Wilhelm Heinrich Riehl
Durch tausend Jahre – Zweiter Band
Wilhelm Heinrich Riehl

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Rheingauer Deutsch

1874

Erstes Kapitel

Von 1708 auf 1709 war der kalte Winter, der kälteste des Jahrhunderts. Tausend Menschen gingen elend zugrunde, die Vögel fielen tot aus der Luft, das Wild erfror im Walde, durch lange Wochen konnte man bei Mainz mit vierspännigen Frachtwagen über den Rhein fahren. Dann brachte plötzliches Tauwetter den verwüstenden Eisgang, ein voreiliger Frühling lockte die Knospen und Blätter aus den Bäumen, allein der laue Südwest wurde im Mai wieder durch eisigen Nordsturm zurückgeschlagen, das grünende Laubholz erfror, und noch im Juni und Juli sah man auf weite Strecken den Buchenwald braun mit verdorrten Blättern, zwischen denen sich kümmerlich die neuen Keime hervordrängten.

Armut und Elend herrschten überall in Deutschland und Frankreich. Dennoch waren viele Leute dieses Jammers im stillen froh; denn sie dachten, wenn Gott die Menschen so schwer züchtige, dann würden sie wenigstens für dieses Jahr Vernunft annehmen und nicht fortfahren, sich freventlich untereinander totzuschlagen, die kargen Saaten zu zertreten und Dörfer und Städte niederzubrennen. Man hoffte, die Not werde Frieden gebieten, nach welchem vorab die deutschen Reichslande seufzten.

So dachten die Bauern, aber die Könige dachten nicht so. Ludwig XIV. konnte die Niederlagen nicht verschmerzen, welche ihm Eugen und Marlborough in den letzten Jahren beigebracht, und die Friedensbedingungen seiner verbündeten Gegner trieben ihn zur Verzweiflung. Im Haag verhandelten die Diplomaten den Frieden, aber von Versailles aus rüstete man den Krieg, und ehe die Deutschen sich's versahen, rückten 45000 Franzosen an den Oberrhein. Dies geschah im Juni: der deutsche Reichstag war damals gerade bis zu dem Beschluß gekommen, daß die älteren Reichsbeschlüsse betreffs der Kriegsanstalten erneuert werden sollten. Im Juli ging der französische Marschall Harcourt über den Rhein und plünderte das Kinzigtal. Die Reichsstände berieten noch immer. Anfangs August stand endlich eine schwache Reichsarmee in der Pfalz »mit einigen Kriegsbedürfnissen ausgerüstet«, allein der Oberbefehlshaber ließ noch etliche Tage auf sich warten, so daß die Deutschen genau zwei Monate nach dem Aufmarsch der Franzosen denselben schlagfertig – aber um ein Drittel schwächer! – gegenübertraten.

Für die meisten deutschen Reichsstände lag ja die Kampfbühne des Oberrheins so viele Meilen entfernt, da konnten sie also einstweilen ruhig zusehen, ob sich die »Kriegsvölker« an den Weißenburger Linien schlagen würden oder vielleicht erst bei Mainz oder Koblenz oder sonstwo dort hinten.

»Erschallt in der Nachbarschaft Feuerruf, dann dreht man sich im Bette um und fühlt mit der Hand, ob die Wand schon warm wird; ist sie noch kalt, dann schläft man ruhig weiter«, – so sagte der Schultheiß Anton Kayser von Rauenthal und dachte dabei an die Fürsten und Herren, welche im Anfang Juli des Jahres 1709 in dem benachbarten Schlangenbad noch ganz vergnüglich badeten, schwelgten und schwärmten. Schlangenbad und Rauenthal liegen an den Pforten des Rheingaues, und also war der Krieg noch volle dreißig Stunden Wegs von dort entfernt.

Dieser Schultheiß, ein merkwürdiger Mann und weit und breit bekannt, weil er gleich schlagfertig war mit dem Worte wie mit der Faust, ging am Nachmittage des 12. Juli in die Weinberge seiner Gemarkung. Da sah er einen fremden Menschen, welcher in einen Wingert stieg und sich dort von einem Kirschbäumchen eine Gerte schnitt, um seinen kleinen Hund zu strafen, der offenbar schlechten Appell gezeigt hatte.

Der Schultheiß schlich sich ganz sachte seitwärts heran, bis er so nahe gekommen war, daß ihm der Baumfrevler nicht mehr entwischen konnte; dann trat er mit rascher Wendung vor denselben und rief: »Heda! Landsmann!«

»Ich bin Euer Landsmann nicht«, entgegnete kaltblütig der Fremde.

»Es ist auch nur so eine Redensart. Wäret Ihr kein Fremder, sondern ein Hiesiger, so wüßtet Ihr, daß ich Euch pfänden müßte.«

Statt aller Antwort prüfte der Fremde die Gerte, und sie schien ihm zu dünn, denn er schnitt sich stracks einen zweiten stärkeren Zweig herunter.

Der Schultheiß legte ihm die Hand auf die Schulter und rief: »Jetzt pfände ich Euch wirklich. Ihr geht mit mir nach Rauenthal!«

»Die Hand hinweg!« gebot der Fremde. »Ich bin der Deutschmeister!«

»Bei diesem Meister habe ich noch nicht arbeiten lassen. Ihr folgt mir!«

»Ich bin Pfalzgraf von Neuburg.«

»Da werdet Ihr wohl so ein Graf sein wie mein Gevatter dort unten im Bade, der verwaltet das kurfürstliche Badehaus, drum heißt er der Burggraf von Schlangenbad.«

»Hütet Euch, mich anzutasten: ich bin ein Reichsfürst!«

»Hütet Euch, mir Widerstand zu leisten: ich bin der Schultheiß von Rauenthal!«

Der Fremde lachte und brummte etwas von dummem Bauernkerl. Da schlug der Schultheiß, in seiner Ehre als gebildeter Rheingauer gekränkt, plötzlich einen ganz andern Ton an und sprudelte mit ungeheurer Geläufigkeit die Sätze heraus: »Es gibt auch Leute, die keine Bauern und doch so dumm sind, daß sie nicht einmal Spott verstehen. Ich bin nicht hinter der Kuhherde aufgewachsen. Meint Ihr, ich wisse nicht, was quousque tandem Catilina heißt? Meint Ihr, ich wisse nicht, daß Seine hochfürstliche Durchlaucht der Herr Hoch- und Deutschmeister, zur Zeit aus dem pfalzgräflichen Hause Neuburg, in Mergentheim residiert und nach den drei geistlichen Kurfürsten der vornehmste geistliche Fürst des Reiches ist? – Unterbrecht mich nicht! – Ich weiß auch recht gut, daß der hohe Herr gegenwärtig da drunten im Bärstadter Bade sitzt, welches man neumodischerweise das Schlangenbad nennt. Ich habe ihn ausfahren sehen, vierspännig, einen Läufer voran, Lakaien vorn und hinten und seinen Oberststallmeister zur linken Seite, der selbst von Adel ist. So ein Herr sieht ganz anders aus wie Ihr und läuft nicht allein in den Weinbergen herum.«

