Joseph Roth
Die Geschichte von der 1002. Nacht
Joseph Roth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIV

Eine lange Zeit bemerkte niemand aus der Umgebung der Frau Josephine Matzner, daß sich zugleich mit ihrem Körper auch ihr Wesen veränderte. Man sah nur, daß sie alterte. Sie selbst wußte es, obwohl sie selten in den Spiegel sah. Sie hatte gleichsam den Spiegel im Kopf, wie manche Menschen die Uhr im Kopf haben. Wenige Jahre vorher behagte ihr noch gelegentlich eines der täppischen und handgreiflichen Komplimente, das ihr der und jener ihrer Stammgäste zu machen pflegte. Es waren sinnlose Komplimente. Weder sollten sie irgendein Begehren des Gastes andeuten, noch auch erweckten sie irgendeinen Wunsch im Herzen der Frau Josephine Matzner. Sie hätten also eigentlich in alle Ewigkeit fortgesetzt werden können, ebenso wie bestimmte konventionelle Bräuche innerhalb der Gesellschaft unabhängig sind vom Alter derjenigen, die sie ausüben. Aber siehe da, was geschah? – Auch diese symbolischen Komplimente, deren Gegenstand die Frau so lange Jahre gewesen war, wurden nunmehr immer seltener; und eines Abends hörten sie ganz auf. Es war beinahe so, als ob sich die Herren verabredet hätten. Als der letzte Gast verschwunden war, die Mädchen schon schlafen gingen und der Kapellmeister sich den Frack auszog, sah sie noch für einen flüchtigen Augenblick in den Spiegel hinter der Kassa. Ja, alles war so, wie sie es bereits seit langem wußte: Zwischen den grauen Haaren spielte noch ein häßlicher Schimmer der früheren, aufreizenden, pikanten Röte. Zwei dicke Falten saßen, gleichsam ohne Grund, über der Nasenwurzel. Die Lippen waren trocken, rissig und bläulich. Die Augen unter stark gerunzelten Lidern waren wie zwei winzige, ausgelaugte Teiche. Der Kopf ging unmittelbar in die Schultern über, als säße er gar nicht auf dem Hals. Und auf den Brüsten, unter dem dichten Puderstaub, lauerten gelblichrötliche Flecke, Insekten nicht unähnlich.

Seit dieser Nacht erfuhr Frau Matzner, daß das Leben vorbei war. Sie hatte sich niemals Illusionen gemacht. Sie war gesonnen, das Alter ebenso mutig anzupacken, wie sie einst ihre Jugend, ihren Beruf, ihre Männer, ihr Geschäft angepackt hatte. Jede Stunde ihres Lebens hatte sie sich genaue Rechenschaft über sich abgelegt. Sie kannte sogar die Teufel, denen sie zeit ihres Lebens ausgeliefert war, und hätte sie fast alle bei Namen nennen können. Aber einen jener Teufel des Alters kannte sie nicht, der sich oft zu den einsamen Greisinnen schleicht, ihre Herzen verhärtet und ihre modernen Sinne mit einer neuen Wollust erfüllt: die Geldgier. Sie fühlte nicht, wie sie immer geiziger und geldgefräßiger wurde.

Es ereignete sich freilich auch sonst etwas, was ihr selbst den Anschein eines berechtigten Geizes oder einer Sparsamkeit vortäuschen durfte: Das Haus »ging« nicht mehr. Wie oft wechseln die Moden in der Welt! Das Haus der Matzner kam aus der Mode. Zwei neue erstanden, eins in der Nähe der Wollzeile und ein anderes in der Vorderen Zollamtsstraße. Auch die Mädchen, die der Frau Matzner treu blieben, wurden alt – und die jungen wurden treulos. Wo waren die Zeiten dahin, wo Frau Matzner noch sagen konnte: »Meine Kinder sind alle Gold!« und wo diese goldenen Kinder sie mit den fröhlichen Stimmen junger Vögelchen »Tante Finchen« oder »Finerl« riefen? Jetzt sagte man »Frau Matzner«, und die Kinder erinnerten nicht mehr an Gold, eher an das Kupfer, das sie noch dem Hause eintrugen. »Es kommt nur noch kreuzerlweis'!« stöhnte die Matzner.

