassen. Das Mädel tut mir fast etwas leid. Sie muß ihn sehr geliebt haben. Am kleinen Finger der Linken trug er einen goldenen Verlobungsring mit Eichenlaubarbeit und den dazwischenstehenden Worten: »Mit Willen dein Eigen.« Ist das stolz! So möchte auch ich einst lieben dürfen und geliebt werden.

Wie froh bin ich übrigens, daß ich so vorzüglich Deutsch gelernt habe und jetzt alle Zeitungen und Schriftstücke des Feindes lesen kann. Ich staune über das Kartenmaterial der Deutschen. Sie wissen in unserem Lande vorzüglich Bescheid und auch die Karte von Montenegro, welche der Offizier besaß, ist riesig genau gearbeitet. Der Druck ist so klein, daß man ihn mit freiem Auge kaum zu lesen vermag, aber bei jedem Berg ist die Höhe in Metern angegeben. Von Milan habe ich gelernt, wie man Generalstabskarten studiert, und weiß Bescheid mit dem Kilometerzirkel des Schwaba.

Mirko steigt morgen wieder herunter, um Kukuruz und Militärbrot heraufzuschleppen, was er nur tragen kann. Auf meinen Vorschlag begleitet ihn Jelica mit zwei Eseln und erwartet ihn versteckt im letzten Bergwald.

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Danila ist mit Slobodu allein zum Jagen fort, mich trifft diesmal das Haushüten.

Es ist Mittag vorüber; sonderbarerweise sind eben alle Ziegen und die zwei Esel heimgekommen und haben Einlaß verlangt. Sollten Wölfe die Ursache sein? Das ist kaum zu denken, denn das Wetter ist ja wieder mild geworden und die Grauhunde jagen dann selten im Rudel.

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So habe ich mir die Erlegung meines ersten und vielleicht letzten Bären nie vorgestellt! Es ging alles so schnell, daß es wie ein Traum war. Plötzlich meckerten die Ziegen wie verrückt, die beiden Esel schrien, als steckten sie am Spieß, und ich ließ Karten und Zirkel liegen, griff zum Gewehr und eilte nach dem Ausguck.

Irgendein fremdes ungefüges Wesen bearbeitet ganz grob die Balken der Tür, daß diese bebte. Ein Blick nach unten sagte alles. Da draußen mühte sich ein prächtiger Bär, viel größer als jener, den Mirko erlegte, mit seinen langen Nägeln die Tür zu zerkratzen. Ich schob Ruck für Ruck, Griff um Griff die Mündung des Gewehrs zur Schießluke hinaus, ließ das Silberkorn der Waffe völlig im Schwarz des Zottelpelzes eintauchen und drückte blitzschnell nacheinander zwei Schüsse ab. Was nun folgte, kann keine Feder beschreiben! Der tödlich Getroffene brüllte, daß die Berge hallten, hieb mit den Branten um sich, daß Steine und Erdreich herumflogen, wollte sich erheben und fiel stets wieder um. Ich hatte rasch auf den dritten Lauf umgestellt und schoß nochmals. Da hatte Medwed genug und wurde still.

Eine knappe halbe Stunde später kam Danila mit Slobodu heim von der Jagd und war vor Erstaunen ganz starr. Sie hat die Schüsse schon sehr deutlich als aus meinem Gewehr stammend erkannt und ist, aus Sorge um mich laufend, atemlos angekommen.

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Meine Finger sind so steif, daß ich kaum die Feder halten kann. Nie hätte ich gedacht, daß das Abschärfen einer Bärendecke eine solche Quälerei darstellt. Mirko wird Augen machen, wenn er sieht, wie seine Gospodina das Haus bewacht hat!

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Mirko ist voll schwerer Sorge. Immer enger zieht sich der Feindeskreis um unser Land. Es steht zu befürchten, daß mit Eintritt der milderen Jahreszeit vorgeschobene Posten auch unsere Planina durchstreifen, dann wären wir halb und halb lebendig Begrabene in unserer Höhle. Wir müssen fort und den deutschen Kordon zu durchbrechen versuchen, bevor er zu stark wird.

Mirko behauptet, nach Albanien hinüber jeden Fußbreit im Gebirge zu kennen auf der Strecke, die schon unsere unglückselige Armee auf ihrer Flucht nach Skutari zurücklegte. Er macht kein Hehl daraus, daß dies nur ein uralter Schleichpfad von Räuberbanden ist seit Menschengedenken und jeder falsche Tritt sicheren Tod bringt. Aber wir haben das Grauen vor diesen drei Buchstaben längst verlernt und setzen ihnen ein anderes Zauberwort entgegen – Slobodu!

Ja, unser vielgetreuer »Slobodu« soll ebenfalls mit, wir lassen ihn keinesfalls in Feindeshände fallen. In vier Wochen ist es Zeit zum Abmarsch. Bis dahin müssen wir auf Mirkos unbedingtes Verlangen täglich die tollsten Kletterübungen machen. Insbesondere besteht er darauf, daß wir den Gebrauch der Finger in steilen Felswänden beherrschen und lernen, unsere Esel über kaum handbreite Traversen mit dem Seil zu lotsen. Ich staune, was ein richtiggehender Räuber alles können mußte, und bewundere jetzt diese einst verachteten Leute. Keiner unserer dicken, vollgefressenen reichen Bürger von Nisch wüßte sich hier zu benehmen. Wir segnen jeden Tag die Stunde, in der meinem guten, armen Vater, den die Schwabas sicher schon ermordeten, der Gedanke kam, uns Mirko, den ehemaligen Räuber der Planina, mitzugeben.

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Letzte Woche vor dem Ausmarsch! Unsere Finger gleichen hartem Stahldraht. Jedes von uns drei Mädels hat um einige Kilo abgenommen. Die Ziegen bringt Mirko zu Tal, wir schenken sie seinem Freund als Lohn für treue Hilfe. Er besorgte uns auch neue Hufeisen für die Esel, das Beste vom Besten. Er fand eine ganze Menge in einem »verunglückten« österreichischen Transportwagen.

Ich zweifle, ob wir mit den Tragtieren durch den Kordon kommen. Aber Mirko behauptet »ja« und meint, ohne die Esel und Fourage könnten wir überhaupt nicht daran denken, lebend über das Grenzgebiet zu kommen. Es gibt bloß Sieg oder Tod!

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Letzter Eintrag in unserer lieben Höhlenwohnung, die so viele Tränen, Sorgen und Kummer, aber auch manch stolze Jägerfreude und hoffnungsvolles Schaffen sah.

Unser Reisegepäck ist recht klein und bescheiden geworden. Wir müssen die Esel hauptsächlich nur mit Lebensmitteln beladen. Was dableibt, gehört nun alles Mirkos Freund, der dadurch nach seinen Begriffen ein wohlhabender Mann geworden ist. Er ruft den Segen sämtlicher Nationalheiligen Serbiens auf unsere Häupter herab und brennt für unsere Errettung geweihte Kerzen an.

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Der Durchbruch erfolgt nach genau ausgearbeitetem Kriegsplan. Demzufolge markiert Mirkos Freund mit seinen Buben zusammen in größerer Entfernung einen Überfall des deutschen Kordons durch Abgabe von Schüssen aus deutschen Gewehren und einer uralten Buschka, genau so, als wären Militärposten und Insurgenten handgemein geworden. Dann gibt der Ziegenhirt noch aus einer deutschen Leuchtpistole Schüsse mit roten Leuchtkugeln ab. Er brachte heraus, daß dies ein Zeichen der Schwaba-Vorposten ist, wenn sie Verstärkung anfordern. Nachdem nun ohnedies der ganze Kordon des wildzerklüfteten und dicht mit Unterholz bewachsenen Gebirges nur aus wenigen kleinen Abteilungen besteht, muß es eine Lücke geben, wo wir mit einigem Glück durchschlüpfen können. Auf Mirkos Freund und seinen Sohn kann niemals Verdacht fallen, denn unser Durchbruch erfolgt mehrere Tagmärsche von seinem Wohnort entfernt an einer Stelle, wo nirgends eine serbische Ansiedelung ist.

Wir ziehen ab. Schicksal, nimm deinen Lauf, wir sind zum Letzten entschlossen und fallen, wenn es sein muß, mit dem Handschar in der Faust, für ein größeres Serbien!

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Erste Rast auf der Flucht.

Wir sind durch – aber um einen hohen Preis!! Unsere tapfere Danila ist nicht mehr. Sie fiel durch das einsetzende Streufeuer eines Maschinengewehrs, als wir schon durchgebrochen waren. Danila muß sogleich tot gewesen sein, denn sie gab auf Anruf keinerlei Zeichen mehr; ihr Esel lief uns ganz von selber nach, ihm war ein Ohr durchschossen worden. Mirko behauptet, daß die Schwabas ihre Feinde sehr ordentlich bestatten. Um so mehr hoffen wir, werden sie eine schöne tapfere Serbin im Tode ehren, die in Männerkleidung gefallen ist, nach Mannesart mit der Waffe kampfbereit in der Faust.

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Unser Fluchtweg ist gar nicht zu verfehlen, er sieht geradezu entsetzlich aus! Es ist eine einzige Todesstraße, besät mit den bleichenden Gebeinen all derer, welche auf ihrer Flucht vor dem Erbfeind, unvorbereitet und unausgerüstet für solche Gebirgspfade, zugrunde gingen an Hunger und Entkräftung. Zuerst war uns der Anblick von diesen grinsenden Totenköpfen ganz entsetzlich, jetzt sind wir völlig stumpf geworden.

Wehe uns, wenn wir nicht so viele Lebensmittel auf den guten Tragtieren hätten, und dreimal wehe, wären wir nicht in so scharfer Weise auf härteste Kletterarbeit trainiert worden. Außer Berghasen gibt es hier kein eßbares Wild mehr. Mirko erlaubt uns aber die ersten vier Tagreisen keinen Schuß. Er meint, es könnte uns das noch irgendwie zum Verhängnis werden, obwohl wir bis jetzt keine Menschenseele mehr antrafen.

