Wilhelm Raabe
Die Kinder von Finkenrode
Wilhelm Raabe

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13

Ich hatte einen Bekannten, einen sehr netten Burschen, welcher einmal von dem Unglück betroffen wurde, in eine langwierige Krankheit zu verfallen. Worauf kommt man nicht während der träge dahinschreitenden Zelt der Genesung?! Mein unseliger Freund verfiel auf den verrückten Gedanken, Müllners Schuld auswendig zu lernen. Mit etwas kahlem Haupt, hohlwangig und der Manie behaftet – aus der Schuld zu deklamieren, erschien er wieder im sozialen Leben. Nach zwei Wochen vermieden ihn seine Bekannten wie die Pest. Es war zum Tollwerden, mit ihm eine Viertelstunde lang zusammen zu sein! Alexander Mietze gerierte sich in der nächsten Zeit vollständig wie jener; er trieb mich fast zur Verzweiflung, wenn er auch nicht die Schuld auswendig wußte. Ach, das ist ein Leiden, daß die Menschen nie den richtigen Zeitpunkt finden können, um sich auf den Kopf zu stellen! »Auf den Kopf muß sich jeder von uns von Zeit zu Zeit stellen, das haftet der Menschheit an« – sagt Weitenweber – »nur machen die Vernünftigen es zu Hause in ihrem Kämmerlein ab«: ich schmeichle mir, zu den wenigen Vernünftigen zu gehören! Ach, wie hätschelte ich meinen Herzensgedanken und ließ ihn in allen möglichen Beleuchtungen strahlen und glänzen. Wie viele Zigarren zerkauete ich darüber! wie viele Zerstreutheiten ließ mich dieser Gedanke begehen. Wenn ich des Morgens erwachte, so war er da; er stieg aus dem Kaffeetopfe und lauerte unter der Serviette, er begleitete mich in das goldene Weinfaß und kam wieder mit mir nach Haus, um im Traum sein Wesen erst recht zu treiben. – O seliges Finkenrode!

Was kümmerte es mich, was für eine Dame die Frau Stuhlrichter Kandelsiedt war, und in welchem bösen Ruf die Frau *** stand? Was ging es mich an, was der Herr Gerichtsdirektor Fuchtel in seinen Nebenstunden trieb, oder was den Referendar Schwebelau bewog, sein Verhältnis mit Fräulein Goldwurm abzubrechen? Was kümmert mich die Devise der hochadeligen Familie von Knauer: O Jemine! –?

Man kann sich oft tagelang auf vergessene Namen besinnen, welche man eines schönen Morgens, aus einem guten Schlaf erwachend, plötzlich alle wieder im Gedächtnis findet – sich ärgernd über die Mühe, welche man sich um dieselben gegeben hat. Wahrlich, es ist eine böse Welt! Die Liebe ist geborsten, die Versöhnung hat ein Loch, die Barmherzigkeit hat den Henkel verloren, und dem Glauben ist der Boden ausgefallen. –

O seliges Finkenrode! Kein Conquistador, der mit dem Schwert in der Hand an das Gestade des neuentdeckten Amerika sprang, kein irrender Ritter vom großen Amadis bis zu dem, welcher auf dem edlen Gaul Rosinante auszog über die Ebene von Montiel, erlebte mehr Abenteuer, als ich in meinem Vaterstädtchen: wenn ich sie nur erzählen dürfte! There's the rub!

Wir befreiten den Zigeuner Martin Nadra und seine Frau aus dem Gefängnisse; wir vergnügten den Hauptmann Fasterling durch die Aufführung der von Mietze arrangierten lebenden Bilder, was die vollständige Exilierung des Schauspielers aus dem Hause des wackern, alten Soldaten zur Folge hatte; der Doktor Gundermann gab ein vortreffliches Mittagsmahl, bei welchem der Schauspieler an die Seite Sidoniens zu sitzen kam, welches zur Folge hatte, daß sich der Hauptmann Fasterling ein wenig den Magen verdarb. Es lief ein dumpfes Gerücht in Finkenrode: ich habe mich mit Fräulein Ida Rettig, der ältesten Tochter meines Notars, verlobt, welches gar keine Folgen hatte.

»Lieber Freund!« schrieb Weitenweber. »Aus dem Klagelied Deines letzten Briefes habe ich mit vieler Genugtuung ersehen, daß es Dir in Deinem Neste sehr wohlgeht. Es bleibt dabei: Ich bin ein Charlatan, Du bist ein Charlatan, Charlatans sind wir alle, die wir vom Weibe geboren sind. Weshalb sagst Du es nicht, daß es in der Welt ein Frauenzimmer gibt – Cäcilie Willbrand, wenn ich nicht irre? Feige Seele! Du schreibst mir über den Narren Mietze, welcher mir Mitteilungen über den Narren Bösenberg macht. – Fräulein Sidonie Fasterling gefällt mir sehr wohl. Glaubt Ihr, Ihr wäret zu etwas anderm geschaffen, als an der Nase herumgeführt zu werden? Ich schreibe jetzt ein Buch: die Lampe des Epiktet, und komme mir darin vor wie ein junges unschuldiges Mädchen in einem Beichtstuhl, übrigens ist hier alles beim alten, und der Kinderreim gilt noch:

Alle unsre Enten
Schwimmen auf dem See:
Kopf in dem Wasser,
Schwanz in die Höh!