Der Fremde lächelte über diese ungeahnte Weisheit. »Und was würdet Ihr sagen, wenn ich nun dennoch der Deutschmeister wäre?«

»Was ich sagen würde? Ich spräche in aller Höflichkeit: Hochfürstliche Durchlaucht! Statt im Schlangenwasser zu baden, um eine weiße Haut zu kriegen wie die Frauenzimmer, tätet Ihr gescheiter, zu Pferde zu steigen und all Eure Ritter aufsitzen zu lassen, falls sie vor Fett noch ordentlich reiten können, und nach den Weißenburger Linien zu reiten oder nach Ettlingen oder Kehl, wo es jetzt etwas Ritterliches zu tun gibt; oder noch besser. Durchlauchtiger Herr, Ihr ginget zum Kurfürsten von Hannover, dem Generalissimus, und ersuchtet ihn, seinen Abzug ins Hauptquartier zu beschleunigen; oder am besten, gnädigster Herr Pfalzgraf!« – er machte bei diesen Anreden jedesmal einen spöttischen Diener gegen den Fremden – »Ihr griffet in Euern Ordensschatz, den andern Fürsten und Ritterschaften zum Exempel und verhülfet der Reichskriegskasse ein wenig zu Geld, denn das fehlt dem Reich am meisten, wie wir singen:

Es schickt Soldaten in das Feld
Ohne Brot und ohne Geld.

Dies und vieles andere würde ich ungefähr dem Deutschmeister sagen, aber ohne alle Grobheit.«

Der Fremde rümpfte die Nase und rief: »Will das Bauernvolk heutzutage hoch hinaus! Wißt Ihr gar schon, daß wir Krieg haben und kein Geld in der Reichsoperationskasse, und rechnet den Fürsten vor, wie sie ihre Zeit verwenden sollen!«

»Weil wir den badenden Durchlauchten das Bad bezahlen müssen, wenn der Franzose hierher kommt. Übrigens sind wir Rheingauer keine Bauern, sondern Winzer, wir sind freie Leute, wenn auch Kurmainz Untertan, und haben unser Bürgerrecht so gut wie die Frankfurter und Kölner. Und wir Rauenthaler sind nicht die Schlechtesten im Rheingau, und ich bin der Schultheiß von Rauenthal!«

Sie waren inzwischen aus dem Weinberg getreten. Der Fremde, ein großer Mann, ging langsamen Schrittes, der Schultheiß, klein, doch stark gebaut, eilte vorwärts, hielt aber dann immer wieder zurück, damit ihm der Baumfrevler nicht auskomme.

»Wie lange wollt Ihr noch mit mir gehen?« fragte dieser endlich.

»Ihr gehet ja mit mir!« entgegnete der Schultheiß.

»Wollt Ihr mich etwa zwingen?« rief der andere finster und schlug an seinen Hirschfänger.

Der Schultheiß erhob seinen Stock. »Rühret das Messer nicht an! Ein Pfiff, und ich habe Hilfe genug; die Weinberge stecken voll Rauenthaler« – »wenn's wahr wäre!« ergänzte er leise. Denn er mußte seine Gedanken immer aussprechen, sei es nach außen oder nach innen.

Jetzt gelangten sie ins freie Feld, wo der Weg links nach Schlangenbad, geradeaus nach Rauenthal abzweigte. Der Fremde wandte sich links, aber der Schultheiß fiel ihm in den Arm und zog ihn derb auf den Rauenthaler Weg. Entrüstet griff jener nach seiner Waffe, doch im Nu sprang der Schultheiß drei Schritte zurück, holte mit seinem Stocke weit aus, hieb dem Fremden über den Arm und entwand ihm den Hirschfänger.

»Infamer Kerl!« rief dieser. »Gib mir die Waffe wieder! Es war nur Spaß, nur etwas flache Klinge für deine Unverschämtheit.«

»Ich habe auch nur im Spaß geschlagen: wenn ich scharf dreinfahre, dann sitzt der Hieb ganz anders. Es war auch nur für die Unverschämtheit. Ihr folgt mir nach Rauenthal.«

Der Fremde wußte nicht, ob er sich schämen, ob er zürnen oder lachen solle, widerstreben oder folgen. Wie ein paar Kampfhähne standen sich beide eine Weile beobachtend gegenüber; der kleine Hund mitteninne, knurrend und bellend, fuhr dem Schultheiß gegen die Waden.

Da sah sich die seltsame Gruppe mit einemmal von einer zahlreichen Gesellschaft von Herren und Damen umringt; sie waren unbemerkt den Schlangenbader Weg heraufgekommen und begrüßten den Arrestanten des Schultheißen staunend und lächelnd mit tiefen Bücklingen, sie redeten ihn mit »Durchlaucht« an, und bei den weiteren Begrüßungen und Anreden flogen die »Prinzen«, »Grafen« und »Gräfinnen« nur so herüber und hinüber, und der unterste von der Gesellschaft schien ein Baron zu sein.

Dem Schultheiß schlug das Wort »Durchlaucht« wie ein Blitzstrahl durch den ganzen Leib: also war das doch der Deutschmeister, den er hatte pfänden wollen! Er stand, wie er nachher sagte, ganz »verdattert« und vermochte es gar nicht zu fassen, daß ein Mensch im Wagen und mit Bedienten so ganz anders aussehen könne als zu Fuß und ohne Dienerschaft.

Die Freunde, welche den Deutschmeister aus seiner wunderlichen Lage befreiten, waren lauter Badegäste: der junge Fürst von Taxis, Prinz Friedrich von Mecklenburg, Graf Bernhard von Solms-Braunfels mit Damen und Gefolge, der Geringeren gar nicht zu gedenken. Von öfterem herzlichem Lachen unterbrochen, erzählte ihnen der entwaffnete Pfalzgraf sein Abenteuer mit dem Schultheißen, während zwei Lakaien den armen Teufel beiseite schoben und ihm die blanke Waffe wieder abnahmen. Er ließ aber alles willenlos geschehen, denn Hören und Sehen war ihm vergangen, und es war ihm die ganze Zeit, als träume er und ringe mit dem Aufwachen.

Da vernahm er plötzlich, wie der Deutschmeister die Worte »Flegel« und »Lümmel« im Text seiner Erzählung kraftvoll betonte, und er wachte auf, wie ein Nachtwandler, der sich beim Namen rufen hört, und als er nun gar noch das Wort »Bauernübermut« deutlich verstand, da kam er wieder ganz zu sich selber, und gleich als wolle er den Deutschmeister zum zweitenmal packen, sprang er auf; aber die Bedienten rissen ihn zurück.

»Ich muß mich aussprechen!« rief er. »Ich bin grob gewesen, aber ich habe doch recht gehabt und bin leider nur an den Unrechten gekommen. Ich bin der Schultheiß von Rauenthal.«

Allein er ward von festen Armen zurückgehalten, und die Herrschaften gingen lachend ihres Weges, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. So blieb denn zuletzt auch ihm nichts übrig, als dem Bedeuten der beiden Diener zu folgen und gleichfalls seines Weges zu gehen, fast erstickend an der verhaltenen Aussprache.