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Nimmt denn diese grauenhafte Kletterei gar kein Ende mehr? Das Wetter hat zu allem Überfluß auch noch umgeschlagen und kalter Regen peitscht uns, vom Meere herkommend, ins Gesicht. Hätten wir direkt von Nisch kommend, diese Anstrengungen durchmachen müssen, lägen wir jetzt auch schon in irgendeiner der endlosen tiefen Schluchten, und die Aasgeier nagten unsere Knochen ab, wie diejenigen der armen Soldaten.

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Wenn die Quälerei nicht bald aus ist, war alles umsonst! Mirko wird von Tag zu Tag spitzer um die Nase und seine sonst so gesunde tiefbraune Gesichtsfarbe ist einem unheimlichen Gelb gewichen. Sein alter Körper vermorscht zusehends. Er will es nicht merken lassen, aber ich sehe das Schlimmste voraus. Die einzige Rettung für den treuen Menschen wäre Ruhe und Pflege, aber wir haben noch fünf Tage bis an die Küste.

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In weiter Ferne der erste Streifen vom blauen Meer! Wir sind bei Hirten in einer schmutzstarrenden Hütte untergekrochen, nur um endlich einmal wieder warm zu schlafen.

Die Leute gefallen mir gar nicht. Fortwährend werfen sie neidische, begehrliche Blicke auf unsere feinen Waffen und die Esel, flüstern zusammen, wenn sie meinen, wir hörten nicht hin. Es sind richtige Gurgelabschneider, aber Mirko behauptet, solange und weil wir ihre Gäste am Feuer sind, krümmen sie uns kein Haar. Gastrecht ist hier das Heiligste, was es gibt. Aber sobald wir fort sind, werden sie uns nacheilen und uns die erste Nacht am Lagerfeuer im Schlaf ermorden! Geld dürfen wir keinesfalls sehen lassen, sagt Mirko, sondern ihnen etwas schenken, was praktischen Wert hat. Wir einigen uns auf einen österreichischen Gasser-Revolver, weil in Albanien und Montenegro die Munition dazu überall zu haben ist.

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Nun sind wir auf dem Eilmarsch zur Küste; es geht bergab, unsere guten Esel tragen nur mehr ganz leichtes Gepäck und freuen sich mit uns der wärmeren milden Luft. Unsere Sorge wegen eines Überfalls war gänzlich unbegründet. Wir zündeten ein großes Beiwachtfeuer an, schliefen aber nur abwechselnd in ziemlicher Entfernung davon unter einer überhängenden Felswand, so daß wir im Rücken und über den Köpfen gedeckt waren.

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Ein armes Fischerdorf am Meer. Wir sind am Ziel und Mirko klappt zusammen! Jelica und ich wachen abwechselnd am Lager dieses Treuesten aller Treuen. Er schläft fast immer, erkennt uns beim Erwachen manchmal und lächelt dann selig. Sein Wort, das er meinen Eltern gegeben, ist eingelöst, er kann als ehrlicher Mann sterben, sagte der Brave! Ja, in diesem ehemaligen Räuber steckt die Treue eines Hundes und die Seele eines Helden. Die Fischer tun alles für uns, was in ihren Kräften steht, aber es gibt hier auf Meilen keinen Arzt. Ich glaube jedoch, daß selbst der größte Professor unserem Mirko nicht mehr helfen könnte.

Vor zwei Stunden lief Slobodu an den Strand und begann jämmerlich aufs Meer hinaus zu heulen. Jelica und ich wußten sogleich, daß es mit Mirko zu Ende ging. Nun ist er hinüber zu Danila – und wie ich mit absoluter Sicherheit befürchte, zu Vater und Mutter – um ihnen zu sagen, daß wir leben.

Wo wird Milan sein? Wenn er sich übers Gebirge hat retten können mit den Resten der Truppe, so treffe ich ihn unbedingt in Saloniki, sagen uns die Fischer. Es soll dort ein riesiges Heerlager sein. Wir können mit einem Küstensegler, welcher nächste Woche hier anlegt, in fünf Tagen dort sein.

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Abschiedstränen. – Slobodu und die Esel bleiben bei den guten Fischern. Unser Hausherr ist leidenschaftlicher Jäger und ich sehe, daß es alle Tiere im Hause bei ihm gut haben. Wir schenken ihm sämtliche Ausrüstung, ein überzähliges Gewehr und Mirkos Waffen. Mit uns nach Saloniki nehmen wir nur das viele Geld, den Rest unserer Wäsche und Kleidung, der grauenhaft genug aussieht, und die Waffen, welche uns durch Not und Tod geleitet.

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Wir sind an Bord und halten mit vollen Segeln Kurs direkt auf Saloniki – so Gott will in die Arme Milans. Ein Glück, daß uns der Höhlenaufenthalt und die Flucht über die Albanerberge stahlhart gemacht. Sonst wäre es auf diesem »Räuberschiff« vor Gestank gar nicht auszuhalten. Von den Ratten, Flöhen, Wanzen und Läusen will ich gar nicht anfangen, denn das gäbe kein Ende! Man behandelt uns sehr respektvoll. Ob auf Grund der schweren Bewaffnung und Männerkleidung, oder weil wir den Kapitän fürstlich bezahlten, sei dahingestellt.

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Mit dreitägiger Verspätung endlich angelangt! Der Kontrolloffizier ist Engländer. Er zog zuerst die Nase kraus über unser verwildertes Aussehen, dann aber wurde er enorm höflich und lotste uns in das beste Hotel, wo wir sogleich badeten, uns frisieren ließen und Toiletten bestellten. Der ganze Nachmittag ging damit vorüber, bis wir uns wieder voll als Damen fühlen durften. Beim Diner ertappte ich mich wiederholt beim Griff nach Handschar und Revolver – so war einem das schon zur zweiten Natur geworden! Ganz Saloniki ist ein einziges riesiges Lager, aber die Offiziere im Hotel, darunter viele Franzosen, behaupten, daß wir morgen mit absoluter Sicherheit Milan finden würden, sofern er überhaupt noch unter den Lebenden weilt. Das serbische Lager ist eine Stunde außerhalb der Stadt und es wird uns ein Auto zur Verfügung gestellt. Morgen will uns der französische Oberbefehlshaber persönlich empfangen, um über die abenteuerliche Flucht aus Nisch, unser Höhlenleben und den Durchbruch ans Meer Bericht entgegenzunehmen.

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Wir haben Großes erleben dürfen und man hat uns Ehren erwiesen, wie hohen Offizieren. Die Wache trat ins Gewehr und das Spiel wurde gerührt! Im Lager stand alles auf dem Kopf, als unser Wagen einfuhr, und eine Viertelstunde darauf stürzte Milan in meine Arme, die Brust mit Orden bedeckt, aber den – Trauerflor für unsere Alten um den Arm. Die Schwabas haben sie zusammen mit dem Popen standrechtlich ermordet, weil man sie in Zivilkleidern, mit den Jagdgewehren auf eingedrungene Soldaten schießend, gefangennahm.

Von jetzt ab gehört mein Leben nur noch der Rache! Einmal wird mir der Himmel gnädig sein und ich den Eid der Blutrache einlösen können am Mörder.

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Die Audienz war erhebend! Man hat uns gefeiert wie Helden und ich komme ins Dolmetschbüro der Generalität. Jelica darf in Saloniki bleiben und warten, bis der Krieg aus ist. Geld genug dazu hat sie ja.

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Mein Dienst ist anstrengend, aber hochinteressant. Dazu lerne ich nun noch Italienisch im Austauschverkehr mit dem Adjutanten, der von mir serbischen Unterricht nimmt. Mein Dienst währt von morgens neun bis abends neun und dazu kommt noch der außerordentliche Betrieb, wenn lange Übersetzungen wichtiger Schriftstücke zu machen sind.

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Jetzt weiß ich, was das Wort »Organisation« bedeutet! Keine Nation der Welt hat das so großartig erfaßt wie die Briten. Dazu sind sie so zähe wie unsere Sumpfbüffel und im Krieg noch viel unbarmherziger als der grausamste Planinaräuber.

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Um die Schwabas zieht sich der eiserne Ring. Serbien wird gerächt und neu aus der Asche entstehen, größer als es je gewesen. Geist des Amselfeldes, segne unsere Waffen!

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Die nun folgenden Eintragungen überschlug der Polizeichef und suchte nach Daten, in den die Übersiedlung nach Wien geschildert war. Er brauchte nicht allzulange zu forschen. Da stand:

Der Krieg ist aus! Aber mein Vaterland wird noch lange aus den Wunden bluten, die ihm geschlagen wurden. Mir nahm der Schlußakt des großen Dramas das einzige, was ich noch besessen: meinen teuren Bruder Milan. Er fiel im Sturm, tapfer fechtend, an der Spitze seines Bataillons als Major gegen preußische Jäger. Das müssen wohl die besten von all den guten Soldaten gewesen sein, die der deutsche Kaiser seinen Bundesgenossen als »Korsettspangen« zu Hilfe sandte! Alle Entente-Truppen haben diese Tapferen bewundert, die fochten bis zum letzten Mann, während der feige bulgarische Bauernlümmel sich drückte und nach Hause lief.

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Ich gehe nach Wien an die Handels- und Exportakademie, um zu studieren. Mein italienischer Professor-Adjutant gab mir den Rat. Er meint sehr richtig, es sei keine Schande, vom ehemaligen Feind zu lernen, und überdies habe kein Volk der Welt ein so kurzes Gedächtnis in politischen Dingen wie diese Schwabas! Ich brauchte nicht zu besorgen, daß man mich als Serbin schief ansieht und unfreundlich behandelt.

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Jelica heiratet reich, einen der größten Exporteure am Platz. Er macht in Rohhäuten und Leder, handelt mit Tabak und ist ein stattlicher Mann.