In der Nacht war sie wach. Wenn sie sich hinlegte, hatte sie das Gefühl, daß sie sich wehrlos machte, weil die Ängste es gleichsam leichter hätten, sich von oben her über sie zu stürzen. Sie erhob sich also wieder und keuchte zum Lehnstuhl. Sie stöhnte oft, in dem Glauben, daß es sie erleichtern könnte, aber sie sagte sich sofort: Wie schlecht muß es mir gehn, wenn ich, die Josephine Matzner, schon zu stöhnen anfange. Sie nahm auch hie und da ein Schlafmittel, aber den Ängsten, der Furcht, der Bangnis konnte man keins eingeben! – Sie sah sich schon im Armenhaus am Alsergrund; im Greisenasyl in der Bachergasse; am Krippentisch der Barmherzigen Brüder; als Aushilfe, die Fußböden scheuernd bei der Milchfrau Dworak; schließlich vor der Polizei, vor dem Gericht und sogar im Kriminal. Denn es schien ihr klar, daß die Not allmählich so gewaltig werden müßte, daß sie schließlich gezwungen wäre zu stehlen. Und sie sah sich stehlen, und sie empfand schon die Angst des Diebes vor dem Ertapptwerden.

Immer häufiger ging sie zu ihrem Bankier, Herrn Efrussi. Sein Vermögen, seine kluge Ruhe, seine Redlichkeit, sein Ruf, sein Alter: alles tröstete sie. Er war ein stiller Greis, von einer berechnenden Gutherzigkeit (der einzigen, die auf Erden kein Unheil anrichtet). Frau Josephine Matzner saß vor ihm in dem unbequemen Stuhl, in dem altmodischen Kontor, sehr tief (der Bankier Efrussi benutzte noch das hochgelegene Pult mit dem winzigen Sitzpolster ohne Lehne, das an einer metallenen Schraube befestigt war). Halb saß er, halb stand er an seinem Pult. Er drehte sich Frau Josephine Matzner zuliebe herum. So tief er aber auch sein Polster herunterschrauben mochte, er blieb doch in einer beträchtlichen Höhe über dem Kopf der Besucherin. Es war auch keine Rede davon, daß er ihr Gesicht hätte sehen können, denn ein großer Hut bedeckte den Kopf, und lediglich an dem leisen Zittern der violetten Pleureusen konnte Efrussi erkennen, ob Frau Matzner zustimmte oder ablehnte. »Sie haben ja«, wiederholte er bereits zum fünfundzwanzigsten Male, »›Albatros‹ für fünftausend, für dreitausendfünfhundert Staatslose, mit zehntausend sind Sie an der Pfaidlerei beteiligt, mit zweitausend an der Bäckerei Schindler, Ihr eigenes Geschäft ist – ich weiß nicht, wieviel wert – Ihr Notar wird es wissen. Sie wissen es auch. Sie sind dreiundfünfzig Jahre alt.« Hier unterbrach Frau Matzner: »Zweiundfünfzig, Herr Efrussi!« – »Um so besser«, fuhr er fort, »also selbst wenn Ihr Geschäft nicht geht und Sie wollen nicht nur Coupons schneiden, so arbeiten Sie noch gute acht Jahre in voller Blüte, in der Pfaidlerei meinetwegen. Gründen Sie ein Modistengeschäft – kaufen Sie eins – Sie haben Geschmack.« Immer brachte der Anblick der Pleureusen den Bankier Efrussi auf die Modisten-Idee. »Ist das auch ganz sicher, Herr Kaiserlicher Rat?« fragte Josephine Matzner.

»Ich kann's Ihnen beweisen«, sagte Efrussi, und, wie gewöhnlich, bewegte er das Tischglöckchen. Wie gewöhnlich kam der Buchhalter. Er öffnete die Bücher. Stumpf blickte Josephine Matzner auf die blauen Zahlen, roten Streifen, grünen Striche: Tröstlich war all dies. Sie erhob sich, sie nickte, sie sagte: »Herr Kaiserlicher Rat, Sie haben mir einen Stein vom Herzen genommen«; und sie ging endlich.

Einmal fiel es ihr ein, daß sie in der Pfaidlerei der Mizzi Schinagl nach dem Rechten sehen müsse. Bevor sie noch in den vertrauten Laden trat, schien ihr irgend etwas auf den ersten Blick verändert. Unheil ahnte sie. Sie sah zwei neue, goldgerahmte Spiegel im Fenster und an der Glastür eine große Tafel mit der Inschrift: »Echte Brüsseler Spitzen«. Und ihr Herz stockte, als sie im Innern des Ladens den Herrn Lissauer erblickte. Sie kannte diese Art Gäste ihres Hauses; »Kunden« war die richtige Bezeichnung für diese Leute. »Wir haben uns lange nicht gesehen, Herr von Lissauer!« sagte sie, »ja, alle Welt hat uns verlassen. Wir sind den Herren nicht modern genug. Es geht wohl viel solider bei mir zu als in der Vorderen Zollamtsstraße zum Beispiel.«

»Wissen Sie, man wird älter und ernster!« sagte Lissauer. »Und dann, Sie sehen ja! Ich arbeite hier fleißig!«