Da winkte ihm aber einer dieser Leute, welcher geflissentlich ein wenig zurückgeblieben war, – der Leiblakai des Deutschmeisters.

»Herr Schultheiß«, sprach er leise, scheu umherblickend, »Ihr habt Euch eine schöne Suppe eingebrockt!«

»Und was werde ich denn kriegen?« flüsterte der sonst so laute Mann.

»Das will ich Euch sagen: mein gnädiger Herr wird sofort eine reitende Stafette an Euern Kurfürsten nach Mainz schicken, und dann werdet Ihr abgesetzt und eingesperrt und könnt das Weitere abwarten.«

»Das wird nicht geschehen!« rief der Schultheiß mit mächtiger Stimme, und er war wieder ganz der Alte. »Heute abend noch geh ich hinunter ins Bad und nehme eine Audienz bei Euerm Herrn. Recht muß Recht bleiben! Wenn ich mich nur erst einmal gründlich aussprechen kann, dann wird ihm alles klarwerden. Er ist ein Fremder und hat vorhin mein Rheingauer Deutsch nicht verstanden.«

»Man wird Euch nicht vorlassen«, entgegnete der Lakai sehr kaltblütig.

Der Schultheiß schlug sich vor die Stirn. Hatten ihn hier oben zwei handfeste Bediente vom Aussprechen abgehalten, so konnten ihn da unten allerdings sechs vor die Türe werfen.

»Aber es ginge doch wohl«, flüsterte dann der Leiblakai, nachdem er ihn eine Weile hatte zappeln lassen. »Ich könnte vielleicht eine Audienz einfädeln, nur müßte ich vorher die Sache genauer mit Euch beraten. Um acht Uhr bin ich dienstfrei, da komme ich in Euer Haus.«

Der Schultheiß war ganz glücklich über diese Aussicht; konnte er sich dann doch wenigstens zunächst gegen den Lakaien aussprechen! Und er verhieß ihm einen Tropfen Rauenthaler Sechsundneunziger, wie er seiner Lebtage noch keinen getrunken haben werde.

Der Bediente eilte zu den Herrschaften zurück; der Schultheiß aber ging einigermaßen getröstet nach Hause und sprach, seinem Tröster nachblickend: »Heilige Mutter Gottes von Kiederich! Was doch die Herren für böse Leute sind, und was für gute Menschen sind die Bedienten!«

Zweites Kapitel

Wenn ein Rheingauer seinem Gast die höchste Ehre erweisen will, so führt er ihn nicht obenhinaus in die Staatsstube, sondern hinunter in den Keller.

So machte es auch der Schultheiß mit dem Leiblakaien. In dem Keller lagen 60 Stückfaß Wein aus den besten Rheingauer Lagen, denn Rauenthal war damals ein Hauptplatz des Weinhandels und der Schultheiß nicht bloß ein Winzer, sondern auch ein Weinhändler. Hätte er die 60 Stückfaß auf den Rücken packen können, so würde er vielleicht für einige Zeit außer Landes gegangen sein, bis die Geschichte mit dem Deutschmeister verraucht gewesen wäre; allein so vielen und guten Wein kann man doch nicht im Stich lassen.

Er nahm eine Laterne mit in den Keller und einen Pack Lichtstümpfchen, falls die Sitzung länger dauern sollte, dazu einen Stechheber und einen Teller mit Schwarzbrot und Handkäse. Essen und Trinken ist zweierlei, und wer kunstgerecht trinken will, der darf nicht viel essen.

Unten angekommen, fragte er zunächst den Gast um seinen Namen.

»Ich schreibe mich Ulrich Mottinger. Allein mein gnädiger Herr kam einmal auf den Einfall, mich Kastor zu rufen, und so heißt mich denn auch alle Welt Herr Kastor. Das ist eigentlich ein Hundename. Ihr wißt vielleicht noch nicht, daß es vornehm ist, solche unsinnige Einfälle zu haben; man nennt dergleichen une fantaisie.«

Der Schultheiß füllte zwei Gläser mit Erbacher Siebener, einem jungen Mittelwein, – so bloß zur Einleitung – und wollte wissen, was der Deutschmeister heute noch über ihn gesprochen habe. Kastor machte ihm die Hölle heiß; der Fürst sei bei Tafel immer noch vor Zorn ganz außer sich gewesen.

»Der Erbacher ist zu herb und hitzig«, unterbrach ihn sein Wirt und hob zwei Gläser Markobrunner 1700er mit dem Heber aus dem Fasse, der war schon recht firn und trank sich beruhigender. »Und jetzt sagt mir Euren Plan, Herr Kastor, wie ich vor dem gnädigen Herren zu einer Aussprache kommen soll.«

Der Leiblakai berichtete nun, er habe das Ohr des Mundschenken, der Mundschenk das Ohr des Leibjägers, der Leibjäger das Ohr des Oberststallmeisters und dieser das Ohr des Fürsten. Morgen früh wolle er ihn beim Mundschenken einführen, dann könne er sich durch diesen hinaufsprechen zum Leibjäger, durch diesen zum Oberststallmeister und endlich durch den Oberststallmeister zum Fürsten. »Allein das ist des Aussprechens zuviel«, meinte der Schultheiß, »denn bis ich mich zum Deutschmeister hinaufgesprochen habe, der sich dann auch noch gegen meinen Kurfürsten wird aussprechen müssen, sitze ich längst im Loch. Könnte man den Umweg nicht etwas abkürzen?«

»Umwege, lieber Freund«, erwiderte Herr Kastor lehrhaft, »führen in dieser Welt mehrenteils am kürzesten und sichersten zum Ziele. Ich nehme ein Beispiel aus dem Bereiche Eurer Anschauung. Wenn ich etwa von Schlangenbad zum Rheine gehen wollte und nähme meinen Weg nordwestwärts hinter dem Rabenkopf und Hirschsprung her nach Kiederich und von dort südwestlich querfeldein nach Erbach, so wäre das wohl ein großer Umweg?«

»Ein ganz unsinniger Umweg«, bejahte der Schultheiß. »Aber ich sehe nicht ab, wo Ihr da hinauswollt betreffs meiner Aussprache?«

»Das wird sich ganz zuletzt zeigen. Betrachten wir aber zunächst diesen Umweg noch etwas genauer.« Und nun begann der Lakai seinen Wirt über allerlei Stellen dieses Weges auszufragen, der ihm obenhin bekannt zu sein schien, doch nicht vollkommen. Der Schultheiß gab ehrlich Bescheid. Da sich aber der Frager ganz in seinem Gleichnis des Umwegs nach Erbach verlor und gar nicht mehr auf den rechten Weg zu bringen war, nämlich auf den Weg zum Deutschmeister, so lupfte der ungeduldige Wirt den Spund eines neuen Fasses. »Winkler Neunundneunziger!« rief er, »vom Fuße des Johannisbergs, geht im Handel für Johannisberger; man muß ihn mit Verstand trinken!«

Der neue Wein brachte auch ein neues Gespräch. Der Leiblakai ließ sich vom Schultheißen mit dem Weine einheizen, heizte diesem dafür nun aber um so stärker wiederum ein mit Schreckbildern von Zorn, Ungnade und Strafe seines Kurfürsten.