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Wien – Wintersemester 1918. Neue Welt, neue Arbeit, neue Menschen. Das Studium ist Spielerei im Vergleich zum Arbeitsgang beim Generalstab. Wir sind viele Serben, haben einen eigenen Studentenklub »Balkan«, in dem ich aber wenig verkehre. »Vorwärts und durch« ist meine Losung.

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Dr. Rothenbucher blättert weiter und fand den Eintrag:

1922 – Finis academiae! Ich habe mein Hochschulzeugnis »magna cum laude« ausgehändigt erhalten. Zu Hause lag ein Brief vom Generaldirektorium einer der größten Aktiengesellschaften Österreichs, man habe durch das Rektorat der Akademie meine Adresse erhalten, die Stelle einer Handelskorrespondentin für Balkansprachen sowie Italienisch und Französisch sei frei, man ersuche um Vorstellung!

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Der Generaldirektor ist ein bildhübscher, nicht mehr junger Mann von geradezu fesselnder Liebenswürdigkeit im Verkehr bei allem Ernst und den Formen eines Grandseigneurs. Er heißt Hubert Lenk, war vier Jahre im Felde und hat gleich uns allen nun die Arbeit mit festen Händen angepackt.

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Das Gebäude der Generaldirektion ist ein Prunkbau, die Räume wahre Schmuckkästchen guten Geschmacks. Mein Dienst macht mir Freude und ist hochinteressant. Ich beginne, die Österreicher mit ganz anderen Augen zu sehen. Herr Lenk hat die Energie einer Kraftmaschine, die hundert Räder fortreißt, und kann dabei im persönlichen Verkehr harmlos fröhlich sein wie ein Kind.

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Die Firma dehnt ihren Wirkungskreis aus. Ich muß meinen Chef zu den großen Sitzungen begleiten und fahre mit ihm erster Klasse Expreßzug. Sämtliche Angestellte des Hauses behandeln mich mit auffallender Hochachtung. Direktor Stühler meinte, das sei der »Pour-le-mérite-Orden«. Übrigens ist der Dienst einer Geheimsekretärin enorm anstrengend und verantwortungsvoll. Übersieht man in den Übersetzungen der Sitzungsprotokolle das Geringste, so kann hernach der Gesellschaft ein Riesenschaden entstehen.

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In meinem Arbeitstag ist eine ganz neue Note gekommen. Wir trafen von Budapest her mit Verspätung von drei Stunden in Wien ein und alle Restaurants waren schon geschlossen. »Hungrig lasse ich Sie keinesfalls nach Hause fahren«, sagte Herr Lenk und – ich muß überdies an ihren Großmut appelieren, wir haben noch Wichtiges zu besprechen, was ich im Abteil vor Unberufenen nicht erörtern durfte. Die Konkurrenz hat ihre Spione überall.« Wir dinierten also in seiner Villa, welche ich dabei das erste Mal kennenlernte und deren Räume er mir in flüchtigem Rundgang zeigte. Was Kultur, Geschmack, Kunstsinn und Naturfreude im Verein schaffen können, das ist hier beisammen! Herr Lenk ist Jäger seit seinen Knabenjahren und das Vestibül und Jagdzimmer starren von Trophäen.

Nachdem der geschäftliche Teil erledigt war, tranken wir zusammen noch Sekt, dann Mokka, und ich erzählte meinem Chef von der Planina, unserm wilden Jägerleben und dem Gewaltmarsch über das Albanergebirge. Er hörte zu, mit funkelnden Augen in atemloser Spannung, als hätte ich ihm weiß Gott was für eine Weltgeschichte vorgetragen. Seine Freude war grenzenlos! »Sie waren bis heute meine Generalsekretärin, mein Adjutant in allen Sitzungsschlachten unserer Gesellschaft. Von jetzt ab müssen Sie mein Kamerad und Waidgesell werden, draußen in meinem herrlichen Hirschrevier Satzenufer, wo ich auch ein reizendes Jagdhaus stehen habe«, sagte Lenk.

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Montag. Zurück von Satzenufer, einem Jägerparadies mit prächtigem Personal und Hunden, so schön wie mein »Slobodu« war!

Ich bekomme ein Zimmer ganz für mich, und wir fahren von nun an jeden Samstag hinaus und Montags herein.

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Lenk ist als Jäger so unermüdlich zähe wie als Geschäftsmann. Seine zwei Revierjäger vergöttern ihn.

Was mir gar nicht gefallen will, ist der Neffe meines Chefs, dieses Ekel von einem Franz Gräber. Kein Bürofräulein hat vor ihm Ruhe und hier draußen jagt er auf Bauernmädels und alles, was sonst Röcke anhat. Seine Schulden ragen zum Himmel und Herr Direktor Stühler hat immer schwere Sorge, daß der Taugenichts sich einmal an Geldern der Gesellschaft vergreift. Unser Jagdpersonal kann ihn nicht riechen, denn er ist ein rücksichtsloser Wildmörder, dessen Entgleisungen den Jagdherrn in rasenden Zorn versetzen. Ich erfuhr da zum ersten Mal, wie Lenk aussieht, wenn er wütend ist!

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Weihnacht. Mir ist noch ganz benommen und wirr im Kopf. Für mich hatte der Chef eine Bescherung gerichtet, die atemraubend schön war und Unsummen gekostet haben muß. Wir waren ganz allein, er im Frack und ich in der schönsten Dinertoilette, die in Wien zu haben war. Doch ganz der Reihe nach:

Die Sitzung in Triest hätte uns bald einen tödlichen Stoß versetzt. Die Falle war raffiniert gestellt, und als ich beim Übersetzen darauf kam und die Stelle beanstandete, war bei der Gegenseite die Wut grenzenlos. Der Vertrag wurde sofort annulliert, wir reisten ab und in Wien lag bei unserer Ankunft schon eine Depesche vor, daß die Gesellschaft vor dem Konkurs stand, sie hätte sich nur dann noch halten können, wenn der Vertrag mit uns zu ihrem absoluten Vorteil ausschlug. Das Weihnachtsgeschenk der Aktiengesellschaft ist bei Hofjuwelier Moraner gearbeitet und könnte von einer Fürstin getragen werden. Alles in Platin gefaßte Smaragde und Brillanten, dazu genau passend ein Marquisenring von Hubert. Ja, ich habe ein Recht, meinen Chef mit Vornamen zu nennen – denn wir sind seit vorgestern – Freunde fürs Leben! Die Stimmung nach der Bescherung war sehr heiter geworden, ich spielte Geige – slawische Volkslieder, und dann gab es Sekt mit Süßigkeiten.

Wie alles kam – ich weiß es nicht mehr! Es muß gegen Morgen gewesen sein, als es im Salon unerträglich heiß wurde und ich mich im Schlafzimmer Huberts etwas mit kaltem Wasser und Eau de Cologne abrieb. Die Achselbänder meiner ohnedies mehr als ausgiebig dekolettieften Robe waren dabei herabgeglitten und da bat mich Hubert um meine Einwilligung, zu einem lebensgroßen Porträt zu sitzen – ganz allein für ihn. Er wollte es in seinem Schlafzimmer aufhängen zur Erinnerung an heute – die erste Weihnacht in seinem Hause. Ich lachte und meinte, das käme schön teuer, obendrein sei die Sache undankbar, denn in wenigen Jahren könne kein Mensch mehr die Mode von heute anschauen, ohne Mitleid zu empfinden.

Hubert zerdrückte seine Zigarette in der Aschenschale auf Talergröße, was er immer tut, wenn ihm etwas nahegeht, und sagte langsam: »Gut! Dann also ein Porträt vom ersten Professor Münchens – sine sine; ohne Binden und Bandagen – wie der Fechter sagt –, wenn Sie mir vertrauen und mich ein ganz klein wenig lieb haben!« Das klang mir viel zu feierlich und ich dachte, die Sache mit heiterer Neckerei zu parieren, bei der sehr unvorsichtigen Frage: »Sie wissen ja gar nicht, ob ich nicht einen häßlichen Leberfleck besitze, bei dessen Anblick der Malerprofessor in Ohnmacht fällt?«

Nun ging erst ein lustiges Wortgeplänkel los, in dessen Verlauf Hubert mich an die Habsburger Prinzessinnen erinnerte, welche dem Wiener Maler Markart Modell standen, splitternackt, so wie Gott sie geschaffen. Wir haben sodann das riesengroße Bild »Einzug Kaiser Karls in Antwerpen« in Huberts Schlafzimmer eingehend besichtigt und da packte mich doch etwas der Stolz, mit diesen gewiß schönen Modellen es auch aufnehmen zu können. Ich sagte »ja« und nun war vom ersten Schritt nicht mehr weit zum zweiten, den Vergleich sofort anzustellen. Und dann gab es einen Hagelschauer von Küssen und ich wurde sein Eigen im Sturm. – Es hat mich auch beim Erwachen nicht eine Minute gereut.

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Wir reisen immer zu neuen Sitzungen, neuen Gründungen. Hubert hat mir einen fürstlichen Trousseau zusammenstellen lassen, meine Toiletten erregten Aufsehen. Es macht ihm riesige Freude, wenn Spitzen von Industrie und Handel seine »Geheimsekretärin« bewundern, an deren linker Hand der – Verlobungsring steckt – das kostbare Meisterstück aus Moraners Atelier.

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Frühjahr. Hubert fährt zu Ostern ins Gebirge zur Jagd auf Auerhahn und Spielhahn. Ich darf mit! Was ist die armselige Planina, was der öde Karst gegen diese Pracht der Hochalpen! Und was sind diese Bergbewohner für liebe, sonnige Menschen.

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Mai. Wir sind jeden Samstag in Satzenufer und träumen unsern Liebestraum. Der Professor aus München ist da, um mein lebensgroßes Bild fertigzustellen. Mir ist es im Freien draußen am Donaustrand auch viel lieber als im Atelier. Nach Huberts ausgesprochenen Willen hat mich der Professor als Waldnymphe dargestellt, die mit dem Triton am Mund einen Hirsch ruft. Ich stehe mit einem Fuß fast im Wasser, habe mit beiden Händen den Schnecken umfaßt und sende den Kampfruf über einen Donauarm. Eigentlich müßte es ja Herbst sein, aber auf dem Bilde kommt ja nur Wasser, Himmel und Strand als Hintergrund in Betracht. Und diese sind im Mai genau so schön blau mit Silber wie im September.

