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21.
Ausgeflogen.

Wie still es ringsum war! Sonst sah man das Universitätsgebäude gerade zu dieser Tageszeit sich mit munterem Leben füllen. Die Studenten, ihre Mappen unter dem Arm, gingen auf und ab in dem großen inneren Hofe oder in dem gewölbten Gange, der ihn im Viereck umgab. Auch die Professoren, einzeln oder sich miteinander unterhaltend, schritten zwischen durch. War aber das »akademische Viertel« vorüber, so folgten die Schüler ihren Lehrern wieder in die Hörsäle, das bunte Gewimmel verlor sich, und die Vorräume waren abermals leer, bis auf Einzelne, die zu lange gesäumt, nun im Sturmlauf die Treppe hinaneilten und immer eine Stufe um die andere übersprangen – ohne Gefahr sich auf die Rockschöße zu treten, die meistens nicht weit über die Hüften reichten. Hatte die Vorlesung schon begonnen, so wurde beim Eintreten des Verspätenden mit den Füßen gescharrt, und die Stimme des Docirenden erhob sich lauter, um trotz der Störung gehört zu werden. Die sogleich wieder geschlossene Thür schnappte das Geräusch ab wie ein zuklappendes Ventil, und man vernahm, ohne die Worte zu verstehn, nur den didaktischen Accent langathmiger Perioden, die ziemlich eintönig klangen draußen im Korridor – manchmal auch im Auditorium. Gegen diesen regelmäßigen Wechsel von Belebtheit und nachdenklicher Stille zu anderer Zeit fiel das jetzige andauernde Schweigen um so mehr auf. Man hatte immer die Empfindung, nun müsse den Augenblick die volle Stunde schlagen, und dann kämen die Studenten. Es schlug auch voll, aber Niemand kam. Und doch – jetzt kam Jemand! Allein das war nicht der rasche, leichte Schritt der Jugend, es war der schleppende Gang eines älteren Mannes. Dem Oberpedell konnte die Muße der Ferien nur erwünscht sein, dessenungeachtet hatte die Einsamkeit der großen Räume selbst für ihn etwas nicht ganz Behagliches. – Nach einer langen, langen Pause ging wieder die Thüre, und die Frau Oberpedellin erschien, um Wäschleinen zu schnüren, wo noch vor wenigen Wochen peripatetisch die tiefsinnigen Probleme der Wissenschaft, die brennenden Fragen des Verbindungslebens erörtert waren. Bald war fast der ganze Hof verhangen mit nassem Leinenzeuge, das sich ab und zu bewegte, flatterte und leise rauschte – sonst herrschte wieder dieselbe Stille wie vorher.

Später kamen Fremde mit rothen Büchern in der Hand. Schlüssel klirrten, und die Aula wurde geöffnet, die sie zu sehen wünschten. Beim Rückgange traten die Herren und Damen noch an das eine große Parterrefenster, und hielten die Hände vor wie Scheuklappen gegen das äußere Spiegelbild. Es war das Fenster der Fechthalle. Aber von dem bewegten Treiben, welches sonst dort herrschte, jetzt freilich keine Spur! Keine Füchse wurden eingepaukt, kein »Mops« ausgemacht, wie es hieß, wenn man sich mit stumpfen Waffen, aber mit allem Ceremoniell eines wirklichen Zweikampfes schlug. Die Schirmhüte, Stulphandschuhe, Rappire aller Art und kurze Leinwandröcke hingen, wie lange schon! traurig festgeschlossen an eisernen Stangen, die ringsum an den Wänden hinliefen, und ausgetrocknet stand das Blechgefäß, bestimmt zu frischem Wasser für unabsichtlich beigebrachte Verletzungen. Vor Allem fehlte der würdige Leiter der ritterlichen Uebungen, der Fechtlehrer. Er ruhte auf seinen Lorbeeren. Noch kurz vor dem Schlusse des Halbjahres von einem Franzosen aufgefordert, sich öffentlich mit ihm in seiner Kunst zu messen, hatte er den Großprahler gehörig »vertrommelt« – ein glänzender Triumph deutscher Waffenkunst über den Reichsfeind.

Am fühlbarsten wurde die Leere und Ausgestorbenheit des großen Gebäudes, als gegen Abend die Dächer und Giebel lebhafteres Roth färbte, die Schatten sich schärfer absetzten, und die schräge in den einsamen Hofraum fallenden Lichter gleichsam mahnten: draußen in der weiten Welt, da ist's jetzt schön! Und es war, als wuchsen die Grasspitzen eifriger zwischen den Pflastersteinen hervor, als faßten sie in der erfrischenden Kühle von neuem Hoffnung, wie oft ihre Wurzeln auch schon ausgerauft, doch noch einmal die ganze Fläche wieder mit dichtem Grün zu überziehen. Die Schwalbe, früher stets vertrieben, wenn sie sich anbauen wollte in dem überwölbten Gange, flog jetzt ungestört hin und her. Zum Nisten war es schon zu spät im Jahre, sie mochte sich wol die Gelegenheit ansehen zum nächsten Sommer. Die Hühner der Frau Pedellin pickten den Kalk von der Wand, ja so still war es, daß man den Auftritt ihrer hornharten Zehen wer weiß wie weit hörte. Auch hier wie überall, wo menschliche Wohnstätten ihr eigenthümliches Leben verlassen, suchte die Natur sofort mit ihrer stillen, aber unausgesetzt vorschreitenden Arbeit sie wieder für sich in Beschlag zu nehmen.

In der Vorhalle zwischen Portal und Hof war das schwarze Brett; die Drahtgitter, hinter denen sich die amtlichen Anschläge befanden, waren mit Staub bedeckt, und an der andern frei hängenden Tafel, wo die Privatbekanntmachungen ihren herkömmlichen Platz hatten, zitterte und bebte im Zugwind ein halb loses, eingerissenes Blatt. Trübseliger Anblick! Aber noch trübseliger, wenn man las, was der Anschlag enthielt. Er that den Kommilitonen kund, daß ein Paar gezogene Pistolen und Mühlenbruch's Pandekten in wohlerhaltenem Halbfranzbande sogleich gegen baare Bezahlung käuflich abzulassen wären. Leider entsprach die Nachfrage nicht dem Angebot! und mißmuthig hatte der junge Rechtsgelehrte mit eigener Hand seine unberücksichtigt gebliebene Anzeige in den Zustand trauriger Verstümmlung versetzt, in dem sie jetzt da hing. Ach, er war »der Letzte der Mohikaner« – die »einzige fühlende Seele unter lauter Philisterlarven« – der lahme Kranich, der allein hatte zurückbleiben müssen. Ihm fehlten die Schwungfedern, ohne die das Reisen immer seine Schwierigkeiten hatte, auch schon in jener noch nicht so theuren Zeit. Alles war – ausgeflogen!

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