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Die Gletscherspalte

Meine Frau erscheint mir nicht mehr im Traum. Unser Junge blickt mich schon lange wieder mit Augen an, in denen ich vergeblich nach einem Vorwurf suche.

Und doch habe ich ihm seine Mutter verloren!

»Verloren?« fragt ihr. Jawohl, auf dem Schneefeld unterhalb des Petergrats zwischen Lauterbrunnen und Lötschental, genauer gesagt auf dem Weg von der Mutthornhütte zum Tschingelgletscher, dort habe ich ihm die Mutter verloren, ich und kein andrer! Jacquot kennt alle diese seltsamen Schweizer Namen und zeigt sie auf der Karte ...

Nun also, hier auf dem großen, blauweißen Flecken stürzten Doris und ich in eine Gletscherspalte, das heißt, plötzlich sanken wir in den weichen Schnee ein (es war ein heißer Augustmorgen, Föhnwetter), der Schnee sank unter uns, um uns, so fuhren wir in die Tiefe.

Zuerst nahmen wir es von der heitern Seite, denn obwohl wir gut fünfzehn Meter tief gestürzt waren, hatten wir kaum einige Püffe abbekommen, wir waren sogar recht weich gefallen, in Schnee gepackt, der dann unter unsern Füßen irgendwohin weitergereist war, und standen ziemlich bequem, auf festem Grund, zwischen blaugrünem Eis. Die eine Wand war am Boden ein wenig ausgehöhlt.

Im hellen Himmel über uns hingen winzige goldene Tagsterne ..

Sie erinnerten mich an ein Wappen mit goldenen Bienen auf blauem Grund. Nein, jetzt fiel es mir ein, es war kein Wappen, sondern das Schlafzimmer eines reichen Kaufmanns in Berlin. Wir lachten über die Narrheit, unbedingt in einem Bienennest – schlafen zu wollen.

Auch ein Gewitter, das nachmittags mit urweltlichem Getöse über den Gletscher zog, erregte uns mehr, als daß es uns erschreckt hätte. Im Schein eines langen Blitzes, der sich einmal, ein flatternder Flügel, über die Spalte hing, sahen wir uns. Wir standen wie in einem riesigen Spiegelsaal! Entzückt sanken wir einander in die Arme.

Kaum, daß Regen in die Spalte fiel, oder wir waren schon so naß, daß wir ihn nicht spürten. Wir hörten ihn nur! Der Gletscher schien bis in seine Tiefen unter unsern Füßen zu rauschen, und er rauschte noch lange, nachdem das Gewitter sich bereits verzogen hatte und wieder Sonne schien.

Doris hob ihre Armbanduhr. Sie ging. Es war vier Uhr.

Mein Pickel war oben geblieben oder sonstwie verschwunden, aber der Rucksack lag neben uns. Wir tranken heißen Kaffee aus der Thermosflasche, aßen harte Eier und ein Wurstbrot. Lachend stritten wir, wer von uns den andern in dieses kristallene Abenteuer gelockt habe. Es war Doris, soviel mußte ich zugeben, die keinen Führer hatte nehmen wollen, »um endlich einmal mit mir allein zu sein«, und sie klatschte in die Hände, weil der Streich ihr in ungeahntem Maße geglückt war. Wenn ich aber (so ging ich den Dingen auf den Grund), wenn ich ihrem Drängen nicht nachgegeben hätte, was dann? Mochte auch die Idee von ihr sein, so blieb die Ausführung darum nicht weniger mein Werk. In meiner Macht hatte es gelegen, ja oder nein zu sagen. Mit meinem Ja hatte ich die Entscheidung getroffen, ich, nicht sie. »Halt mal«, unterbrach sie mich, und sie stellte mir eine Falle. Hatten wir nicht den Weg zweimal hintereinander mit dem Führer zurückgelegt, ohne auch nur eine Gefahr bemerkt zu haben? Ich glaubte, das spräche zu meinen Gunsten, aber nein, im Gegenteil. Dann durfte ich mir meine Entscheidung auch nicht zum Verdienst anrechnen. Sie hatte keinen Führer gewollt, sie, nicht ich. Wir hatten keinen Führer genommen. Deshalb saßen wir jetzt in einer Gletscherspalte. Ich hatte an keine Gefahr geglaubt? Nun, bitte, da saßen wir. Das wäre uns mit einem Führer nicht passiert. Der hätte uns am Gängelseil brav über den Gletscher gebracht und drunten im Hotel abgeliefert.