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Sommernachtstraum. Wieder im Gebirge, diesmal im südlichsten Teil, hart an der neuen Landesgrenze, um auf Garns zu jagen. Wir haben nur wenig Zeit, weil Hubert anschließend zur Inspektion seines Waldbesitzes nach Bruck an der Mur fahren muß.

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Im Revier steht, seit acht Jahren dem Personal bekannt, ein weißer Gams. Er ist um hohes Abschußgeld freigegeben, aber bis jetzt wollte ihn noch kein Herrenjäger haben. Der alte und mehr als einmal bewährte Glaube, daß die Erlegung eines weißen Gams dem Schützen sicheren Tod binnen Jahresfrist bringe, hält viele davon ab. Ich beschwöre Hubert, das Wild nicht zu strecken, mein alter Mirko kannte auch die Sage vom Zlatorog und der Rojenica und hätte um alle Räuberschätze Serbiens nie den Schuß auf den verzauberten Bock gewagt.

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Ein leuchtend schöner Julitag. Im Tal unten brauen noch dichte Nebel, aber hier oben ist alles in blendendes Licht getaucht, brennen riesige Almrosenfelder neben tiefdunklen Latschen. Man weiß nicht, was schöner blau ist, die Enziankelche auf den Almwiesen oder der Himmel, in welchen die Bergspitzen ragen, welche den weißen Gamsbock beherbergen sollen. Zwei Jäger und acht Mann sind seit gestern abend unterwegs, um das seltene Wild aus seinem gewohnten Einstand herauszudrücken und uns auf einen Zwangswechsel zu riegeln, wo Hubert und ich einen Stand im dichten Latschengestrüpp haben. Der Schuß ist trotzdem nicht leicht, die Entfernung immerhin zweihundert Gänge, das Wild hell, die Felsen im Sonnenschein fast von gleicher Farbe, dazu das grelle Licht hier oben so blendend, daß einem die Augen schmerzen.

Hubert ist auf der Jagd sonst die eiserne Ruhe selbst, scheint vor dem Schuß überhaupt nur aus härtestem Stein zu bestehen und wird erst bebender Nerv, wenn das Wild liegt. Er setzt ja auch seinen ganzen Riesenstolz darein, so zu treffen, daß man meint, es hätte der Blitz eingeschlagen. Es ging schon auf Vormittag, als in dem vor uns liegenden Steilhang sich erstmals Unruhe bemerkbar machte, Jochdohlen schrien auf, ein großer Raubvogel klafterte mit eilenden Schwingenschlägen hinaus, der Sonne entgegen, und dann kamen die ersten flüchtigen Gams auf dem Wechsel daher. Es war natürlich wie stets junges Zeug mit den Müttern. Dann war längere Zeit Ruhe, bis nacheinander zwei gar nicht üble Böcke anprellten. Nach einer halben Stunde sprang ziemlich flüchtig ein ganz alter Bock an, welchen jeder, auch der heikelste Herrenjäger, unter normalen Verhältnissen als erstklassige Beute angesehen hätte. Hubert sandte ihm nur einen kurzen bedauernden Blick nach und bohrte das Auge dann wieder rastlos suchend in das Gewirre der Felsen. Nur kurze Zeit noch, dann mußte der Weiße kommen oder alles war umsonst! Denn einmal in seinem Haupteinstand beunruhigt, würde der Alte für dieses Jahr auf Nimmerwiederschauen im wildesten Felslabyrinth des Berges verschwinden, soviel war für jeden erfahrenen Bergjäger sicher.

Da – hatte ich ihn auch schon im Glas! Er war noch sehr weit entfernt, hob sich kaum von dem gelbweißen, flimmernden nackten Felsgestein ab und kam vorsichtig in keineswegs übereilten Fluchten näher. Immer wieder blieb der scheue Alte stehen, äugte in den Trieb zurück und wäre offensichtlich fast lieber nach dieser Richtung als vorwärts gegangen. Im Trieb mußte einer der Leute das bemerkt haben und unmittelbar hinter dem Bock prasselte, von der Höhe kommend, ein ganzer Hagel abgelassenen Trümmergesteins herunter. Das half und wenig später packte er den Zwangswechsel, welcher, etwa dreihundert Meter lang, nur handbreit längs einer kirchturmhohen Prallwand lief. Wo dieser Pfad endete, begann ein Almrosenfeld, und das lag schon im Schußbereich.

Ich getraute mir gar nicht mehr zu atmen. Hubert war trotz der Hitze kreidebleich geworden, hatte die schußfertige Büchse auf den Wettermantel gelegt und den Kolben schon an der Wange. Hinten im Trieb krachte jetzt ein Wehrschuß, dem helle Jodler folgten – die Jäger hatten genau das Einspringen des Wildes beobachtet und verhinderten dadurch dessen Zurückprellen.

Wie die weißgelbe Decke des sehr starken Bockes sich vom Rot der Almrosen scharf abhob, brach Huberts Schuß und das Ziel war in dem Blütenmeer spurlos verschwunden, bevor noch das Echo, von den Felswänden zurückgeworfen, die Bergwelt mit seinem Grollen erfüllte. Der Bock lag mit ausgezirkeltem Herzschuß und bot in seiner weißen Farbe auf dem prangenden Rot der Blüten tatsächlich ein gespensterhaft schönes Bild.

Hubert maß funkelnden Blickes seine wunderbare Beute, riß den durchgewetterten grünen Steirerhut vom Kopf und sandte den Waidsdirei der Deutschen in die Berge, daß es hallte. Noch lange haben wir dem Bock die Totenwacht gehalten, ohne ein Wort zu sprechen. Hubert hält an diesem urdeutschen Jägerbrauch strenge fest, und ich finde es schön, dieses Schweigen vor der toten Beute, die dem Blei des Stärkeren erlag und ein Stück der Allmutter Natur ist wie wir selber.

Mirko erzählte mir stets, daß der Geisterbock Zlatorog goldene Hörner trüge. Huberts Bock aber hat ganz normale schwarze Krucken, dick, hoch, schön gehäkelt und voll Latschenpech, wie es sich eben gehört für solchen Bergesalten. Am Ende ist's also doch der richtige Zlatorog nicht und Hubert darf nach einem Jahr weiterleben!

Dieser weiße Bock machte das ganze Bergdorf verrückt. Als wir damit ins Tal kamen, liefen die Leute aus den Häusern, schrien Waidmannsheil, Juhu und jodelten wie närrisch. Vor dem Gasthaus aber standen die Musikanten und bliesen Tusch, daß ihnen die Köpfe blaurot anliefen.

*

Nach Bruck fahre ich nicht mit; diese Besichtigung von gefällten Bäumen stimmt mich traurig, und Sägewerke mit ihrem ewigen Rattern und Fressen durch einstmals blühendes Leben sind mir entsetzlich. Ich muß immer denken, es wird dem Baum das Herz langsam in Trümmer geschnitten, welches vielleicht hundert und mehr Jahre so treu durch alle Stürme ausgehalten. Auch trifft sich Hubert mit seinem Bruder und die beiden haben sich lange nicht mehr gesehen. Da ist ein Drittes nur störend.

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Eine Riesenüberraschung!! Beim Betreten meines Wiener Büros begrüßte mich Direktor Stühler enorm herzlich und legte mir in Huberts Auftrag ein Rundreiseheft erster Klasse Wien-Bukarest-Nisch-Saloniki-Triest-Wien auf den Schreibtisch. Ich werde, wenn auch nur im Flug von drei Wochen, die teure Heimat wiedersehen, Belgrads Feste grüßen, am Grab der Eltern beten, hinaufschauen zur Planina, an der Stätte weilen, wo Milan mit seinen Tapferen den Heldenschlaf hält und träumt von seines Serbenvolkes Größe, die er miterkämpft. Ich werde Saloniki aufsuchen und die Stätte meines dreijährigen Schaffens fürs Vaterland, nach Skutari hinüberfahren, dem toten Mirko Dank sagen für seine treuen Dienste und seinen Hügel schmücken mit dem schönsten Marmorstein von Karrara. Ich darf Slobodu und die Esel wieder streicheln und den braven Fischern die arbeitsharten Fäuste drücken, Jelica umarmen und voll Stolz hinausschauen aufs blaue Südmeer, auf dem nun auch Serbiens Trikolore stolz im Winde fliegt. In wenigen Stunden sitze ich schon im Expreß!

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Zurück in Wien. Der Traum ist ausgeträumt, manchmal war er drückend, manchmal sieghaft schön. Ewige Wahrheit bleibt's: Der Mensch ist ein Produkt der Erde, die ihn gezeugt, der Luft, die er geatmet, und der Umgebung, die ihn erzog. So wird auch unseres innersten Wesens Kern immerdar »Balkan« sein, heißen und bleiben.

Mein Bildungsgang ließ mich anderer Völker Mentalität erfassen, ihre Naturgaben bewundern, ihre Wesensart begreifen. Lieben werde ich ewig nur Serbien! Meiner Liebe zu Hubert tut das keinen Eintrag. Sie ist ja von ganz anderer Art und Ursache. Uns bindet die Hochachtung vor den beiden mächtigsten Faktoren dieser Welt, welche da heißen Können und Wissen. Uns ließ zusammenfinden glühende Liebe zur Natur, zur Jagd, hat zusammengeschweißt mit stählernem Band das Waffenhandwerk, der Glaube an blanken Stahl und unbeugsamen Mut. Meine Liebe zu Hubert währt über Leben und Tod hinaus.

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Und nun tritt ein, Fee Erinnerung, und vergolde noch mal mit hellem Strahlenglanz die Vatererde!