»Der Kurfürst darf auch nicht alles, was er will«, entgegnete der Schultheiß trotzig. »Wir Rheingauer sind gefreite Leute und haben unser eigenes Landrecht. Aber freilich steht das mehr nur noch in der Chronik, und das Herrenrecht gilt in der Wirklichkeit.«

»Wenn Ihr ein so gutes Recht habt«, sagte der Lakai mit lauerndem Blicke, »dann solltet Ihr Euch auch darauf steifen; behandeln Euch die Fürsten schlecht, so zahlt ihnen mit gleicher Münze!«

»Oho!« rief der Schultheiß staunend. »Aus welchem Tone sprecht Ihr da? Mir scheint, mein Wein ist Euch zu stark.«

»In der Tat zu stark!« lallte der Diener und stellte sich angetrunkener, als er war. Das durchschaute der Schultheiß gar wohl, denn er hatte nicht bloß eine Kennerzunge für die Weine, sondern auch einen Kennerblick für die Räusche. »Sollte der Bursche mich vielmehr ausspionieren und ins Verderben stürzen wollen, statt mir zu helfen und zu raten?« Aber es schien ihm dann doch unmöglich, daß einer so falsch sein könne zum Dank für so echten Wein.

»Euer Wein ist zu stark! Kehren wir lieber zum Wasser zurück, das heißt in Gedanken, ich meine zum Rheine bei Erbach und zu unserm Umweg.« Und nun fragte Kastor den Schultheiß aus, ob wohl Kähne genug in Erbach lägen, um die ganze vornehme Badegesellschaft, so etwa fünfzig Personen, ans linke Ufer überzusetzen. Der Schultheiß bemerkte, daß die Erbacher nur elende Dreiborde hätten, sogenannte Seelenverkäufer, ganz ungeeignet, fürstliche Personen zu tragen, während eine kurze Strecke rheinaufwärts in Eltville zwei prächtige große Schiffe des Kurfürsten den Herren ohne Zweifel zur Verfügung ständen. Allein der Lakai kam immer wieder auf die Erbacher Dreiborde und ihre Zahl und meinte, es sei wohl ein unsinniger Einfall, wenn die Herrschaften dort überführen, das sei übrigens nun einmal gerade wie mit dem Namen Kastor – une fantaisie.

»Stellst du dich dumm«, dachte der Schultheiß, »dann will ich dich gescheit machen, und spiegelst du mir einen Rausch vor, dann sollst du auch einen wirklichen Rausch kriegen!« Mit diesem Vorsatze schritt er zu seinem Hauptfasse, dem Rauenthaler Sechsundneunziger, und füllte zwei Gläser.

»Dies ist der edelste Wein!« sprach er feierlich und hielt das Glas gegen das Licht. »Er hat Blume, Feuer, Kraft und ist doch so mild und zart, ein Lebenswecker und Erhalter, die wahre Muttermilch für Erwachsene, lac maternum, wie der Lateiner sagt, denn Ihr müßt wissen, ich habe drei Jahre in Mainz Lateinisch gelernt. Es ist eine sehr schöne Sprache.«

» Lait maternel, sagt der Franzose, und ich glaube, Französisch ist noch viel schöner«, so prahlte der Lakai.

»Könnt Ihr Französisch?« fragte der Schultheiß.

»Perfekt! Jeder höhere Lakai kann Französisch, aber die Herrschaften dürfen's nicht wissen; denn wenn sie sich etwas sagen wollen, was wir nicht verstehen sollen, so reden sie untereinander französisch, und wir verstehen's dennoch. Aber nur nicht merken lassen!«

»Die Bedienten sind doch nicht immer ganz so gute Menschen, wie ich vor einigen Stunden geglaubt habe«, brummte der Schultheiß in den Bart. Der Lakai fuhr fort, die französische Sprache und die Franzosen zu rühmen. »Was seid Ihr denn eigentlich für ein Landsmann?« warf der Schultheiß zwischen diese Lobrede ein. »Ich bin Weltbürger, obgleich aus Schwabach gebürtig. Aber ich habe schon in der halben Welt gedient, und vor einem Jahre nahm mich der Deutschmeister als Leiblakai in Dienst wegen meiner Talente.«

Der Schultheiß nötigte zu immer stärkerem Trinken, und Kastor entwickelte auch nach dieser Seite in der Tat ein staunenswertes Talent. Beide sprachen dabei fortwährend übers Kreuz; denn jeder wollte von dem andern etwas anderes wissen. Kein Wunder, daß es dem Lakaien zuletzt schwindelte. »Das kommt daher, weil Ihr auf dem Estrich des Kellerbodens steht«, belehrte der Schultheiß und schob Kastor ein Brett unter die Füße. »Es ist eine alte Küferregel, daß man sich beim Trinken im Keller stets auf ein Brett stellen soll, dann wirft einen der stärkste Wein nicht um. Wir nennen es das Rettungsboot der Schiffbrüchigen.«

»Und jetzt stehe ich wieder fest wie ein Grenadier!« rief der andere, sich auf dem Brette balancierend. »Aber Freund! Du brauchst den Deutschmeister gar nicht so um Gottes willen zu bitten. Morgen um diese Zeit wird er von selbst sehr mild und freundlich sein, sehr höflich! Laß mich nur machen! Sacrebleu!« und er lachte hell auf, verlor aber das Gleichgewicht und zog es nun vor, auf dem Rettungsbrette zu sitzen.

Sein gläserner Blick belehrte den Schultheißen, daß der Mann nunmehr im Ernste betrunken sei.

Er fragte nach der Uhr: – es war Mitternacht. Aber der Schultheiß redete ihm ein, daß die Glocke eben erst neun geschlagen habe. Dann zählte der Trunkene an den Fingern von neun bis drei Uhr. »Nur noch sechs Stunden!« rief er. »Eine kurze Frist! Ich muß fort.«

Sein Wirt aber behauptete, sie hätten sich ja noch gar nicht recht ausgesprochen, und brachte einen neuen Wein, einen ganz jungen feurigen Rauenthaler aus der besten Lage.

Nach etlichen tiefen Zügen erkannte Kastor den Schultheißen nicht mehr und begann französisch zu reden, untermischt mit abgebrochenen deutschen Sätzen. »Die Hintertüre steht offen – ich werde Euch führen – jetzt zur Türe links – da schläft der Oberststallmeister – und dann rechts der Fürst – er hat nur einen Jäger im Vorzimmer – leise, daß er nicht aufwacht! – die Pistolen an der Wand sind geladen.« Dann kamen wieder französische Sätze.