»Ums Himmels willen,« fiel mir ein, »im Hotel wissen sie nicht einmal, wohin wir gegangen sind!«

Ich fühlte, wie sie erbleichte. An ihren Händen fühlte ich es, die ich im Schrecken ergriffen hatte.

Um uns über die gruselige Anwandlung hinwegzuhelfen, begann ich zu schelten.

Was war das aber auch für ein verfluchter Unsinn, allein über die Gletscher spazieren zu laufen, weil es den Kindern, von sicherer Hand geleitet, ein- oder zweimal oder selbst ein Dutzendmal gelungen war, unangefochten hindurchzukommen! Und ins Hotel zurückgekehrt, fiel Doris ein, zwischen Suppe und Braten den Eindruck zu besprechen, als sei man, in weißer Unschuld über Täler und Höhen schwebend, im Himmel und jeder Gefahr entrückt gewesen, um sodann plötzlich, zur festgesetzten Zeit, reibungslos am Speisetisch zu landen:

»He, Bürschchen! Jetzt schwärme mir mal was vor, was ein Mensch alles erlebt, wenn er vom Lauterbrunnen ins Lötschental lustwandelt! ›Das ist ein deutlicher Erdring‹ – nicht wahr? ›Der Äquator ist gar nichts‹ – wie? ›Es gibt keinen Äquator‹ – was?«

Sie zupfte mich abwechselnd an beiden Ohren.

»Wir wollten ja gar nicht bis ins Lötschental«, widersprach ich.

»Nein, wir wollten nur wieder mal zuschauen, was ein Mensch erlebt, der hinübergeht – ›auf gleitender Regenbogenbrücke‹! Kerle, du bist ein Dichter, obwohl du bei der Infanterie gedient hast. Weißt du jetzt, was er erlebt? Er erlebt, daß seine Frau erfriert! Wer paßt dann in Breuschheim auf, daß die Hühner nicht in den Garten laufen? Komm, wärme mich!«

Ich nahm sie in die Arme. Auf dem Boden der Gletscherspalte war es zu eng, um nebeneinander zu liegen, aber das machte uns nichts, und wir versanken in Liebkosungen, unser Blut, unsre Ohren brausten davon. »Du hast mich noch nie so geliebt!« rief Doris plötzlich aus, sie schrie auf, noch einmal, ihr Herz wankte im Triumph.

»Ich habe noch nie so gefürchtet, dich zu verlieren«, flog es mir durch den Kopf, und ich weiß, daß sie gleichzeitig dasselbe dachte, ich weiß es, wenn ich es auch damals nicht recht verstand ..

Entwurzelt und hingerissen, taumelnd in Raum und Zeit, schlug sie mich in Banden, bis ich mich zu fürchten begann. Sie aber hatte aufgehört, sich zu fürchten, mich zu fürchten, sie hatte die Furcht selbst und alles vergessen, alles außer ihrem Triumph.

»Mein bist du, mein – endlich mein. Niemand mehr wird dich mir nehmen. Eher töte ich dich. Ach, Claus, wie hab ich dich lieb ...!«

»Siehst du, wie recht ich hatte,« sagte sie, als wir wieder nebeneinanderstanden. »Ich mußte endlich einmal mit dir allein sein.«

War sie es denn nicht oft genug?

Nein, nicht so. »Und wer sagt mir, daß du dann nicht an die wilde Maria Capponi denkst?«

Ich lachte:

»Wilde?«

Sie nickte.

»Aber Doris! Sie ist doch die Vernünftigkeit in Person! Ich schwöre dir, ich habe sie nie wild gesehn!«

Sie schüttelte den Kopf. Sie wußte es besser .. Dann wußte sie eben mehr als ich!

»Vielleicht«, schloß sie und sah auf die Uhr.

Es war fünf.