Belgrad, stolze Feste, Hort der Freiheit, das du heruntergeschaut auf die Jahre meiner Gefangenschaft in Klostermauern! Wenn sie wüßten, die strengen Erzieher meiner Jugend, welch ein Schmetterling aus der Puppe Asta geworden, wie er seine schillernden Flügel breitet zum Liebesgegaukel hinein in den leuchtenden Sommertag, genannt »Leben«!

Nisch. Bitterstes Weh, herbstes Leid sind vereinigt in diesem Wort. Fast kannte ich mich nimmer aus. Alles fremd, neu, stattlicher und schöner, als je es gewesen. Das Militär ist auch moderner, prunkvoller und wenn möglich noch selbstbewußter geworden. Aber ich finde mich unter durchwegs fremden Gesichtern nimmer zurecht und atme auf, als ich draußen bin, die paar Stunden im kleinen Heimatstädtchen, von dem die Franktireurkämpfe buchstäblich nichts übriggelassen als Grundmauern und Keller. Und dann kam der schreckliche Augenblick, in dem ich hinausschrie vor bitterstem Leid! Da stand die einfache Marmortafel mit dem Namen von Vater und Mutter, mit dem des Popen, der mich getauft und ausgesegnet, der unsere Handschars geweiht zum Kampf fürs heilige Vaterland und in dessen Hände ich den Eid der Blutrache geschworen. Die drei, zusammen gefallen für Großserbien und an Ort und Stelle begraben. Es war der kleine Kirchhof selber, wo sie hinsanken unter den Kugeln eines österreichischen Dragonerpelotons, kommandiert von einem Rittmeister. Mehr konnte ich nicht erfahren.

Von den Gebäuden meines Elternhauses steht kein Stein mehr auf dem andern, alles wurde zusammengeschossen und in die Luft gesprengt. Aber die Baugründe und einstigen Pflaumengärten repräsentieren ein großes Vermögen, das ich nicht gewillt bin, herzuschenken. Der Schätzungswert ist deponiert, und es bedarf nur der Erfüllung einiger Formalitäten, so wird die Summe an mich als Alleinerbin ausbezahlt.

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Im Kraftwagen auf neuangelegter Heeresstraße – dort wo einst kaum Büffelkarren vorwärtskamen – hinein in die Planina. Aber so sehr es mich zog: hinauf zu unserer Räuberhöhle reichte die Zeit nicht. Lange habe ich am Wegrand gesessen und mit meinem wunderbaren Zeißglas hinübergestarrt nach jener Höhle, die uns geborgen in Bergestiefe, wie eine Mutter das Kind.

Mirkos Freund fand ich nimmer; aber sein Sohn war da und erzählte mir, daß ganz kurz nach unserem Durchbruch deutsche Streifkorps hoch hinauf kamen ins wildeste Gebirge. Wir waren keine Woche zu früh fort!

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Von Skutari fuhr ich in einem hochmodernen Luxusmotorboot hinüber zum Fischerdorf, wo Mirko schläft. Ich wurde wie eine Fürstin empfangen, Flinten und Revolver krachten in die Luft, die Frauen brachten Blumen und Slobodu führte sich wie wahnsinnig vor Freude auf. Er sieht gut aus und auch die Esel haben schönes Haar und sichtbarlich genug zu fressen.

Auf Mirkos Grab wuchsen bunte Blumen der freien Bergeshöhe und nun setzten wir gleich zusammen den mitgebrachten Stein mit zyrillischer Inschrift.

Was hätte ich darum gegeben, zu wissen, wo Danila ihre letzte Ruhestätte fand. Aber die deutschen Soldaten kannten ja nicht einmal ihren Namen, und was ist in wilden Kriegszeiten ein Toter mehr oder weniger? Herbstlaub, das der Wind verweht, verhallender Vogelruf in stürmischer Oktobernacht!

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Saloniki. Stätte meiner größten Lebensschule, unvergeßlich durch die letzten Stunden zusammen mit Milan und all den heldenhaften Offizieren der serbischen Division! Warum durfte von diesen Braven keiner mehr die Heimat wiedersehen? Warum schlafen nun alle, alle, die sich im Leben so grimmig gehaßt – Serben, Bulgaren, Reichsdeutsche und Österreicher – friedlich zusammen unter grünem Rasen? Ich frage immerfort »warum?«, wenn ich diese Tausende und aber Tausende von Heldenkreuzen deutscher Krieger sehe, die von des Rheines Rebenhügeln, vom Nordseestrand wie aus dem bayerischen Alpenland nach Bulgarien kamen, wie Zugvogelgeschwader vom Sturm gejagt.

Jetzt, wo ich aus eigener Anschauung und Erfahrung weiß, welch immenser Bildungsgrad in jedem Durchschnittsdeutschen steckt, kann ich erst ermessen, wie ungleich der Einsatz wertvollen Menschenmaterials war, zwischen den Bundesgenossen Bulgarien und Deutschland. Dort ein Heer von Bauern, die kaum lesen, geschweige denn schreiben konnten, hier eine Armee von Elitesoldaten, deren Drittel vielleicht die Qualifikation zum Offizier besaß.

Seit ich an der Handels- und Exportakademie Nationalökonomie gehört, kann ich zahlenmäßig erfassen und betrachten, was dieses riesige Deutsche Reich mit seinen siebzig Millionen disziplinierter Menschen für Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei geleistet, und muß diesen ritterlichen Feind von ehemals schrankenlos bewundern! Warum ließ sich dies intelligente Volk der Deutschen gegen Serbien führen, das ihm nichts getan, das sich nur gewehrt bis aufs Messer nach Balkanbrauch, nach Balkanrecht gegen die Aspirationen Franz Ferdinand, der zu den vielen Kronen seiner Lande auch noch eine slawische begehrte? Müssen denn immer von neuem diese Nibelungen zugrunde gehen in fremden Landen, weil sie treu sind bis in den Tod?

Auch Hubert hat etwas von dieser Art in sich, auch er kennt nur Biegen oder Brechen, Sieg oder Tod. Ich hoffe, daß unser Junge – den ich vielleicht schon übers Jahr von ihm haben werde – auch von dieser Treue in sich trägt.

Viele Kinder, so wie Jelica es wünscht, möchte ich nicht haben. Eines, höchstens zwei, aber Edelrasse, und dann Schluß. Jelica ist für meinen Geschmack viel zu üppig geworden und hat keine anderen Interessen mehr als Wohlleben, Autofahren und Kinderkriegen.

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Die Heimreise über Triest war ein Märchen blau in blau; Himmel und Meer in blendender Pracht. Es war so schön, daß darüber der Abschiedsschmerz vom Heimatland sich milderte. Zuletzt liegt ja auch die Zukunft an Huberts Seite in leuchtendem Sonnenglanz vor mir – per aspera ad astra.

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Ich bin jetzt öfters allein als früher. Hubert muß immer nur auf ganz kurze Zeit und meist unerwartet fort. Stühler ist enorm verlässig und fleißig, aber seine Gesundheit schwankend, und Hubert hat immer Angst, es könnte einmal schnell mit dem Manne zu Ende gehen. So ist es besser, wenn ich auf dem Posten bleibe und mich besonders um die Devisenabteilung kümmere.

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Gräber steuert mit vollen Segeln in die Klippen. Jeder Tag kann die Katastrophe bringen. Mir ist heute schon angst um die Gesundheit Huberts, denn diesmal gibt es grausige Aufregungen. Stühler zittert beim bloßen Gedanken daran.

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Ein Regentag grau in grau. Der Herbst will einziehen in den Auwald. Unter Huberts Lichtbildern kramend, gerät mir ein ganzes Kuvert voll unaufgezogener Positive in die Hände, von deren Existenz ich keine Ahnung hatte. Die Bilder haben ganz kleines Format, sind aber enorm scharf und gut. Hubert sagte mir nie ein Wort davon, wohl aus zarter Rücksicht auf meine Gefühle, denn die Aufnahmen stammen sämtlich aus der Zeit des Vormarsches von Huberts Dragonerregiment gegen Serbien. Es sind Aufnahmen aus der Umgebung von Nisch dabei – todtraurige Sachen, unter anderem standrechtliche Erschießung von serbischem Zivil, Häuserkämpfe und Sprengungen von Gebäuden. Hubert kommt erst in zwei Tagen zurück von Budapest – ich habe also Zeit, die Positive vergrößern zu lassen. Er wird zwar etwas schmollen, daß ich damit nicht bis zu seiner Ankunft warte, aber zuletzt ist es ja kein Unrecht.

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Aus! Zu Ende – das Glück ist zerbrochen, alles vorbei! Nun die Bilder vergrößert sind, kann man jedes Gesicht haargenau erkennen: Vater, Mutter, den Popen – und der Rittmeister, welcher mit erhobenem Degen seitwärts des Pelotons steht und das Zeichen zum Feuern gibt – ist Hubert! Die Aufnahmen sind gemacht von einem Leutnant Zelenka und dieser hat sie laut Bleistiftnotiz »seinem hochverehrten Eskadronschef geschenkt zur Erinnerung an gemeinsam verlebte stürmische Zeit«.

Ja – dieser Sturm zerbricht noch nachträglich unser Glück – muß Huberts Lebenseiche knicken, denn ich habe ja auf den geweihten Handschar geschworen, Blutrache zu nehmen nach – Balkanbrauch! Muß ich das halten auch gegen mein innerstes Gefühl, muß ich den teuren Mann töten, der mir alles ist auf Erden, alles gab mit nimmermüden, immer vollen Händen, mit dessen Herz das meine zusammenschlägt trotz allem – muß ich? Es ist nirgends ein Ausweg! Riesengroß, gleich der Gewitterwolke, die den Blitz birgt, steht das graue Wort: Eid.

»Nichts mehr denken, nur handeln und vorwärts gehen« – hat mir Milan erklärt auf meine Frage, wie einem zumute ist beim Todessturm auf den Feind. Nichts mehr denken – sonst werde ich wahnsinnig, nur handeln – sonst breche ich meinen Eid, nur vorwärts – sonst werde ich schwach. – Nichts mehr denken – alles dreht sich im Kreis.