Der Schultheiß lauschte bestürzt. Er hätte hundert Gulden draufgezahlt, wenn er sein Latein jetzt geschwind gegen Französisch hätte vertauschen können. Zwischen den französischen Worten verstand er nur noch die deutschen: »Rabenkopf, Hirschsprung, Kiederich, Erbach; doch nein! das ist ja der falsche Weg!« Dann redete aber der Lakai mit sich selbst etwas leiser und nun wiederum in deutscher Sprache: »Fünfhundert Livres! – ein Lumpengeld, wenn man den Galgen riskiert!« Jetzt hatte der Schultheiß seinen Entschluß gefaßt. Wenn der Lakai auch ihn nicht zur Aussprache hatte kommen lassen, so hatte er sich selber doch nunmehr genügend ausgesprochen. »Ihr seid etwas betrunken, Freund!« schrie er ihm laut ins Ohr und rüttelte ihn, »Ihr müßt wieder nüchtern werden! Nehmt noch ein Glas von diesem Wallufer, es ist ein ganz leichter Kutscherwein, ein bloßer Groschenburger, – der kühlt und erweckt! Alle Küfer trinken sich zuletzt wieder nüchtern daran. Allein Ihr müßt das ganze Glas auf einen Zug leeren.« Und nun füllte er ein großes Wasserglas, aber nicht mit dem Groschenburger, sondern mit seinem stärksten Weine, dem Sechsundneunziger.

Er betrachtete schwermütig die Fülle des edlen Getränkes und sagte leise für sich: »Dieses Opfer bringe ich dem Deutschmeister, der mich verfolgt und nicht einmal anhören will!« und reichte das Glas dem Lakaien, der es auf einen Zug austrank.

Die Wirkung war blitzartig: lautlos brach der starke Mann zusammen, fiel der Länge nach auf den Estrich und blieb steif wie ein Toter liegen.

Nun packte ihn der Schultheiß auf, rief seinen Knecht und ließ den Trunkenen ins Gemeindegefängnis schleppen, welches gleich hinterm Hause mit den Schweineställen unter ein Dach gebaut war. Dort konnte er wohlverwahrt seinen Rausch ausschlafen; den Schlüssel aber steckte der Schultheiß selber in die Tasche und sprach zum Knecht, denn er mußte immer sprechen: »Michel! den Kerl habe ich besiegt! Im Keller bleibt der Rheingauer alleweil Meister; wäre ich mit dem Weltbürger über der Erde zusammengetroffen, so würde er wahrscheinlich umgekehrt mich über den Löffel barbiert haben.«

Dann lief er zum Staunen des Knechtes stracks hinunter nach Schlangenbad. Im Laufen aber legte er sich aus dem eben Erlebten folgende Geschichte zurecht: Man wollte ohne Zweifel noch vor Tagesanbruch den Deutschmeister berauben oder gar ermorden, und der Lakai spielte dabei den Kundschafter und Verräter. Er hatte ihn ausforschen und durch das Gerede von dem Umweg über Kiederich auf eine falsche Fährte locken wollen; vermutlich beabsichtigten die Räuber ihre Flucht in entgegengesetzter Richtung in die Taunuswälder zu nehmen. Aber der Streich mußte verhindert werden; bei so dringender Gefahr mußte ihm der Deutschmeister augenblicklich Audienz geben, zur Not im Bette, und als Anhang konnte er sich dann auch gleich über seine eigene Sache aussprechen.

Durchdrungen von der Wucht des Momentes, erreichte er Schlangenbad, welches damals nur aus wenigen, einsam im Walde gelegenen Häusern bestand, und klopfte seinem Gevatter, dem Burggrafen, so stark ans Fenster, daß die Scheibe klirrend in die Stube fiel und der erschrockene Mann im Hemde herbeisprang und rief: »Wo brennt's?«

Der Schultheiß beschwichtigte ihn und sagte, er begehre nur ganz stillen Einlaß, er habe dem Deutschmeister höchst Wichtiges mitzuteilen. Der Burggraf glaubte, sein Gevatter habe aus Angst den Verstand verloren, und belehrte ihn, daß die Herrschaften mitternachts keine Audienzen erteilten. Im übrigen möge er sich aus dem Staube machen; denn die Fürstlichkeiten hätten beim Billard höchst erzürnt von dem Bauernpack gesprochen, welches das Regiment kritisiere und über Krieg und Frieden, Kaiser und Reich räsoniere, und vom bösen Geiste der Zeit, welcher unterdrückt werden müsse, auch sei eine reitende Stafette nach Mainz gegangen – – »Über diese alten Geschichten will ich mich zunächst gar nicht aussprechen, sondern erst hinterdrein«, unterbrach ihn der ungeduldige Schultheiß. »Aber es ist ein Komplott im Werke gegen den Pfalzgrafen: der Leiblakai hat mir's vorhin verraten –«

»Der Leiblakai? Wo steckt der? Wir suchten ihn den ganzen Abend.«

»Ich habe ihn arretiert.«

»Unglücksmensch!« rief der Burggraf, »was hast du da wieder angerichtet! Am Morgen arretierst du den Fürsten und am Abend seinen Leiblakaien –«

»Und wenn die Raubgesellen nicht gleichfalls arretiert werden, und zwar vor Tagesanbruch«, fiel der Schultheiß ein, »dann gibt's ein großes Unglück. Aber wir müssen erst wissen, wer sie sind.«

»Jetzt arretiert er gar im voraus Leute, die er noch gar nicht kennt!« rief der Burggraf. »Ich fürchte, ich fürchte, Gevatter, der Nächste, welcher arretiert werden wird, bist du selber. Wieviel Flaschen hast du denn heute nacht getrunken?«

Der Schultheiß versicherte, daß er in seinem Keller nur ein Dutzend Fässer geprobt habe mit dem Leiblakai und noch ganz nüchtern sei; zur Bekräftigung aber fuhr er so heftig mit dem Arme aus, daß er das Gleichgewicht verlor und sich an der Mauer halten mußte.

Da schlug der Burggraf das Fenster zu und schickte ihn unter Scheltworten nach Hause, daß er seinen Rausch ausschlafe. Trotz allen Protestierens blieb dem ehrlichen Schultheißen zuletzt nichts übrig, als sich einstweilen zu gedulden. Laut mit sich selber redend und leidenschaftlich gestikulierend, ging er das Schlangenbader Tal hinab und setzte sich in eine verlassene Wächterhütte am Wege, von wo er die Badehäuser im Auge behalten wollte.

Allein die Müdigkeit und der geprobte Wein übermannten ihn, und er fiel in tiefen Schlaf.

Drittes Kapitel

Gegen drei Uhr morgens schlief endlich die ganze Gesellschaft: der Leiblakai hinter Schloß und Riegel, der Burggraf hinter der zerbrochenen Scheibe, der Schultheiß im Wächterhäuschen, der Deutschmeister und die Prinzen und Grafen in ihren Betten.