Um diese Zeit kamen die Touristen aus dem Lötschental über den Gletscher. Wir beschlossen, von Zeit zu Zeit zu rufen, aber wir erkannten gleich, daß unsre Rufe in der Spalte stecken blieben oder doch nur wenig darüber hinausdrangen. Wir saßen zu tief.

»Sie werden mein Pickel finden«, sagte ich, »oder jedenfalls die Einbruchsstelle bemerken. Sie ist ja offen!« Und wir tranken den Rest des Kaffees, weil wir uns heiser gerufen hatten.

»Erzähl mir was!« bat sie müde.

»Hallo, Doris!« Ich ermahnte sie. »Unter keinen Umständen darfst du einschlafen. Hörst du? Unter keinen Umständen einschlafen!«

Sie räkelte sich.

»Ich weiß. Deshalb habe ich dich ja gebeten, mir etwas zu erzählen!«

Ich zog meine Überstrümpfe aus, legte sie ihr über die Schultern und bat sie, sich leicht gegen die Eiswand anzulehnen. So konnte ich sie am besten im Auge behalten. Und ich erzählte.

»Weißt du noch, wie wir mal ...« »Erinnerst du dich ...« O, wir wurden immer munterer. Doris erzählte gern, und ich dankte dem Himmel für diese Eigenschaft. Von Zeit zu Zeit riefen wir. Plötzlich sang Doris ein Lied! Das war eine glänzende Erfindung. Denn das vergebliche Rufen hatte unsre Stimmung gedrückt. Wir sangen nur mehr Lieder, allein oder gemeinsam.

Es war acht Uhr.

»Claus, ich erinnere mich an einen Frühlingstag im Winter. Es ging gegen Mittag, ich saß im Hotelzimmer auf dem Sofa. Über dem Fenstersims lief, merkwürdig fern, eine Reihe Schieferdächer. Das war Freiburg. Ich war von Rheinweiler herübergefahren, um mit einem Anwalt zu sprechen. Ich wollte die Scheidung. Ja, Maria Capponis wegen ... Sie war von Kind auf deine Geliebte, und wenn du schlechter Laune warst, so fuhrst du zu ihr und kamst vergnügt zurück. Und dann warst du auch wieder ganz verliebt in mich und wild und quältest mich – recht eintönig, du mußt schon erlauben. Du ließest mich verstehen, es gebe etwas Großes, Erschütterndes, dem ich ewig verschlossen bliebe: Leidenschaft ... Trotzdem gingst du mit starken Schlägen gegen das Tor an. Von alledem verstand ich nur so viel, daß wir uns trennen mußten ... Ich saß also im Hotelzimmer und blickte zum offenen Fenster hinaus. Über den Dächern ragten zwei hohe Pappeln und, weiter entfernt, zwei kleinere. Es lag etwas wie Schweiß der Erde in der Luft. Das kam von der heißen Frühlingssonne. Es war Winter, Claus, mitten im Winter! Höher, in der Bläue, über sie hin, soweit ich blickte, war Wolkenschmelze, die das Blau wässerte, so daß der Himmel in Milde verging ... Vom Berg, durch die Pappeln, kamst du gelaufen, Claus! Dein kurzes Atemholen an den kleinen entfernten Pappeln, du hobst den Arm, klang wie ein Traumruf. Du trugst einen weißen Tennisanzug und einen Strauß Veilchen im Gürtel. Kamst gelaufen auf das offene Fenster zu, schnurstracks ... Ich schloß die Augen. Zog den Duft der Veilchen ein. Sie standen vor mir auf dem Tisch, ich starrte lächelnd auf sie und dann wieder ins Freie, in den Rauch der Kamine, einen Rauch wie von kleinen Opferfeuern, über der besonnten Stadt. Ich ging hinunter in den Salon und musizierte, stundenlang, ich vergaß das Mittagessen, so beschwingt war ich. Traurig? Nein, aber auch nicht froh, eher beides ineinander. Ich wußte nur, daß ich nicht von dir los konnte ... Nachher suchte ich eine Wahrsagerin auf und erzählte ihr meinen Traum. Ich hätte ›Gesicht‹ oder ›Vision‹ sagen sollen, aber das hätte sie vielleicht nicht verstanden. Ihr Beruf war, sich mit Träumen zu befassen ... Sie sagte mir, ich würde ein teueres Wesen verlieren, und tröstete mich mit dem Wiedersehn nach dem Tode.«