Hubert muß sterben. Ich folge ihm nach – das kann mir niemand verbieten, geht nicht gegen meinen Eid! Aber schmerzlos soll der über alles geliebte Mann enden, ahnungslos, wer ihn auslöschte – im Herzen noch den wilden Jägerjubel höchster Leidenschaft, Waidmanns hohes Lied im wonnetrunkenen Ohr, – den Hirschruf! Ich werde ihn mit der Muschel heranrufen und dann – Gnade – hilf, Himmel – muß es denn sein? Dann darf mir für Balkanrecht und -eid nicht das Herz treten in Hand und Aug'.

Zum letzten Gang. Ich nehme Motorrad und Kunstschützenpistole System Aydt. Mag die verfluchte Waffe hernach in den Donauwellen versinken. Hubert – o wenn ich ihn noch einmal küssen dürfte! – kommt mit dem Nachtexpreß zurück und fährt mit Auto sogleich ins Revier. Ich lasse sagen, geschäftlich verhindert zu sein und morgen hinauszukommen. Ja – ich komme – der Eid ruft.

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Es ist vollbracht! Grausames Schicksal, nimm deinen Lauf! Für mich ist nichts Schönes, Sonniges mehr auf Erden. Hubert hat schmerzlos geendet, der Flucheid ist eingelöst, nun komme das Welten ende und zerschmettere auch mich!

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Gräber hat defraudiert – nur Stühler und ich kennen die riesige Höhe der Summe. Hätte Hubert diese Schmach noch erlebt, er wäre tobsüchtig geworden. Dazu Wechselgeschichten schlimmster Art.

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Gräber steht im Verdacht, seinen Onkel erschossen zu haben. Es schadet ihm nicht, dem schlechten Kerl, wenn er Angst ausstehen muß.

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Die Beisetzungsfeierlichkeit im Krematorium ging fast über meine Kräfte. Ich bin total fertig und falle um.

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Brom und nochmals Brom! Es geht um die Ehre der Firma, mit der Huberts stolzer Name unlösbar verbunden ist. Dr. Lenk ist gekommen, genau der gleiche liebe, sonnige Mensch wie sein Bruder!

Stühler klappt zusammen, sein schwaches Herz ist solchen Riesenaufregungen nicht mehr gewachsen. Er appelliert an meine Arbeitskraft und die Treue zu Hubert. Ich möchte aufschreien vor Weh. Aber er soll sich nicht in mir getäuscht haben. Wenn jemand das Schiff noch durch diesen Sturm steuern kann, bin ich es. Jetzt ruft mir Hubert aus der Ewigkeit herüber: »Aushalten!«

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Arbeiten mit dem Gedanken an den Tod durch eigne Hand im Herzen ist schwer. Aber es ist notwendig. »Der Endzweck aller Arbeit soll das Gemeinwohl sein«, steht auf dem Denkmal des großen Deutschen Friedrich Alfred Krupp, den Hubert stets schrankenlos bewundert hat. So soll auch mir das Wohl der Firma Endzweck meiner Arbeit sein, und wenn ich das Schiff im sicheren Hafen weiß, darf ich auch wieder an mich denken und Hubert nachfolgen.

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Man sucht fieberhaft nach Huberts Mörder. Ein Detektiv ist engagiert, ein schöner Mensch, Jäger und Offizier wie Hubert. Aber er sucht in falscher Richtung und küßte die Hand, welche –.

Der ärgste Sturm ist überstanden, die Firma wird durchhalten. Man hat mir eine Ehrendotation überreichen wollen, die ich glatt ablehne. Stühler kann das natürlich nicht fassen. Wenn er wüßte, warum!

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Die Konjunktur fällt. Jetzt geht erst der Ernst an. Stühler und ich arbeiten wie verzweifelt, sind Tag und Nächte im Schnellzug beisammen. Eine Sitzung jagt die andere. Wohltat, nichts mehr denken zu müssen, als die Pflicht erfüllen, dann ein Schlafpulver nehmen und besinnungslos mit zerschlagenem Körper in die Kissen fallen.

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Stühler hält sich nur mit Digitalis aufrecht, ich brauche trotz der Ermüdung noch Brom! Mein Körper scheint aus Stahl zu sein.

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Gestern kam die Überweisung meines Erbes aus dem Erlös der elterlichen Grundstücke. Eine große Summe, die mich unter anderen Verhältnissen mit dem stolzen Gefühl der Unabhängigkeit erfüllt hätte, das Wohlstand verleiht. Ich könnte aufhören zu arbeiten und müßte dann zur selben Stunde in Wahnsinnsnacht enden. Stühler beschwört mich, auszuspannen und das Geld nicht nach Österreich überweisen zu lassen, sondern in der Schweiz oder Holland als Bardepot anzulegen. In letzterem Punkt mag er ja recht haben. Unser Osten ist und bleibt ein Hexenkessel und kommt nie zur Ruhe. Aber ausspannen – nichts tun, träumen, stillsitzen, nein – das ist der Tod.

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Die Tage kommen und gehen, werden zu Monaten und diese zum Jahre. Doch nimmer endet die Hexenqual, nie mehr weicht das Gespenst einer Schuld, die keine war und doch nagt. Stühler nennt mich den Genius, Schutzgeist der Firma, Dr. Lenk sagte gar, ich gliche den Saligenfräuleins seiner Bergheimat.

Aber ich habe ja den weißen Gamsbock nicht beschützt, dessen Erlegung durch Hubert nicht verhindert und so das Unglück mit heraufbeschworen. Oder ist es doch so, wie die Türken behaupten, daß jedes Menschenschicksal schon von vornherein feststeht, aufgezeichnet ist im Buch des Lebens und alle Menschennamen auf den Blättern des Lebensbaumes vermerkt sind vom Tage der Geburt an. Fällt solch ein Blatt am Tage, wo der Lebensbaum geschüttelt wird von Allah, so stirbt der Namensträger noch im selben Jahre. Rätsel des Todes, wer löst dich?

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Stühler ist ganz anders als sonst. Er betrachtet mich oft mit sonderbaren Augen und versucht, was er noch nie getan, mich heiter zu stimmen, erweist Aufmerksamkeiten, die ein Mann nur dann übt, wenn er – liebt.

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Der Charakterunterschied zwischen Hubert und Stühler ist riesengroß. Nur eines ist diesen beiden Arbeitsmenschen unbedingt gemeinsam: der eiserne Fleiß.

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Ich fange an, Stühler zu studieren. Er ist ein Segen für die Firma; seine Gesetzkenntnis, absolute Gerechtigkeit gegen alle Angestellten, die Pietät gegen das Andenken seines Amtsvorgängers sprechen unbedingt für ihn. Aber leben wird er nicht lange! Der Mann verbrennt von innen heraus wie ein Krater, er ist Nervenmensch durch und durch, zusammengehalten lediglich vom Willen zur Tat.

Unser Schicksal weist starke Ähnlichkeiten auf! Auch ich habe in mir heiße Lava und muß daran zugrunde gehen – über kurz oder lang. Auch mich hält nur noch die Pflicht am Leben fest, betäubt nur die Arbeit.

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Ich komme aus dem Nachdenken nicht mehr heraus. Heute ist noch Aufsichtsratssitzung unter Vorsitz Dr. Lenks und Stühler den ganzen Tag so nervös, daß ich einen Zusammenbruch fürchte.

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Riesenüberraschung. Spät nachts kam Dr. Lenk noch zu mir mit einer »privaten« Bitte. Er kam im Auftrag Stühlers, richtiger gesagt auf dessen Ersuchen, als Freiwerber. Auch die Gesellschaft, meinte Dr. Lenk, würde sich gratulieren können, brächte ich es über mich, mein ferneres Leben enge an das geschäftliche Wohl der Firma zu ketten. Es sei dies auch sicher im Sinne Huberts und er wisse, daß ich in Wirklichkeit alle bisherigen Opfer nur diesem und seinem Andenken gebracht hätte. Ich konnte nur mehr unter Tränen schluchzend »ja« und nochmals »ja« sagen, dann war's vorbei.

Also morgen kommt Stühler selber und das Schicksal nimmt seinen Lauf – wie Allah will – es ist tatsächlich so, als wäre alles im voraus aufgezeichnet!

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Rasende Migräne vom Blumenduft – mein Salon ist ein Ozean von Blüten. Mit dem Riesenstrauß Rudolfs fing es an und – wurde zur Lawine. Das Schönste, was Wiens Gewächshäuser bargen, steht nun wohl hier in meinen Vasen. Ich muß immer daran denken, wie bei Huberts Tod sich auch Blumenberg auf Blumenberg häufte – und weinen.

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»Warten hat keinen Zweck«, meint Rudolf, und ich muß ihm darin völlig recht geben. Also ist in vier Wochen Hochzeit. Eine Hochzeit, die mich nur an Trauer erinnert, an das »zerbrochene Glück von Edenhall«. Aber Rudolf strahlt und ist der aufmerksamste Mensch, den man sich denken kann. – Richtiger gesagt, das war er immer, nur ist er jetzt so grenzenlos verliebt wie der jüngste Student.

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Statistik ist Tod, und Vergleichen heißt enden, hat einmal unser Professor der Nationalökonomie scherzweise gesagt. In diesem Scherz liegt, auf Liebe angewendet, bitterer Ernst! Ich muß mich zwingen, nicht fortwährend zwischen Hubert und Rudolf zu vergleichen, das Habenkonto eines jeden als Mensch aufzustellen. Diese beiden kann man überhaupt nie vergleichen und darf es gar nicht!

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Wenn nur der morgige Tag schon vorüber wäre. Nach der standesamtlichen Trauung Diner im Palasthotel, Gratulationscour des gesamten Personals und der Freunde. Um zwei Uhr wollen wir aber nach München und von dort an die oberitalienischen Seen reisen.