Ja, sie sah es wohl. Mit einem der hurtigen und scharfen Rundblicke, derentwegen man sie in den früheren Jahren so gefürchtet hatte – in ihrem eigenen Hause, in den Läden, in denen sie einzukaufen pflegte, in der ganzen Gegend und selbst im Bezirkskommissariat, wo sie alle Wachleute und alle Geheimen kannte, überflog sie jetzt den ganzen Laden. War das überhaupt noch eine Pfaidlerei? Wo waren die kleinen, niedlichen Schächtelchen mit den Knöpfen und Knöpfchen aller Art, Farbe, Form und Größe? Wo die lieblichen und doch so soliden Hafteln und Häkchen? Wo die Prachtstücke der Pfaidlerei, die großartigen sogenannten Besatzstücke? Wo alle diese unwichtigen, gewichtlosen Dingerchen, die man eigentlich nur so mit führte, eine Art nebensächlicher Begleiterscheinungen der wirklichen, der ernsten Ware, ohne die aber keine einzige Schneiderin in der Umgebung auskommen konnte. Und was sollten diese Brüsseler Spitzen? Wer in dieser Gegend, wer von dieser Kundschaft konnte Brüsseler Spitzen kaufen? Ihr, der Frau Josephine Matzner, brauchte man nicht zu erklären, was Brüsseler Spitzen waren! Sie konnte sich nicht enthalten, Herrn Lissauer zu sagen: »Sie haben ja den Laden ganz schön ausgeräumt!« – »Ausgeräumt? Ausgeräumt? So nennen Sie's?« rief der junge Mann. Und mit dem geschwätzigen Eifer, der ihm eigen war und der ihm schon recht viel unbegreifliche Erfolge eingetragen hatte, begann er, der Frau Matzner auseinanderzusetzen, welchen Aufschwung das Geschäft genommen hätte und wieviel er schon an den Spitzen verdient habe und noch zu verdienen gedenke. Wie so mancher, dem eine Unredlichkeit längere Zeit Gedeih und Verdienst einträgt, vergaß auch Lissauer zuweilen die Vorsicht über der Eitelkeit. Obwohl er wußte, daß er nicht befugt gewesen war, den Anteil der Matzner in das Geschäft mit den Spitzen zu stecken, schien es ihm doch sicher in seinem törichten Optimismus, daß die Matzner nicht nur mit ihm einverstanden sei, sondern sich auch schon als seine Komplizin betrachtete. Er verdrängte die peinliche Erinnerung an die Tatsache, daß die Bücher nicht in Ordnung waren, und ferner, daß er selbst ein Drittel der Einnahmen verwendet hatte. Mizzi Schinagl verlangte nie eine Aufklärung. Weshalb sollte die Matzner eine verlangen?

Frau Matzner konnte eine leichte Übelkeit nicht mehr ganz verbergen. Sie lehnte sich an den Ladentisch und verlangte nach einem Glas Wasser und nach einem Sessel. Sie trank in kleinen Zügen und lag halb ausgestreckt im Sessel, trotz dem Mieder, das ihren Körper mörderisch umpanzerte. Sie erholte sich langsam. Sie zog die Hutnadel aus dem gewaltigen Strohdach, das sie bedeckte, und, indem sie die Waffe gegen Lissauer kehrte, sagte sie: »Lissauer, ich möchte die Bücher sehn. Ich werde mit meinem Notar sprechen.«

Lissauer holte die Bücher herbei. Noch einmal sah die arme Matzner schwarze Ziffern, blaue Ziffern, grüne Striche, rote Linien; aber diesmal war sie nicht beruhigt. »Und wo ist das Kapital?« fragte sie. »Und die Gewinne?« – »Das Kapital arbeitet, Frau Matzner«, sagte Lissauer ganz leise. Er klappte die Bücher zu und sprach noch weiter. Sie hörte nicht mehr alles. Sie vernahm nur noch ein paar Worte wie »neue Zeiten, moderne Geschäftsmethoden, kein totes Kapital« und dergleichen. Sie dachte mit Schrecken daran, daß ihre zehntausend Gulden verloren waren.

Unverzüglich verabschiedete sie sich, ohne die ausgestreckte Hand Lissauers zu beachten. Sie ging zur Post. Es war höchste Gefahr. Die Hutnadel hielt sie immer noch in der Hand. Der Riesenhut wackelte. Sie überwand die Angst vor einer außerordentlichen Geldausgabe. Sie depeschierte nach Baden an Mizzi Schinagl. »Sofort herkommen«, telegraphierte sie, überlegte eine Weile und steckte den Bleistift zwischen die Lippen. Mizzi Schinagl würde einfach nicht kommen. Was nutzte die teure Depesche? Schon war die Matzner zu einer einfachen Postkarte bereit, als ihr einer jener guten Lügengeister, die so lange ihre Handlungen bestimmt hatten, eine nützliche Idee eingab. »Taittinger erwartet Dich morgen«, depeschierte sie.