»Ja, Doris, und ich holte dich in Rheinweiler ab. Die Tante segnete aufs neue unsern Bund. Das heißt, erst warst du noch böse ...«

»Kerle, du tatst, als ob nichts gewesen wäre! Aber meine bösen Worte, Claus, waren ja nur ein Spiegel, in dem ich mich selbst verzerrt erblickte. Kinder waren wir, immer nur Kinder, obwohl du schon einundzwanzig alt warst, als wir heirateten. Kinder – bis heute. Warum bestehst du eigentlich darauf, daß wir die Erwachsenen spielen?

»Vorbei! Bestehe nicht mehr! Aber sag, Doris: erinnerst du dich, wie ich dich zum erstenmal nach Breuschheim brachte ...? Als Knabe roch ich den Frühling auf den engen Wegen zwischen den Reben, wie man von weitem einen Brand riecht. Fein schmeckt das! Ich lag im Wald, der wiederum anders roch, nach Harz und heißem Tannenreisig, ich sprengte durch die Wiesen, das Gras reichte mir bis an den Mund. In einem Weizenfeld verschanzt, spürte ich zum erstenmal, wie die Liebe zu mir kam. Damals durchwuchs die Heimat mich, wie Urwald. Wald, Wiese, Fluß, Reben, Berg und Tal und die Luft, die Tageszeiten, die Jahreszeiten, das lebte alles und gedieh in mir und war da, deutlich, zum Greifen. Die Flut andrer Länder ging darüber. Es blieb da. Ein Gedanke genügte, damit es heraussprang. Dann kam ich wieder: mit dir! Ich schritt wie ein Sieger, der ein Königreich verschenkt – sein größtes, sein schönstes, ach was, sein einziges! Wie war durch dich die Heimat vertieft, bis auf den Grund deines Herzens, und in den Himmel erhoben, dem wir uns maßlos anvertrauten! Die Liebe, deren Atem mich im Weizenfeld angehaucht hatte, hier stand sie bekränzt, ihre starken, klaren Hände hielten mein Herz. Später, in Sommernächten, als wir aneinander litten – standen wir nicht dennoch im Rebengang des Gartens, Leib und Seele verschmolzen? Siehst du ihn noch, den Mondschein auf dem gelben Sand? Den unendlich zarten Schatten der Weinblätter? Die festen Striche der Pfähle? Die weiße, weiße Wand unseres Hauses in der hellen Nacht? Du!! ... Sie ist nur noch in dir, meine Heimat, soweit du sie besitzest und erhältst. – Ich bitte, bringe den fremden Mann zurück in die Heimat, ich bitte, ich bitte: Gib!«

»Was sollte ich dir denn geben, was du nicht schon besäßest, Claus? Mehr habe ich nicht ... Mir scheint, diese Worte habe ich genau so schon einmal gesprochen, ich glaube, im Anhalter Bahnhof. Du fuhrst von Berlin fort, ich sollte noch einige Tage bei meinen Verwandten bleiben. Es war eine Belohnung. Ich sollte tanzen dürfen, Museen und Theater besuchen, neue Menschen sehn. Wenn du bei mir warst, wolltest du ja immer allein sein. Kaum war dein Zug aus der Halle gelaufen, da wurde alles um mich zu einem glücklichen Traum. Ich besuchte Museen und Theater, sah Haufen von Menschen, tanzte und lachte – wie im Traum ... Du hattest mich reichlich belohnt: ich durfte auch noch über München heimfahren. Ach, mein München! Ich hatte ein hübsches Zimmer in den ›Jahreszeiten‹, konnte die vier Türme der Theatinerkirche sehn und die beiden Zwiebeln der Frauenkirche, alle grün patiniert, große Architekturflächen des Hoftheaters und des Marstalls, und unter dem Fenster lief eine Dorfstraße vorbei, die ein weltkundiger Bürgermeister ganz städtisch hatte pflastern lassen.

