Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das dreißigste Kapitel.

Sie verlebten in Cannstatt und in den Gärten des Inselbades in Berg einen reizenden Nachmittag mitsammen; allein zu dem, was die Frau Lucie »Sich gegenseitig aussprechen« nannte, kamen sie natürlich nicht. Wie hätten ihre Seelen sich in dem Menschengetriebe und unter der Musik der Kurkapelle und der sonstigen militärischen und zivilistischen Blechmusik ineinander ergießen können? Seelen, die auf die Flöte und die Geige gestimmt sind, verschließen sich hermetisch vor dem Blech, dem schrillen Metall, und Lucie und – Christoph Pechle waren auf etwas noch viel Zarteres als Geige und Flöte gestimmt.

Sie, und diesmal Lucie und Christabel, trennten sich in stummen Zuckungen, als es Abend wurde, und mit dem Abend das erste Gefühl feucht-herbstlicher Kühle doch die Körper durchschauerte.

Sie sagten sich: »Morgen!« und faßten Unendliches in dem kleinen Worte zusammen. Auf der Heimfahrt aber, im Eisenbahnwagen, fragte die gnädige Frau ihren Ferdinand:

»Nun, wie findest du denn dieses?«

»Oh! Ich . . .«

»Nun denn, wenn du lange genug über deine Antwort nachgedacht hast, so muß ich dir bemerken, daß ich dich wieder einmal durchaus nicht fasse.«

»Wieso, Liebe?«

»Insofern, als ich einem Freunde gegenüber und vorzüglich während der letzten Wochen doch mehr Teilnahme an den Tag gelegt haben würde, als wie du gezeigt hast.«

Ferdinand sperrte wieder einmal den Mund auf.

»Das ist so, und ich halte fest an meiner Behauptung: das ist Männerfreundschaft! Du wirst mir zugestehen, Ferdinand, daß kaum ein Tag vorüberging, an welchem ich nicht die Rede auf den gräßlichen Menschen, auf den Doktor, auf deinen Freund brachte; aber sprich: hast du nur ein einziges Mal dich über ihn gewundert? Hast du mit dem winzigsten Worte dein Erstaunen über das Verschwinden des Ungeheuers kundgegeben? Gefühllos, gleichgültig, gelangweilt hast du mich reden, hast du mich suchen lassen! Ja, das ist Männerfreundschaft! Das bedeutet Freundschaft zwischen Männern!«

»Aber Beste –«

»Ich bitte dich, kein Aber mehr. Es verhielt sich so, wie ich sage, und du hast heute kaum das Recht, überrascht zu tun über das, was wir eben gesehen und gehört haben. Daß es überraschend, daß es im höchsten Grade überraschend ist, wer kann daran zweifeln? Und nun ein Wort für Tausende: ich hatte nie das geringste gegen deinen Umgang mit dem höchst interessanten, geistreichen und so herzlich heiteren Freunde einzuwenden, und – hörst du auch? – und ich wünsche in keiner Weise, daß du den Verkehr mit ihm abbrächest! Hörst du? Und du wirst ihm sagen, wie ich über ihn denke, wie herzlich er mir immer willkommen war, und welch ein gutes Leben wir und er und Christabel, meine Christabel, miteinander führen werden! Nicht wahr, du wirst es ihm sagen, wenn ihr wieder einmal zusammen allein – unter euch seid und sitzt?!«

»Aber mein Herz, das ist ja der höchste Wunsch, den ich während unseres Stuttgarter Aufenthaltes kaum zu äußern wagte!« rief der königlich sächsische Beamte außer Dienst, der neben der Freifrau saß, und verschob, überwältigt von dem eben Vernommenen, unfähig sich deshalb zu fassen, sein Nachdenken darüber auf die Stunde der Mitternacht, wo er sich mit seinem Kopfkissen und den größten Fragen seines individuellen Daseins allein befand, wenn er nicht schlief und damit im Leben und Kreisen des Daseins überhaupt versunken war. –

Am nächsten Mittage kamen Christoph und Christabel von Ober- und Untertürkheim in die Stadt und speisten bei Ferdinand und Lucie. Auch Virginy kam zu weiterem Schutze ihrer Herrin mit herüber und tauschte mit Charlotten, mit welcher übrigens auch die Baronin ihre Gedanken ausgetauscht hatte, ihre Gedanken aus. Sie hatten sich alle etwas zu sagen, und sie sagten einander unermeßlich vieles mehr, sowohl am Tische der Herrschaften, wie der Dienerinnen. Und sie, die liebenswürdig sein konnte wie kein anderes Weib deutscher Nation, sie, die Baronin Lucie von Rippgen, hatte noch nie in ihrem Leben gegen irgend jemand eine so bezaubernde Freundlichkeit und Innigkeit gezeigt, wie die, mit welcher sie heute, bei diesem Mittagsessen, Herrn Christoph Pechlin beglückte. Und sie wurde immer liebenswürdiger und inniger, je weniger Appetit der glückliche Verlobte den Delikatessen des Diners und der Delikatesse der lächelnden, gütigen Wirtin gegenüber beweisen konnte.