Lebe wohl. Die Kleine aus der Kreuzgasse erkundigt sich öfter nach Dir, als Dir bei Deiner jetzigen Seelenstimmung lieb sein wird.

Post Scriptum: Kennst Du das Gefühl der Leere im Magen, welches man auf einer schwindelnden Höhe – auf einem Turm oder steilen Fels hat? . . . Melde mir ein wenig mehr von der besagten Cäcilie.

Weitenweber

Als Renate mir dieses Schreiben ins Zimmer brachte, trug sie es vorsichtig auf der flachen Hand, über welche sie einen Zipfel ihrer Schürze gelegt hatte, – sie fürchtete sich, dem Anschein nach, es unmittelbar zu berühren, und sie hatte recht, sich zu fürchten! –

In meines Oheims Hause gibt es viele Ratten und Mäuse – liebenswürdige Geschöpfe – und der Stiefelknecht fliegt oft genug mit großer Gewalt gegen die Wand, um das raschelnde, knuspernde, knaspernde Getier momentan zum Schweigen zu bringen.

Verfluchtes Mäusevolk! O Cäcilie, Cäcilie!

Ich rechnete auf einem Bogen goldgeränderten Briefpapiers ihr Alter aus und bemühte mich, die Zahlen so zierlich als möglich zu machen. An einem vierundzwanzigsten Dezember ist sie geboren – ein köstliches Weihnachtsgeschenk! Und fünfundzwanzig Jahre alt wird sie in einigen Tagen.

Ich zeichnete einen Kranz von Rosen und Phantasieblumen um mein Rechenexempel, und Ratten und Mäuse hatten gut Spiel unterdessen. Jakob Böhme und mein Freund Weitenweber würden dies Träumen »sich in sich hineinimaginieren« nennen; ich nannte es gar nicht, sondern überließ mich ihm gleich einem Schwimmer, der, auf dem Rücken liegend, sich sanft den Strom hinuntertreiben läßt und zwischen den überhangenden Bäumen und Blütengebüschen des Uferrandes der Sonne und dem blauen Himmel blinzelnd ins Gesicht schaut.

Wie hell, wie reizend silberhell sie schrie! Ein vierjähriger Bube, stand ich auf den Zehen neben ihrer Wiege, den Daumen im Munde – halb die Wiege, halb die Tür im Auge, durch welche der Storch hereingeschritten war, der sie brachte aus der Quelle im Huschental.

Mit welcher Mischung von Staunen, Ehrfurcht und Furcht betrachtete ich das kleine Wesen, als meine Mutter den grünen Vorhang der Wiege zurückschlug! Ich heulte einen wahren Baß im Vergleich zu ihrer silberhellen Stimme, als ich bald darauf an der mütterlichen Hand aus dem Zimmer geführt wurde.

Ach, Cäcilie Willbrand, wer hat dich in alle jene Künste und Wissenschaften, die das Kinderleben so anmutig machen, eingeweiht? Wer hat dich gelehrt, Cäcilie Willbrand, jegliches väterliche oder mütterliche »Untersteh dich« auf die sicherste und gefahrloseste Weise zu umgehen? Wer hat mehr Prügel und Ohrfeigen für dich, Cäcilie Willbrand, auf sich genommen, mehr Prügel und Ohrfeigen, als alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Schulmeister in ihren Erziehungstheorien einem »zu Hoffnungen berechtigenden« Knaben zu empfangen gestattet haben, gestatten und gestatten werden?

Ich, ich und wieder ich, Cäcilie Willbrand!

Cäcilie! Trotz der beeisten Fensterscheiben fährt bei Nennung dieses Namens jedesmal der feuchte, warme Hauch des Frühlings über eine ganze Welt gefrorener Liebenswürdigkeiten in meiner Seele – –

O Mäuse! Mäuse! Ist es denn nicht möglich, daß ihr Ruhe haltet? Muß ich denn durchaus meine Lampe ausblasen, um mit dem Schauspieler Alexander Mietze über das moderne Drama Klagelieder Jeremiä zu singen, oder Grog zu trinken in der Kneipe zum goldenen Weinfaß, oder – – –?

Ah, wie liebe ich den Lichtschein, der aus dem niedern Fenster des kleinen Häuschens vor dem Burgtor hinausfällt in den dunkeln, kalten Dezemberabend!

Über den Marktplatz zu schweifen.
Durch die Gassen zu streifen,
Licht aus Schatten zu greifen:
Das ist Dichterberuf! –

 
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