Der Deutschmeister träumte eben, er sei am kaiserlichen Hofe zu Wien in überaus glänzendem Kreise und führe die schöne Erzherzogin Klementine zur Tafel. Die Trompeten schmetterten, die Pauken wirbelten lauter und immer lauter, zuletzt taten die Pauker drei Schläge, als wollten sie das Fell ihrer Instrumente entzweischlagen, und die schöne Erzherzogin, welche bisher in den zartesten Tönen deutsch geflüstert, begann plötzlich im tiefsten Baß französisch zu reden und zu fluchen, und die Hofdamen schrien und fluchten auch mit tiefen Männerstimmen.

Da erwachte der Deutschmeister. Die schönen Damen waren verschwunden, aber das französische Schreien und Fluchen dauerte fort, es schallte aus dem Vorzimmer herein; die Paukenschläge waren Pistolenschüsse gewesen, denen noch mehrere folgten – französische Dragoner drangen ins Schlafgemach und forderten den Fürsten auf, sich zu ergeben.

Er sprang aus dem Bett und flüchtete ins nächste Zimmer, wo seine Waffen hingen, und da von hier kein weiterer Rückzug möglich war, ergriff er ein Pistol, schoß den Hauptmann der Dragoner nieder und versuchte dann mit dem Degen sich durchzuschlagen. Sein Oberststallmeister, ein Herr von Westernach, der ihm von außen zu Hilfe kommen wollte, ward durch den Kopf geschossen und sein Mundschenk in der Türe zusammengehauen. Nach wenigen Minuten verzweifelter Gegenwehr wurde sodann auch der Deutschmeister von der Überzahl bewältigt und entwaffnet.

Die Franzosen gestatteten ihm kaum, daß er sich halbwegs ankleidete, banden ihm die Hände auf den Rücken, raubten in Hast, was ihnen von Wertsachen ins Auge fiel, und führten dann ihren Gefangenen vor das Haus, wo der Graf von Solms und der Prinz von Mecklenburg nebst drei andern vornehmen Badegästen, gleichfalls halbnackt und gefesselt, bereits von einer größeren Dragonerschar bewacht und vorwärtsgetrieben wurden.

Dieses war der »Überfall im Schlangenbad«, welcher damals so ungeheures Aufsehen durch ganz Europa machte, ein überaus kecker Reiterstreich. Von Weißenburg herüber waren sechzig Dragoner dreißig Stunden Wegs weit mitten durch Feindesland bis Budenheim gejagt; dort hatten sie ihre Pferde unter Bedeckung von fünfzehn Mann im Walde zurückgelassen, und die übrigen fünfundvierzig waren auf drei Kähnen über den Rhein nach Walluf gefahren, um in den anderthalb Stunden talaufwärts gelegenen Badehäusern die Fürsten aufzuheben. Der Hauptmann der Franzosen, ein sogenannter »Parteigänger« namens Kleinholz, hatte des Landes kundig die Truppe so rasch und sicher geführt und die Vorkehrungen zu gleich schleunigem Rückzuge auf andern Wegen so geschickt getroffen, daß am vollkommenen Gelingen nicht zu zweifeln war. Die schwache Reichsarmee stand zur Zeit bei Graben, Philippsburg und Germersheim, wartete auf »grobes Geschütz« und hatte das ganze rückwärts gelegene Land unbesetzt gelassen. Die Bewohner der unteren Pfalz und des Kurmainzischen aber lebten wie im tiefsten Frieden, und so war der Ritt der sechzig Dragoner von Weißenburg nach Budenheim in der Tat nur ein scharfer Spazierritt gewesen.

Durch den Tod des Hauptmanns Kleinholz ergriff jedoch die Truppe sofort nach gelungener Tat Ratlosigkeit und Verwirrung. Sie durften nicht geradenwegs nach Walluf zurückmarschieren, wo die Einwohner wohl inzwischen durch die Schiffer, welche man zur Überfahrt gezwungen, alarmiert worden waren. Und keiner wußte jenen andern Weg, den Kleinholz beabsichtigt hatte. Der Verräter aus des Deutschmeisters eigenem Hause, der Leiblakai Kastor, konnte allein noch helfen: man fand ihn nirgends! Er hatte den Franzosen vorher die Zimmer der Fürsten brieflich genau beschrieben und die Türen leise zu öffnen versprochen. Wäre er von Anbeginn zur Stelle gewesen, so würde die ganze Gesellschaft ohne Widerstand in den Betten überrumpelt worden sein. Durch seine Abwesenheit war schon Zeit- und Menschenverlust genug entstanden, und jetzt hätte man seiner als Wegweiser so dringend bedurft!

Vergebens suchten und riefen die Franzosen nach ihm: sie mußten sich zuletzt auf eigene Faust aus dem Staube machen und wandten sich mit ihrer Beute nordwestwärts in die Waldberge, um von dort die Straße über Kiederich zum Rhein zu gewinnen. Es war dies die verkehrteste Richtung, welche sie nur einschlagen konnten, genau dieselbe, wovon Kastor so geflissentlich mit dem Schultheiß geredet, um ihn für den Fall eines Alarms auf die falsche Spur zu führen.

Mühselig klomm die schon halb entmutigte Schar die steilen Höhen hinan, ihre Gefangenen mit flacher Klinge und unter steter Todesbedrohung vorwärtstreibend. Dem Deutschmeister, welcher in der Eile nur einen Schuh angezogen hatte, sollen die steinigten Bergpfade im Geschwindmarsch besonders sauer geworden sein.

Es war aber einem Jäger dieses Fürsten geglückt, vor dem Abmarsch der Dragoner zu entwischen. Spornstreichs lief er in entgegengesetzter Richtung das Tal hinab und war kaum um die erste Felsenecke gebogen, als ihm der Schultheiß von Rauenthal entgegentrat, den der ferne Lärm aus seinem kurzen Schlafe geweckt und vor die Wächterhütte gelockt hatte. In wenigen verworrenen Worten rief ihm der Jäger die Schreckenskunde zu.

»Das kommt davon, wenn man die Leute nicht reden läßt!« schrie der Schultheiß. »Hätte mich mein Gevatter aussprechen lassen, hätte der Deutschmeister mich hören mögen, dann wäre das ganze Unglück nicht geschehen!«

Doch es war wiederum keine Zeit zum Ausreden; und der Schultheiß war auch im Augenblicke ganz ein Mann der Tat. Wie ein Feldherr faßte er seinen Plan im Handumdrehen, hieß den Jäger seitwärts über den Berg laufen, um den Marsch der Franzosen von ferne zu beobachten, und bezeichnete ihm einen Platz, wo er binnen einer halben Stunde wieder zu ihm stoßen solle. Dann flog er selber nach Rauenthal, schrie durch die Gassen: »Raub! Mord! Feuer! Bürgerrecht!«, ließ Sturm läuten und rief alle Männer zu den Waffen. Der Rheingauer Landsturm war seit alter Zeit berühmt und bewährt.