Jetzt waren die Stunden vorhanden, in welchen man sich gegeneinander aussprechen konnte, und man sprach sich aus.

Wer sprach sich aus?

Natürlich Christabel und Lucie! Die zartesten Fäden ihrer Charaktere hoben sie gegenseitig mit den zierlichsten Häkchen und Angeln aus dem Grunde ihrer Psychen an die Oberfläche, an das Licht. Sie küßten sich beim ersten Gruß, sie küßten sich beim Beginn der Tafel, sie küßten sich beim Nachtisch, sie küßten sich nach aufgehobener Tafel, und sie küßten sich mit immer gesteigerter Inbrunst: es war im höchsten Grade für beide Freundinnen wünschenswert, daß sie sich endlich einmal nicht mehr küßten. Als sie Abschied voneinander nahmen und sich für heute zum letzten Male küßten, wußten sie bereits ziemlich genau, wie sie sich ineinander geirrt und was sie nunmehr voneinander zu halten hatten: was Christoph und Ferdinand anbetraf, so sprachen sie sich erst vierzehn Tage später gegenseitig aus, ohne sich dabei zu küssen. – –

Die Gnädige war die Güte selber, oder wurde sie vielmehr im erhöhten Maße von Tag zu Tag. Sie legte wirklich ihrem Gemahl, was den Verkehr mit dem Freunde anging, nichts mehr in den Weg. Im Gegenteil, sie ließ es sich auf alle Weise angelegen sein, ihm den Weg zu diesem Verkehre zu ebnen und angenehm zu machen. Ihre Zuvorkommenheit, ihre verbindliche Höflichkeit gegen den verwirrten Pechle nahm nicht ab, sondern schien bei jeder neuen Zusammenkunft zugenommen zu haben. Es gab nichts mehr an dem Exstiftler, was ihr nicht interessant, – im höchsten Grade ihrer Teilnahme würdig erschien; sie erkundigte sich bis ins kleinste nicht nur nach ihm selber, sondern sogar seine lieben Eltern, sein Großvater und seine Großmama waren ihr wichtig geworden. Was seine pekuniären Verhältnisse anbetraf, so waren ihr dieselben in feinfühligster Weise sehr wichtig, und eines Tages erkundigte sie sich sogar, ob er noch immer die Maultrommel spielte, und wußte für ihr Erstaunen und ihr Bedauern kaum Worte zu finden, als Pechle es – verneinen mußte.

»Mein Gott, weshalb denn nicht?« rief die Baronin. »O lieber Freund, wenn Sie wüßten, wie manchen fröhlichen Augenblick mir Ihr schönes Talent verschafft hat! Es wäre doch sehr Unrecht, wenn sie diese herrliche Kunst unkultiviert liegen ließen. Weshalb aber blasen Sie denn dieses seltene Instrument nicht mehr?«

Christoph Pechlin brachte es zustande, etwas von einer »schwachen Brust«, von »Dummheiten« und »abgeschmackten Junggesellenalbernheiten und Zeitvertreib« zu murmeln; sprach aber dabei zugleich zu sich selber:

»Herrgottssakerment, 's ist doch grade, als ob sie damals hinter dem Busch gestanden und zugeguckt hätte! Was geht sie denn mein abgelegter alter Adam an? Das fehlte mir noch, wenn sie ihn im Graben gefunden und in ihre Garderobe gehängt hätte. Uh, – ischt dees a Lebe und wird dees a Lebe werde!«

Er fügte diesmal noch nicht hinzu: »Da geh' ich nachher doch lieber nach Amerika!« aber er war nicht weit davon. Er hatte es nimmer für möglich gehalten, daß einem einzigen Menschen in so rascher Folge erst der kalte und dann der heiße Schweiß auf die Stirn treten könne, und er erfuhr es in diesen Tagen zwischen der Braut und der Freundin der Braut. Es war ein entzückender Zustand, ein Zustand, in welchem man jeden Begegnenden durchprügeln möchte, eben weil man ihn nicht für die Behaglichkeit, die Wonnen und Seligkeiten der Minute verantwortlich machen, ihm die Schuld daran zuschieben kann. –

Er besuchte seinen Freund Ferdinand dann und wann; aber ach, die Treppe knarrte und schütterte nicht mehr unter seinen Tritten. Er schlich diese Treppe jetzt hinauf, atmete schwer bei dem Mühsal und hielt sich an dem Geländer. Wenn er oben war, traf er immer die Gattin bei dem Freunde; erst am vierzehnten Tage nach jenem Mittagsessen fand er den Baron allein.