Hier wollte ich dich erwarten ... Mir war zumut wie als Mädchen in den Exerzitien vor Ostern. Ganz war ich auf dich beschränkt und versenkte mich, um dich würdig zu empfangen ... Ich sah wieder viel Menschen, war abends im Konzert, aber in der Nacht konnte ich nicht schlafen. Mein Herz hungerte nach dir, meine Hände schmachteten nach den deinen. Zärtlich hüllte ich mich in meinen Körper. Die Hände legte ich lautlos an die Hüften, die Beine dicht aneinander: fast war ich du ... Ich schloß die Augen, um mich ganz in dich zu verwandeln ... Mein Körper war mir heilig. Nun warst du da ... Ich hatte lange gewartet mit der alleinigen Kraft meiner Zärtlichkeit, ohne Begierde. Du warst gekommen, wie ein Traum aus dem andern rinnt. Nun war ich du. Wie warst du mein! ...

Sag, Claus, ist das nicht Liebe?«

»Ach, Doris, du! Als ich dich kennenlernte, dachte ich: sie ist, fertig, diesem Frühling entsprungen. Sie riecht wie diese Erde, an einem warmen Tag vor Ostern. Scheu ist sie und herb und grenzenlos in ihrer Hingabe, wenn sie schauert vor der Gewalt der Liebe und in Dumpfheit verfällt – Befangenheit in feuchter Wärme wie die Erde an einem sonnigen Tag vor Ostern. Sie ist treu wie dieser Baum, der sich krampfhaft zusammenzieht vor der Lust der Säfte, die sich in ihm rühren. Ihr Leib bebt in der Umarmung, als zerschlüge ihr Herz sie, ihre Augen weinen vor Glück, sie fürchtet sich, voller Sehnen, nach dem lautlosen Donnerschlag, mit dem die Knospen springen. Wie strafft sich ihr Körper, um sich selbst abzuschnellen! Frühling! Frühling, ich hätte nicht erfahren, was das ist, wäre ich ihr nicht begegnet ... So wurde Köln für mich eine heilige Stadt. Dann wandelte der Sommer vor uns, korngelb und groß. Du warst Mutter geworden. Üppigkeit ohne Schwere nistete zwischen deinen Gebärden, du bewegtest eine sanfte Fülle, die dich einhüllte wie ein schweres Tuch von ganz zartem Gewebe. Du warst wissend, ohne Frechheit. Dein Übermut selbst schenkte von deiner Weisheit und Güte dem, an dem er sich ausließ. Manchmal befiel dich die schwüle Unsicherheit eines Gewittertags –, der erste Blitz riß dich in dein Selbstbewußtsein zurück. Dann hobst du dich wie der Baum im Unwetter, das sich über ihn ausgießt. Bei jedem Blitz maßest du, gleich dem Baum, aufschnellend auf dem durchwurzelten Platz, deine ganze Größe bis zum Scheitel und wichst nicht um eines Fingers Breite von dir ab. Wie bist du schön am Abend, wenn du dich vom Kinde getrennt hast und in deinem Sturmhut von Haaren, mädchenhaft schnellfertig und wie umklingelt von deinem Lachen, ein wenig den Kopf neigst, um durch das Abendtor in die Nacht zu springen! Siehst du mein großes Zimmer in Breuschheim? die Bücher? die Bilder? meinen Tisch? den Diwan? die Fenster auf den Garten hinaus? im Mondlicht geistern die Berge –, wie bist du mein und weißt, königlichen Herzens, was das ist! Wieviel Fülle, Kraft und dreifach in allen Proben gehärtete, ach so lockere Anmut –, meine Doris!