Es dauerte auch keine halbe Stunde, so zog eine stattliche Schar kräftiger Männer, mit Flinten, Schlüsselbüchsen, alten Spießen und Säbeln, Sensen und Dreschflegeln bewaffnet, gegen Kiederich hinauf, und die größeren Schulbuben mußten in die nächsten Dörfer laufen, wohin sie mitunter wohl abenteuerlich verdrehte Botschaft brachten, aber die Sturmglocken antworteten einander doch bald von einem Kirchturm zum andern, und bewaffnete Bauern strömten von allen Seiten zum Sammelplatze.

Geraume Zeit verfloß, bis endlich der Jäger die Fährte der Franzosen meldete: sie hatten sich derart in den Waldschluchten verlaufen, daß sie anfangs gar nicht wieder aufzufinden waren. An einem steilen, engen Hohlweg, unweit Kiederich, der sogenannten »Viehtriftshohl«, postierte nun der Schultheiß seine Mannschaft folgendergestalt: ein Teil mußte sich hinter den Schlehen- und Brombeerbüschen verstecken, welche rechts und links die Ränder des Hohlwegs krönten, während er selbst sich mit den Mutigsten und Bestbewaffneten am Ausgange des Weges verborgen hielt.

Er ließ die Franzosen ganz ruhig durch den Engpaß ziehen, bis sie alle darin und die vordersten schon dem Ausgang nahe waren. Dann aber rief er zur Losung die Worte, welche ihm gestern aus dem Munde des Deutschmeisters so erweckend ans Ohr geschlagen waren: »Lümmel und Flegel!« – und die Männer oben hinter den Hecken antworteten: »Bauernübermut!« und feuerten zugleich von beiden Seiten und von hinten in den Menschenknäuel. Neun Franzosen stürzten zusammen, und es war ein rechtes Wunder, daß kein erlauchter Badegast mitgetroffen wurde. Nun erst brach der Schultheiß mit seinen Kernleuten, den Ausweg vertretend, von vorn zum Angriff los; mit einem Schwedensäbel aus dem Dreißigjährigen Krieg bewehrt, schreckte er die Vordersten durch gewaltige Hiebe zurück, und die Nebenmänner streckten ihre Spieße vor.

Der Führer der Dragoner, ein junger Kornett, sah, daß alles verloren sei. In gebrochenem Deutsch rief er um Waffenstillstand und begehrte, den Hauptmann der Angreifenden zu sprechen. »Der bin ich! Anton Kayser! Ich bin der Schultheiß von Rauenthal!«

Hierauf sprach der Franzose sehr höflich: »Liebe Leute! Wir sind hier auf kurmainzischem Boden? und ihr seid Untertanen des Kurfürsten?« – der Schultheiß antwortete jedesmal: »oui!«, denn er wollte zeigen, daß er doch auch etwas Französisch könne – »also«, fuhr der Kornett fort, »sind wir Landsleute, ihr lieben Freunde, und ihr tatet sehr unrecht, uns hier anzugreifen; denn euer Kurfürst ist ein Vasall unseres Königs, und wo das Land mainzisch ist, da sind wir so gut wie zu Hause, da ist Frankreich.«

»Den Grund möcht' ich doch genauer wissen, Landsmann!« rief der Schultheiß.

Etwas mühsam, doch klar genug trug ihm der Kornett vor, daß der Kurfürst von Mainz seit zwei Jahren eine Abgabe an Frankreich zahle, und wem man steuere, dem sei man auch untertan. Es hatte sich aber der Kurfürst allerdings seit 1707 zu einer Abgabe an den König von Frankreich herbeigelassen, doch nur um sich von den französischen Brandschatzungen loszukaufen. Dieses schimpfliche Lösegeld hatte den braven Schultheißen schon oft gewurmt; da er nun aber hörte, daß der Franzose gar Vasallenschaft, ja ein Untertanenverhältnis daraus folgerte, brach er in eine wahre Hochflut von Donnerwettern aus und rief: »Wenn ihr Schwerenöter auch gar nichts Übles getan hättet, so hauen wir euch jetzt schon wegen dieser bloßen Impertinenz zusammen, sofern ihr nicht augenblicklich die Waffen streckt!«

Der Deutschmeister, welcher vor Wut, Schmerz und Freude zugleich am ganzen Leibe zitterte, rief, da er dies hörte, grimmig lachend zu seinen Mitgefangenen hinüber: »Helf mir Gott! Jetzt legt sich der Bauer gar noch aufs Völkerrecht und verdeutscht dem Franzosen den Grotius und Pusendorf!«

Der Kornett aber, erkennend, daß hier das Parlamentieren ebenso nutzlos sei wie die Gegenwehr, zerbrach seinen Degen und warf dem Schultheiß die Stücke vor die Füße.

»Das war grob!« rief derselbe. »Doch ist mir diese Grobheit lieber als vorhin Eure Höflichkeit.«

Nun mußten die Franzosen ihre Gefangenen freigeben, ihre Waffen abliefern und, von den Flintenläufen bedroht, so lange im Hohlweg bleiben, bis sich die Bauern durch die zuströmende Menge noch verstärkt und geordnet hatten. Dann nahmen sie die neuen Gefangenen samt den Verwundeten in ihre Mitte, um dieselben in langsamem Zuge nach der kurfürstlichen Amtsstadt, nach Eltville, abzuführen.

Dem halb barfüßigen Deutschmeister gab man ein Paar Bauernschuhe, die ihm wie Holzschuhe um die wundgelaufenen Füße schlotterten, und so schritt er denn, nachdem er seinen Befreiern herzlich gedankt hatte, mit dem Schultheißen eine ziemliche Strecke voraus. Denn dieser konnte gar nicht langsam gehen, und der Fürst hielt jetzt aus lauter Dankbarkeit Schritt mit ihm trotz aller Schmerzen, und der Rauenthaler merkte gar nichts von dieser seinen Courtoisie.

Er war glückselig, daß er sich nun doch wenigstens in aller Breite aussprechen durfte, hatte aber so viel zu sagen, daß er kaum den Anfang fand. Endlich begann er: »Wenn Eurer hochfürstlichen Durchlaucht Leiblakai, Herr Kastor, demnächst gehängt und gevierteilt wird, so bitte ich, lasset ihn vorher wieder auf den Ulrich Mottinger zurücktaufen und nehmet ihm den Kastor ab: der Kerl ist zu schlecht für einen ehrlichen Hundenamen.« An diesen Knoten knüpfte er dann seine weitere Geschichte, sie von hinten nach vorn spinnend, so daß er durch die Verräterei und die Weinprobe der Nacht hindurch schrittweise bis zu der Pfändung des gestrigen Tages vordringen wollte.

Doch kaum war er bei dem großen Wasserglas voll Sechsundneunziger angelangt, so donnerte ihm ein: »Halt!« links aus dem Busche entgegen, und hervor sprangen Bewaffnete und ergriffen ihn.