An diesem Tage klopfte Pechle, wie es jetzt sich ihm zu geziemen schien, schüchtern an, wurde gebeten hereinzukommen und fand – daß der Freund bei der Begrüßung – viel zu laut rede. Ach, Christoph sprach nicht mehr laut; – hohl und heiser entwand sich die einst so kraftvoll rollende Stimme den matten, belegten Lungen! Christoph Pechlin war glücklich geworden wie sein Freund Ferdinand und saß auf der Stange wie ein vom Pipps befallener Horstfinke, der vordem den groben Weidau und den Rollreuter schlug; und Ferdinand – Ferdinand setzte sich neben ihn, klopfte ihn leise und kläglich-zärtlich auf das Knie und sagte:

»Willst du dir eine Zigarre anzünden, Christoph?«

Mit großen Augen sah der Gefragte den Fragenden an, und der Blick war in seiner wässrigen Mattheit so tief inhaltsvoll, daß der Baron schnellstens hinzusetzte:

»Meine Frau ist nicht zu Hause. Sie ist zu deiner lieben Braut gefahren. Aber – aber sie hat auch sonst nichts mehr dagegen. Ei ja, sieh mich doch nicht so an! Sie will, daß ich dir den Aufenthalt bei uns so behaglich als möglich mache. O, du hast keinen Begriff davon, wie gut, wie lieb sie seit einiger Zeit ist! Ich habe wahrhaftig halcyonische Tage; aber gottlob, auch du wirst ja nun bald erfahren, wie behaglich einem der häusliche Herd gemacht werden kann.«

»Ich danke – ich rauche nicht!« sprach Christoph Pechlin mit einem solchen Seufzer, daß der Baron seinen Sessel drei Schritte weit zurückschob.

»Lieber Freund?!«

»Deine Frau ist also wirklich nicht zu Hause?«

»Auf Ehre!«

»Und sie hat wirklich nichts dagegen einzuwenden, daß ich mir hier – auf der Stelle – in ihrem Salon – eine Zigarre anzünde?«

»Christoph, sie wünscht es sogar. Sieh, sie hat mir sogar dies elegante Mahagonikästchen, gefüllt mit einem recht guten Blatt für deinen Gebrauch hierher gestellt. Christoph, ich rauche hier selber.«

»Mensch,« schrie der Exstiftler gellend, »Mensch, du bist sogar autorisiert, dir und mir, wenn die Behaglichkeit es sonst erfordern sollte, wenn die Gemütlichkeit dadurch erhöht werden könnte, ein Glas Grog, ein Glas Punsch – einen Eierpunsch anzubieten – zu – brauen?! Du bist mit den dazu gehörigen Materialien versehen?! Du hast jetzt die Schlüssel zum Keller?!«

Diesmal sah wieder der Baron den Freund in Erstarrung an:

»Ja – aber – woher – woher weißt du dies? – wer hat dir das gesagt? Ja – ei ja, du hast freilich recht, Christoph!«

Pechle war aufgesprungen, hatte die Weste aufgeknöpft, war sich mit beiden Händen durch die Haare gefahren, und schritt noch einmal mit dem alten, weit ausgreifenden Schritt über den weichen blumigen Teppich hin und her. Die Erregung trieb ihn auf; aber die Reaktion trat nur zu bald ein. Sein Rücken krümmte sich von neuem, mit untergeschlagenen Armen blieb er vor dem Freunde stehen und sprach mit matter ergebener Stimme:

»Das ist das entsetzlichste Weib, welches mir jemals quer über den Weg gegangen ist. Nimm es mir nicht übel, Rippgen; aber mir selber ist sehr übel zumute. Das ist eine Teufelin, Ferdinand! dein Weib – ja, deine Gattin ist eine Valandin, Rippgen! O diese Tiefe des Hohnes, des Hasses, des schadenfrohen, grinsenden, zähnefletschenden Triumphes überbietet alles! Ha, wenn ich daran denke, daß ich mich jemals über einen – politischen Gegner aufgehalten habe, ohrfeigen möcht' ich mich darum! Ich sage dir, Rippgen, deine Frau ist eine Dämo–«

Eine helle Glocke, ein Rauschen und ein silbertöniges Gelächter draußen auf dem Gange! Ein Niederfallen Christophs in den nächsten Sessel und ein jaches Aufspringen Ferdinands!