Natürlich kam Mizzi Schinagl in den ersten Morgenstunden. Nach sehr langer Zeit betrat sie wieder das Haus der Matzner. Alles war ihr fremd geworden. In der Erinnerung hatte sie es sich nicht nur kostbar, sondern auch glänzend vorgestellt. Nun war sie lange an glänzende Räume und Häuser gewöhnt. Das Haus der Matzner war armselig, sogar schäbig, mit seinen erblindeten Spiegeln, dem Salonkandelaber, von dem schon so viele Kristalle abgefallen waren und der an einen teilweise entlaubten Baum erinnerte, den großen grauen Mottenlöchern im roten Plüsch des Diwans, der abgesprungenen falschen Bronzeverschalung an dem Rahmen des Spiegels, dem ausgefransten Seidendeckchen über dem zerkratzten polierten Deckel des Fortepianos und den verstaubten Gardinen an den Fenstern. Aber was bedeuten Erinnerungen gegen die Erwartung? Bald sollte sie Taittinger sehn. Sie hatte im Täschchen das letzte Bild seines Sohnes und die letzten, allerdings sehr kümmerlichen Schulzeugnisse. Das sittliche Betragen war »nicht entsprechend« und der Fleiß »hinreichend«. Bis jetzt hatte der Sohn noch jede Klasse repetiert. Der Mizzi war der Junge gleichgültig. Weihnachten hatte sie ihn zuletzt besucht. An der Bahn verlangte er zuerst einen Kakao, und sie ging mit ihm in den Wartesaal. Den Kakao trank er mit Appetit, den Koffer öffnete er sofort und nahm die obenauf liegenden Geschenke an sich. Dann schloß er den Koffer und rief: »Zahlen!« – So war ihr Sohn.

Aber in der letzten Nacht hatte sie ein Dutzend Geschichten erfunden, die sie Taittinger erzählen wollte: Xandl war ein guter Turner, ein goldenes Herz, ein begabter Sänger. Und einmal hatte er sogar ein Kind vor dem Ertrinken errettet. Dies war auch keine erfundene Geschichte. Xandl hatte in der Tat ein Kind aus dem Wasser gefischt; genauso, wie er Frösche, Fische und Eidechsen zu fangen gewohnt war.

Ja, all dies wollte Mizzi Schinagl erzählen. Es schien ihr, daß sie etwas lange wartete. Frau Matzner ließ sie warten. Endlich kam sie, in voller Rüstung, nicht wie sonst am Vormittag im Schlafrock, sondern geschnürt, gepudert, frisiert. Die Umarmung war flüchtig, der Kuß trocken und kalt. »Der Taittinger kommt nicht!« sagte die Matzner sofort. »Dienstlich verhindert!«

Mizzi Schinagl atmete schwer und setzte sich wieder. »Aber, aber«, begann sie, schwieg eine Weile und fand endlich einen schwachen Trost: »Er wollte mich doch sehen?« – »Ja«, sagte die Matzner. »Aber vorläufig ist er eben dienstlich verhindert. Du kannst ihm ja schreiben! Hast ja seine Adresse.«

Mizzi saß noch da, die Matzner stand vor ihr, drohend, einem Gendarmen ähnlich.

»Ich hab' dir was Ernstes zu sagen«, begann sie. »Du hast mich betrogen, du und dein Lissauer. Ihr habt mich beraubt, ihr habt mich begaunert. Alles für meine Güte. Wie eine Mutter war ich zu dir. Goldkind hab' ich dich genannt. Mein Geld habt ihr verpraßt. Du begleitest mich auf der Stelle. Wir gehn zum Notar. Weh dir, wenn du wegläufst!«

In Mizzi Schinagl war nichts mehr lebendig. Das Gehirn schien ihr tot und das Herz auch, und nur eines lebte in ihr: eine große Furcht ohne Namen. Auch die Furcht gibt manchmal Erleuchtungen, und also fiel Mizzi Schinagl die Geschichte mit den Spitzen ein, und sie erinnerte sich an alle Papiere, die sie von Lissauer bekommen und unterschrieben hatte, ohne sie zu lesen, und es tauchte in ihrer Erinnerung auch ein längst gehörter, längst verschollener Satz auf, den Lissauer einmal geäußert hatte, in einer zärtlichen Sekunde; und der Satz lautete: »Wenn man mich erwischt, sperrt man dich ein!« Nun, es war soweit.

Sie erhob sich, sie ging. Eine Verhaftete bereits, schritt sie willenlos neben der unerbittlichen Matzner dahin.


 << zurück weiter >>