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Wir haben nur ganz glatte Eheringe gewählt. Ich hätte mich nicht entschließen können, den Ring des Frangipan – Konradin von Hohenstaufen trug als Freundschaftsring den Ring des Frangipan – mit der Widmung »Mit Willen dein Eigen« zu nehmen, welcher einst mein Ideal war. Was heute noch Wille an mir und in mir ist, ich weiß es nicht. Manchmal komme ich mir vor wie ein Schiff ohne Steuer, das mastenlos vom Sturm gejagt, schnurgerade auf die Brandung losrast.

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»Die schönste Braut von Wien«, ich kann es bald auswendig! Nur gut, daß die verwünschten Zeitungsschreiber nicht hineinsehen können in mein Innerstes.

War das eine Nervenprobe, alle die Glückwünsche entgegennehmen zu müssen von Huberts alten Freunden, darunter Geheimrat Krüger und Juwelier Moraner. Immer unnd ewig das Gespenst von einst!

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Wir hatten ein ganzes Abteil 1. Klasse für uns allein genommen. Rudolf war nichts als zarte Rücksicht und ich mußte zur List greifen und ihn ganz gegen mein inneres Gefühl unter Sektdruck setzen, um ihn einigermaßen aufzupeitschen.

Dem Stubenmädel blieb in der Früh fast der Mund offen, als ich die Masseuse und kaltes Wannenbad verlangte. Das Personal ist geschult, man merkt schon nach den ersten paar Griffen, ob eine Masseuse ihre Sache los hat. Diese Person behandelt viele Damen der Aristokratie, aber sie musterte doch meine Figur, wie ich mit Genugtuung bemerkte, voll verstohlener Bewunderung.

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Am Vormittag gingen wir, Läden und Auslagen ansehend, durch die Straßen Münchens, als Rudolf in einem vornehmen Waffengeschäft feine Damendolche entdeckte. Meine Vorliebe für blanke Klingen kennend, wollte er sofort einen erstehen und wir ließen uns eine Auswahl vorlegen. Der Verkäufer war ein sehr gewandter junger Mensch und bewies uns die Güte der Klingenspitzen praktisch, indem er mit jeder eine Silbermark durchstieß.

Währenddessen fiel mein Blick zufällig auf einen großen Glasschrank mit prachtvollen Pistolen und Revolvern, durchwegs Meisterstücke deutscher Büchsenmacherei. Und da – ich wäre beinahe umgesunken – lag auch das gleiche Modell Aydt Kaliber 6,6 mit dem ich Hubert erschossen. Mein Gesicht muß plötzlich kalkweiß geworden sein. Der Verkäufer sprang um Äther, ein Ladenfräulein holte Kognak und Rudolf fiel fast selber um vor Aufregung.

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Mittags beim Mokka mustert er mich, wie es scheint, ganz verklärt, und als wir im Abteil sitzen und der Zug schon fährt, fragt er sorgend, ob ich nicht recht Angst vor den Beschwerden der – Schwangerschaft hätte! Nein, Angst vor den körperlichen nicht – aber um so mehr vor den seelischen Qualen. Aber das darf ich dem armen, guten Menschen ja nie sagen. Übrigens bin ich nicht Jelica, die, wenn es möglich wäre, im Jahr zweimal Kinder bekäme. Von Rudolf möchte ich keinesfalls einen Buben, der würde viel zu weich, aber ein Mädel will ich mir gefallen lassen. Vielleicht bringt es Sonne ins Haus? Sonne ohne Hubert – nein! Ich müßte schon mit etwas Licht zufrieden sein.

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Unsere »Flitterwochen« neigen sich dem Ende zu. Ich habe sie mir übrigens, ehrlich gestanden, viel qualvoller gedacht. Rudolf ist ein so unendlich gütiger Mensch, daß man ihn gern haben muß, ob man will oder nicht. Vielleicht könnte ich mit ihm sogar glücklich, wenigstens still-zufrieden werden, wäre nicht immer der Gedanke an das wolkenstürmende, himmeljauchzende »Einst« – mit Hubert und das blutige Ende dieses Glücksloses.

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Zurück in Wien. Wochen anstrengender Arbeit und Hetze liegen hinter uns, denn Rudolf hat die Einrichtung der Villa mit einem Tempo betrieben, als gelte es das Leben. Hochmodern sind sie ja, diese Räume, ausgerüstet mit allem, was die neue Zeit ersonnen zum Behagen.

Aber! Huberts Schatten geht hinter mir her, wo immer ich bin, und meine Gedanken schweifen hinaus in das eibenumsponnene Märchenheim mit seinem Nixenbrunnen und stolzen Jagdtrophäen, irren immer wieder nach Satzenufer, wo ich mit Hubert unter blühenden Hängenelken meinen ersten Liebestraum erlebte.

Rudolf will Gesellschaften geben und sich freuen am Besitz der »schönsten Frau von Wien«. Die Schneiderin tyrannisiert mich alle Tage. Für Hubert war mir ja keine Toilette raffiniert und reizvoll genug. Jetzt möchte ich am liebsten nur Schwarz oder Gelbweiß tragen. Rudolf überschwemmt mich dazu mit Perlen. Die passen zu mir – Tränen!

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Neulich begegnete uns Hofjuwelier Moraner und erzählte von den Entwürfen Gräbers, die in Paris auf einem internationalen Wettbewerb mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurden. Der Mann soll nicht wieder zu erkennen sein und aussehen, als ob er sechzig Jahre alt wäre. Ja, auch er hat gemordet, ohne es zu wollen – der Schatten der armen Jägersfrau steht hinter ihm und fordert Rechenschaft!

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Soviel habe ich seit den Zeiten der Planina und meiner Liebe zu Hubert nimmer Geige gespielt wie jetzt. Heimatklänge, weich und klagend, heimlich und leis, im Sturm nehmend, was sich nicht gutwillig ergibt, und dann – Mozart! Von allen deutschen Tonkünstlern scheint mir seine Art dem Balkan am nächsten verwandt. Man sagt ja nicht umsonst, er sei in der Weihnacht als Stern vom Himmel gefallen, mit des Herrgotts Erlaubnis, um Mensch zu werden und mit seiner Töne Macht arme Menschenherzen zu trösten. Wenn ich Mozart spiele, ziehen die Wolken über Planinagipfel, scheint der Mond auf kahles Karstgestein, leuchtet die Sonne des Südens über den Wellen der blauen Adria. Mein Herz sucht aus weiter, weiter Ferne die Gräber der Heimat, sucht selber die Ruh. Nur manchmal, in Erinnerung an wilden Jäger- und Liebesjubel seliger, nie wiederkehrender Tage, jauchzt es auf, flüstert nochmals »auf ewig dein«, um dann in bitterstem Trennungsschmerz das letzte Lebewohl zu sagen, welches grausam genug heißen muß, vom Licht zur Nacht, durch meine Schuld!

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Unsere Donnerstag-Teeabende haben Ruf, ein Professor von der Tonakademie begleitet mich auf dem Flügel, und das sind dann tatsächlich Stunden, wo ich mich einigermaßen als Mensch fühle.

Wenn es schon sein muß, daß ich ein Kind bekomme, so soll es musikalisch sein, denn nur die Macht der Töne läßt Menschenherzen das Schwerste tragen. Höchstes fühlen und bejubeln. Rudolf bestand darauf, daß mich Geheimrat Krüger untersuchte. »Natürlich« schrankenlose Begeisterung über meinen schönen Körper, dessen Aufgabe es nach abgrundtiefer Professorenweisheit wäre, alle Jahre mindestens ein Kind zu tragen. Um den Geisteszustand der Mutter kümmert sich solch Medizinmann aber nicht. Rudolf ist im siebenten Himmel, daß kein organischer Fehler bei mir vorliegt, und besteht nun darauf, auch noch eine Masseuse anzustellen. Ich wäre selbst schon bald froh, wenn es so weit käme, ehe wird keine Ruhe.

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Die neue Kammerkatze versteht das Massieren wirklich glänzend und ist auch sonst Klasse für sich. Selbst eine Schönheit, der die Leute auf der Straße nachschauen, heiter vom Gemüt und sauber, wie aus dem Ei geschlüpft. Rudolf hat ihr eine phantastische Summe versprochen, wenn ich binnen vier Wochen schwanger würde.

Tina lacht und behauptet, das sei doch gar keine Kunst – eher umgekehrt! Das Mädel beherrscht tatsächlich sogenannte orientalische Liebesgeheimnisse wie eine Zigeunerin. Sie war längere Zeit Zirkusmasseuse und lernte allerlei vom fahrenden Volk. Die Frage, ob Bub oder Mädel, ist, wie sie behauptet, bei den Artisten längst gelöst, und wenn ich nach ihren Anweisungen handle, will sie mir eine Tochter garantieren. Also sei's drum, des Menschen Wille ist sein Himmelreich und noch öfter seine – Hölle!

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Vierzehn Tage sind herum, Tina triumphiert, Rudolf küßt mich halb tot und ich kann seit gestern nichts mehr essen, ohne seekrank zu werden. Mein Aussehen ist auch ganz danach, dunkelblaue Ringe um die Augen, dazu eine schneeweiße Nase und Herzklopfen!

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Das ganze Haus steht auf dem Kopf und im Zeichen des Kinderkriegens. Ich werde Rudolf erklären, daß wir aber so nicht gewettet haben und ich keine Zierpuppe bin, die jeder Lufthauch umbläst.

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Zum Glück steht der Geheimrat auf meiner Seite und setzt Rudolf ganz richtig mit wissenschaftlichen Gründen auseinander, daß die Balkanvölker eben deshalb keine Spur von Degeneration zeigen, weil aus einer Schwangerschaft kein Ereignis gemacht wird und die Frau bis zuletzt ihre gewohnte Lebensweise führt.

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Rudolf ist ein unendlich scharfer Beobachter! Heute morgen fragte er mich beim Frühstück ganz unvermittelt, warum ich denn meinen Damensalon nie benutze, der doch wirklich mit allem Komfort der Neuzeit und von einem der ersten Raumkünstler Wiens eingerichtet wurde. Ich gab wohl eine etwas konfuse, zusammenhanglose Antwort, die zur Folge hatte, daß Rudolf nicht weiter in mich drang.