»Still! ich weiß nicht, was du in deiner Exaltation gesagt hast, und was du sagen wolltest; aber – eben ist sie nach Hause gekommen!«

Das Wort und die Warnung waren kaum den Lippen entflohen, als sie, Lucie von Rippgen, in einer Flut von Sonnenlicht, Lächeln und Heiterkeit hereinwogte; ja, lächelnd und das Gemach mit Wohlduft, Lebenswonne und dem sonoren Ausruf füllend:

»Ah, endlich doch einmal wieder! Aber liebster, bester, weisester aller Doktoren, seit einem Jahrhundert hat man Sie ja nicht gesehen –«

»Seit vorgestern!« brummte Pechle.

»Und wie sehr hab' ich gestern, den ganzen, lieben, langen Tag auf Sie gewartet. Hüten Sie sich, ich komme von Christabel, und wir haben von nichts anderem geredet als von Ihnen, und Christabel hat nichts dagegen, daß auch ich mich ein kein wenig zu Ihrer Hüterin aufwerfe, Sie häßlicher, unartiger Freund und Herr!«

»Gnädige Frau!«

»O nein, sehr ungnädige Frau, mein Bester! Glauben Sie etwa nicht, daß ich scherze; ich nehme mein Hüteramt sehr ernst und werde jedesmal zu richtiger Zeit den Finger erheben und du! du! sagen. Aber da – fürs erste nehmen Sie doch meine ganze Hand und seien Sie mir herzlich willkommen. Ich war eben bei Christabel, und ich komme in immer höherem Entzücken von ihr, Sie Böser! Mein Gott, ich fühle mich euch beiden Kindern gegenüber so alt, so mütterlich; ach, lieber Herr Pechlin, wissen Sie, ahnen Sie wirklich so recht, recht, so ganz im ganzen, wie glücklich mich diese unerwartete Wendung in allen unseren gegenseitigen Beziehungen gemacht hat?! Sie können es nicht wissen; aber selbst meine Katharina da draußen in ihrer Küche weiß es. Und nun sagen Sie mir, wie Sie es eigentlich angefangen haben, mein sprödes Mädchen, meine stolze, englische, kühle, liebe Christabel zu Ihrem Willen hinzuwenden? Sie verstummen; aber es ist auch recht, daß Sie verstummen; ich habe Christabel gleichfalls ausgefragt, und sie hat gleichfalls nur gelächelt und geschwiegen. Großer, gütiger Himmel, Ferdinand, wie stehst du denn nun wieder da? Ich bitte dich, ich beschwöre dich: sage mir doch wenigstens, wen oder was du eben wieder zu Grabe geleitet hast!? So freue dich doch! Wann willst du dich denn freuen, wenn du selbst in diesen Tagen nicht dazu imstande bist? Aber ich weiß es schon, ich brauche nur den Rücken zu wenden, und die Sonne geht auch dir auf. Nicht wahr, Herr Pechlin, wenn ich nicht zugegen bin, tut er seinen Gefühlen keinen Zwang an? Aber so seid ihr alle, alle, und nennt das männlich – würdig – charaktervoll. O ja, wir kennen das – wir armen Frauen und wissen uns darein zu schicken. Ich lasse also die Herren allein. Adieu, lieber Pechlin, morgen abend trinken wir, Ferdinand und ich, bei Ihrem Bräutchen den Tee, – es wird ein herziger Abend werden, und ich freue mich unendlich darauf.«

Sie war hinausgerauscht, nachdem sie dem glücklichen Verlobten noch ein halb Dutzend Kußhände zugeworfen hatte, und der glückliche Verlobte wendete sich mit krampfig ineinander geflochtenen Händen von neuem an den Freund und ächzte:

»Rippgen, deine Frau – deine Frau ist ein furchtbares, ein fürchterliches Weib! Nimm es mir nicht übel!«

»Uh!« stöhnte der glückliche Gatte, der heilloserweise den kläglich-wütenden Ausruf, oder vielmehr Aufschrei wirklich nicht übel nahm und nur nach einigen in vollkommener Betäubung hingebrachten Augenblicken fragte:

»Und Christabel?«

»Uuuh!« stöhnte Pechle, setzte den Hut auf und entschwankte schlotternd, als ob Fortuna, ihr Rad über ihn hinrollend, ihn nicht nur beseligt, sondern auch gerädert habe.



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