Es war der Vizedom (der Landhauptmann) von Eltville mit seinen Häschern. »Schließt den Schultheiß krumm!« rief er und wandte sich dann gegen den Deutschmeister, welchen er in seinem jämmerlichen Aufzuge kaum wiedererkannte, von Beteuerungen der Teilnahme überfließend, und versicherte demselben bei allen Heiligen, daß dieser Schurke von Schultheiß dem Galgen nicht entgehen werde.

Der Fürst, nicht minder verblüfft wie der Schultheiß, suchte vergebens seinen Retter zu rechtfertigen; der Vizedom wollte kein begütigendes Wort hören. Widerspruch schien ihm hier offenbar höflicher als Zustimmung. Auch der Schultheiß wollte reden, allein der Vizedom drohte, ihm den Mund mit einem Knebel zu stopfen. »Herr!« rief jener, »wenn Ihr wüßtet, welches Unheil unterdrückte Aussprache heute schon angerichtet hat, so würdet Ihr den Knebel nicht einmal in Euren Mund nehmen, geschweige daß Ihr ihn in den meinigen stopfen möchtet!«

Mitten in dieser Verwirrung kamen die andern Bauern herbei und brachten die gefangenen Franzosen.

Nun war der Vizedom sprachlos vor Erstaunen. Er hatte bis zum Augenblicke gar nicht gewußt, daß Franzosen, und vollends reguläre Truppen, in das Land seines kurfürstlichen Herrn eingedrungen seien; Kurmainz lag ja noch ganz außerhalb des Kriegsschauplatzes! Dagegen wußte man in Mainz bereits seit gestern abend, daß der Schultheiß von Rauenthal den Deutschmeister gepfändet und rebellische Reden verführt habe, und hatte in dieser dringenden Sache mitten in der Nacht bereits Befehle an den Vizedom geschickt, welcher bei Tagesgrauen sofort aufgebrochen war, um den Frevler zu verhaften und nach Mainz zu führen. Wie hurtig war da alles gegangen! Dieses rasch schlagfertige Exekutionskommando war nun also in der Frühe gen Rauenthal gezogen. Da hörte der Vizedom unterwegs die Sturmglocken und griff einen von den Schulbuben auf, welche ausgesandt waren, in den andern Dörfern Sturmläuten und bewaffneten Zuzug zu erbitten im Namen des Schultheißen von Rauenthal. Der arme Junge aber erzählte, was ihm die Leute unterwegs erzählt hatten, und es war bereits von Mund zu Mund eine echte Volkssage geworden: die Bauern, so hieß es, seien aufgebrochen, den Schultheiß von Rauenthal an der Spitze, und führten den Deutschmeister gefangen nach Kiederich, weil der gnädige Herr gestern dem Schultheißen mit dem Hirschfänger ein Ohr abgehauen habe.

Ein solches Übermaß des Frevels hatte der Vizedom dem Anton Kayser gar nicht zugetraut, obwohl er ihn als einen rechthaberischen und jähzornigen Mann kannte. Rasch entschlossen, zog er nun aber mit seinen Bewaffneten gegen Kiederich, und es war kein Wunder, daß er bei der plötzlichen Begegnung glaubte, der Fürst sei der Arrestant des rebellischen Schultheißen und seiner Bauern, welche ihn in solch kläglicher Verfassung durch die Wälder schleppten.

Der Knäuel dieses Mißverständnisses war in der Tat nicht leicht zu entwirren.

Endlich gelang es jedoch dem Deutschmeister, sich Gehör zu verschaffen; alle schwiegen, nur der Schultheiß räsonierte noch inwendig, halblaut, weil seine Aussprache gegen den Fürsten nun doch unterbrochen war und er gegen den Vizedom vollends gar nicht zu Worte kommen konnte.

Der Fürst klärte den Landhauptmann vollständig auf über die unerhörten Dinge, welche geschehen waren, pries den Schultheiß über die Maßen und verzieh ihm alle Schuld von gestern. Zum Schlüsse sprach er: »Welch ein Glück, daß wenigstens diese Bauern – oder Winzer! – wußten, daß Krieg im Reiche ist, und daß sie rascher zur Hand waren wie droben bei Weißenburg die Reichsarmee und daß der Schultheiß von der französischen Lesart des Völkerrechtes nichts hören wollte! Ich glaube, wenn einmal alle Bauern Soldaten würden, dann bekämen wir Straßburg wieder« –

»Jawohl! und wenn die Fürsten mit ihnen zusammengingen, wie wir beide gegenwärtig!« unterbrach der Schultheiß.

»Will Er Sein böses Maul halten!« rief der Vizedom und wandte sich dann entschuldigend gegen den Deutschmeister: »Die Rheingauer, hochfürstliche Durchlaucht, müssen immer räsonieren; sie tun das schon seit tausend Jahren, aber sie meinen's nicht böse.«

Inzwischen waren zwei Leiterwagen gekommen, und die Fürstlichkeiten fuhren, von zahlreicher Schutzmannschaft begleitet, ins Schlangenbad zurück, um dort zunächst ihre unterbrochene Toilette zu vervollständigen und zu Hemd und Strümpfen nunmehr auch Rock und Hosen anzuziehen. Die Rauenthaler aber und die andern Rheingauer marschierten nach Mainz, wo der Schultheiß nun mit seinen Gefangenen einen Triumpheinzug hielt, während er vor wenigen Stunden noch gefürchtet hatte, selber als Gefangener eingebracht zu werden.

Ein Gefangener freilich fehlte in der Gesellschaft – der Leiblakai Kastor. Sein böses Gewissen mußte ihm selbst im schwersten Rausche keinen festen Schlaf gegönnt haben: er war beim Sturmläuten aufgewacht und ausgebrochen, und man fand nirgends mehr eine Spur von ihm. Sachkundige behaupteten, die Fenstergitter des Gemeindegefängnisses seien so schlecht verbleit gewesen, daß schon seit Jahren die Gefangenen überhaupt nur aus Unwissenheit oder gutem Willen darin sitzengeblieben seien. Der Schultheiß dagegen erklärte dies für Verleumdung und schwur, daß nur sein Sechsundneunziger dem Schuft die Riesenstärke gegeben habe, so feste Gitter auszuheben. In Mainz wurde Anton Kayser vom Kurfürsten in besonderer Audienz empfangen; man verhieß ihm und seinen Bauern die glänzendste Belohnung.

Daß er hinterdrein nichts kriegte, kümmerte den Schultheiß wenig. Er hatte auf eigene Faust als braver deutscher Mann gehandelt und nicht um Lohnes willen. Nur eines verdroß ihn: die Audienz war sehr kurz gewesen!

Und noch lange nachher klagte er: »Es ist eine eigene Sache mit großen Herren! Wenn man ihnen so feierlich gegenübersteht und eben zu reden anfängt, dann ist man auch gleich am Ende; – und sie selbst sind noch viel geschwinder fertig. Und ich hätte mich doch so gern einmal ausgesprochen! Im allgemeinen verstehen auch die Herrschaften das Rheingauer Deutsch nicht; aber die Franzosen haben's verstanden.«


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