Wenn er den wahren Grund auch nur ahnte! Dieser Raum birgt ja außer anderen Kostbarkeiten mein Porträt als Waldnymphe mit dem Muschelruf – Dr. Lenks Hochzeitsgeschenk, über das Rudolf komplett selig war. Und mir donnert das Bild jedesmal entgegen: »Schuldig des Mordes am geliebtesten Mann auf Erden.«

Mein »Zustand« macht rapide Fortschritte, der Geheimrat ist sehr zufrieden, Rudolf überglücklich. Tina behauptet, ich würde alle Tage schöner anstatt häßlicher. Jedenfalls bleibt meine Haut bis dato ohne braune Flecken!

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Heute war Moraner bei Rudolf und beschwor ihn, doch eine Einbruchsversicherung für meine Juwelen abzuschließen. Es wird in den vornehmen Villen in letzter Zeit unheimlich viel geknackt. Mein Mann bestellte sich telephonisch den Vertreter und versicherte alles auf vollen Wert. Tina lachte und meinte, nun könnten die Räuber also ungeniert anspazieren, ohne Schaden anzurichten. Rudolf ist viel auf Reisen, aber unser Portier sehr verlässig und schneidig. Sein Mut gibt dem meines alten Mirko sicher nichts nach, wenn es hart auf hart gehen sollte.

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Eiskalter Wind, der Bora nicht unähnlich, fegt durch die Baumwipfel des Parks und erinnert mich an unsere Planina. Ich will spielen – das einzige, was mir wirklich Trost und Ruhe bringt – spielen für mein Kind, spielen für Hubert einen Jägergruß, will brausend wie Borasturm spielen für meinen toten Weidgesell, den ich gemordet und dennoch lieben werde in alle Ewigkeit!

*

Es geht auf Mitternacht. Außer mir ist niemand mehr wach, der Portier noch nicht zurück, Tina zu Bett geschickt, auch im Rückgebäude bei der Köchin und dem Chauffeur kein Licht. Meine Nerven sind so seltsam gespannt wie in der Durchbruchsnacht durch die deutschen Grenzposten. Immer wieder meine ich, Geräusche zu hören, und es ist doch nur der Sturm, der an Türen und Fenstern rüttelt.

Aber es ist doch etwas nicht in Ordnung – ich verlange das Überfallkommando! Draht durchschnitten – und Tina ruft um Hilfe

 

Die Einträge waren zu Ende und auch der Polizeichef hatte gleich Rabenhofer vor Aufregung feuchte Stirn bekommen.

Er legte das Unglücksdokument langsam vor sich auf die Tischplatte und schaute seinen Leutnant ganz entgeistert an: »Ja, Rabenhofer, Sie haben völlig recht, heute soll der Teufel die ganze Dienstpflicht holen! In dem Augenblick, wo wir zugreifen, macht Frau Generaldirektor Stühler mit sich Schluß, das Kind hat keine Mutter mehr und den armen Mann trifft der Herzschlag. Es ist eine modifizierte Art Mord mit legitimen Mitteln.«

Sein Gegenüber fuhr sich mit dem Taschentuch über das Gesicht: »Ob man nicht zuerst den Geheimrat konsultieren sollte? Auf jeden Fall handelte die Serbin unter Zwangsvorstellung, das geht ja aus dem ganzen Tenor dieses Tagebuches zweifellos und klar hervor.«

Der Chef schüttelte den Kopf: »Mein lieber Kollege – der Geheimrat hat das Wort erst nach der Verhaftung – nicht vorher! Auch ich zweifle keinen Augenblick, daß Frau Asta milde Richter finden, ja eventuell sogar freigesprochen wird, je nachdem das Gutachten der Psychiater lautet – aber dann sind dem armen Weib die Mauern des Irrenhauses erst recht sicher! – Sei dem wie nun immer, dieser verfluchte Geldschrankknacker, genannt Schichtl-Beni, hätte dies Tagebuch getrost verbrennen dürfen. Jetzt müssen wir die Suppe ausessen. Ich werde selbst zu Frau Stühler fahren und versuchen, ihr das harte Los so erträglich wie nur möglich zu gestalten. Jedenfalls darf von der Sistierung kein Ton in die Presse kommen und der Generaldirektor muß telegraphisch zurückbeordert werden. Es ist beinahe Mitternacht, morgen um halb elf Uhr lasse ich mich in Villa Stühler als Privatbesuch melden und Sie, Herr Kollege, warten für alle Fälle vor dem Parktor im Kraftwagen. Vielleicht geht alles besser und glatter, als wir fürchten!«

 

Dr. Rothenbucher betrat in schwarzer Besuchstoilette, Zylinder in der Hand, den feudalen Empfangsraum und ließ sich der Dame des Hauses »dringlich« melden. Die Zofe kam binnen kurzem zurück mit der Meldung, Frau Generaldirektor sei nicht ganz wohl, sie lasse fragen, ob es eine unaufschiebbare Sache sei.

Dr. Rothenbucher gab sich selbst einen Stoß bei dem Auftrag: »Ja, es ist absolut unaufschiebbar, es handelt sich um die seinerzeit geraubten – Wertsachen!«

So – nun war der Stein im Rollen, die Grundlawine würde schon ganz von selber daraus werden. Der Polizeichef hatte plötzlich einen ausgesprochen galligen Geschmack im Mund und spürte etwas wie Nerven. Sollte Frau Asta an Flucht denken und Zeit gewinnen wollen? Das gerade schien dem erfahrenen Sicherheitsbeamten gänzlich ausgeschlossen, er kannte seine Leute haargenau und – da kam das Mädchen zurück: »Gnädige Frau lassen bitten in den kleinen Salon!«

Die Dame des Hauses schien tatsächlich nicht ganz wohl zu sein, sie lag, in seidene Reisedecken gehüllt, auf einem Ruhebett und begrüßte Wiens Polizeigewaltigen in tadelloser Haltung mit kurzem Hinweis auf schwere Migräne. Der Mann, dessen Herz im Sperrfeuer der Isonzofront nie gebebt, der als Polizeioffizier selbst im Kampf mit Schwerverbrechern mauerfest gestanden, fühlte jetzt etwas wie Frösteln.

Frau Asta musterte das Gesicht ihres Besuchers und schien mit sich völlig im klaren: »Herr Doktor haben eine Spur von meinen Juwelen gefunden – aber wohl kaum den Täter dazu – der dürfte längst über alle Berge sein?« meinte sie mit leisem Versuch, zu scherzen.

Der Beamte senkte den Blick: »Gnädige Frau, die Polizei weiß seit gestern mit positiver Sicherheit, wer Ihre Pretiosen geraubt. Der Täter war ein in der Verbrecherwelt unter dem Namen Schichtl-Beni bekannter Bursche. – Leider muß ich Ihnen Schmerz zufügen und gestehen, daß Sie, daß wir alle uns durch das hübsche Gesicht und die enorme Sicherheit Ihrer Zofe Tina haben blenden lassen, denn diese war des Verbrechers Geliebte und Spionin. Nun hat dieser Mensch dazu die Gemeinheit begangen und uns als Wertpaket nicht etwa Ihren Schmuck, sondern einen anderen Gegenstand gesandt – den ich lieber nie gesehen hätte! Gnädige Frau wissen, was ich meine?«

Der Schlag war gefallen, doch der Serbin wunderschönes Auge blieb fest am Gesicht des Beamten haften und ihre Stimme war klar und rein bei der Antwort: »Verehrter Herr Doktor, ich danke Ihnen für die unendlich vornehme und schonende Art, in der Sie sich Ihrer schweren Aufgabe entledigt haben. Seit der Stunde, da mir der Räuber mein Tagebuch wegnahm, wußte ich, daß meine Tage gezählt und mein Schicksal sich erfüllen würde. Sie sollen mich nicht schwach finden, alles für meinen Mann Nötige liegt schriftlich fixiert in meinem Schreibtisch. Herr Doktor werden begreifen, daß ich immerhin einen Augenblick – um Geduld bitten muß – meine Nerven! Sie gestatten, daß ich mich etwas sammle, bevor – wir gehen.«

Damit zog Frau Asta leise schluchzend ihren weißen wollseidenen Schal über den Kopf, warf sich, das Gesicht nach unten, in die Kissen, so daß ihr Körper völlig unter den hüllenden Decken verschwand.

Dr. Rothenbucher war diskret, aufgestanden und hatte durch das Gewirr von Blumen und Palmwedeln auf die Straße hinuntergestarrt. Das mochte einige Minuten gedauert haben, dann wurde Frau Asta ganz still und der Polizeichef trat vom Fenster zurück mit der leise gesprochenen Bitte: »Gnädigste Frau – fassen Sie sich – es muß sein, ich kann nicht anders!«

Als keine Antwort erfolgte, nahm er mit schonender Hand das weiße Gewebe von den schwarzen Haarflechten. Der Kopf rührte sich nicht. »Frau Generaldirektor – bitte!« Keine Antwort, kein Ton. – Ein geübter Griff, der Körper kam in Rückenlage und Dr. Rothenbucher starrte in das Angesicht einer Toten.

Tapfer bis zum letzten Atemzug hatte diese Serbin geendet, kein Schmerzlaut war über ihre Lippen gekommen, als sie sich, den Rücken nach oben werfend, blitzschnell und selbst von dem erfahrenen Kriminalbeamten völlig unbemerkt einen kleinen vierkantigen Dolch ins Herz gestoßen. Die Waffe steckte bis zum Perlmuttergriff zwischen den wundervollen Brüsten der Toten. Die Spitze, nach links gerichtet, hatte das Herz haargenau getroffen. Es war jenes Prachtstück, das Stühler laut Tagebuch seiner jungen Frau auf der Hochzeitsreise in München gekauft.

 


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