Der Frühling heißt jetzt Sommer. Es wäre in jeder Weise voreilig von ihm, sich mit dem Gedanken an den Herbst abzugeben. Er weiß von ihm, wie das eine Ufer des Baches vom andern weiß, wenn sie sich bei besonderen Sonnenuntergängen im Wasser vermischen. Fast zu heftig ist solcher Farbenrausch, zu groß die Stille der Stunde, ein ferner Glockenschlag erschüttert einen bis zu Tränen – als sei das der Tod, der da in der Gestalt eines blauen Falters geflogen käme ... Das sind Dinge, die auf die Nerven gehn, uns allen, Mensch und Tier, Doris, wahrhaftig, ich liebe dich über alles. Ich habe immer nur dich geliebt!«

»Danke, Claus, danke!«

Ich war bereit, ihr alles zu sagen von Maria und mir, aber, als erriete sie meinen Gedanken, wehrte sie ab:

»Wenn nicht Maria, wäre es eine andre gewesen. Wir waren Kinder und wollten spielen, ich mit fremden Menschen und Ländern, bei Tanz und Musik, und du, mannshoch, mit Frauen. Ich bin vielleicht nicht für die Liebe geschaffen, Claus, es sei denn, daß du meine Art zu lieben schätzen lernst ... Sie ist bitter, die Liebe. Es lebt sich schwer mit ihr. Man will herrschen und triumphieren. Der andre auch ... Ich verstehe es jetzt. Siehst du, deshalb wollte ich einmal mit dir allein sein. Es gab zuviel, was ich nicht verstand.«

»Und jetzt verstehst du?«

»Ich fange an ... Aber, nicht wahr, Claus? wir wollen uns nie mehr quälen? Unter keinem Vorwand. Wenn einen von uns der Teufel reitet, so schwenken wir ab und lassen ihn sich austoben, bis er genug hat. Und dann, dann kommen wir wieder und fressen aus der Hand.«

»Doris, ich schwöre, nie mehr!«

Sie hob sich auf den Zehen, streckte sich und legte mir mit ausholender Gebärde die Arme um den Hals:

»Ach, wie ich mich auf das Wiedersehen mit Jacquot freue!«

Leise lachte sie in sich hinein.

Es war neun Uhr. Berauscht von unserer Liebe, hofften wir mit jeder Minute stärker. Wir glitten lange an der Grenze der Gewißheit hin.

 

Als es aber Nacht wurde und niemand kam, uns zu helfen, als es Nacht geworden war, ... verbrachten wir sie entsetzt in den großen, weißglühenden Nachtsternen über der Gletscherspalte. Wir sprachen, sprachen immerzu. Es war herrlich, was wir einander sagten. Es war furchtbar. Wir schrien und küßten, an allen Gliedern bebend, auf dem Marterbett des Todes. Es war furchtbar. Es war nur furchtbar.

Mit meinem Taschenmesser stach ich Eisstücke aus den Wänden, denn wir verdursteten, bis es abbrach. Es war mir lieber so... Ich fühlte mich meiner nicht ganz sicher, wie wir so sprachen, immerzu sprachen und, in eine einzige Fackel, lichtlos im Innern verbrennend, gehüllt – einander würgten und küßten. Die Wände der Spalte schienen immer enger zu werden. Sie erdrückten uns.

Doris hatte es nicht bemerkt, wie die Klinge abgebrochen war.

»Sobald es hell ist, Doris,« stotterte ich, »bald, ganz bald ... will ich mit dem Messer Tritte ins Eis schneiden. Wir klettern heraus. Gestern abend, als mir das mit dem Messer einfiel, gestern hätte es keinen Zweck gehabt. Wir wären doch nicht vor Nacht nach Hause gekommen.«

»Nein«, sagte sie.

Hunger verspürten wir keinen.

Es war jetzt ganz hell, aber ich konnte sie nicht mehr hindern einzuschlafen.

Wie ich sie, an mich gedrückt, sie schüttelnd, sie rufend (o, wie süß klang und wie fern schon ihre Antwort: »Ja, Claus«) am heißesten liebte und dachte, diese Gletscher alle müßten schmelzen in meiner Glut, da spürte ich plötzlich einen kalten Hauch sich auf mein Gesicht legen, und es fiel Schnee. Nein, es war ihr Kopf, der auf meine Schulter gefallen war. Sie schlief! Sie war verloren. Ich ließ sie auf den Boden der Gletscherspalte gleiten und legte mich auf sie. »Es ist nicht Platz genug, um nebeneinander zu liegen«, murmelte ich zur Entschuldigung und schob ihre Hände unter mich und die meinen unter ihren Kopf, nun würde ich auch gleich einschlafen. Gleich hätte ich sie eingeholt in ihrem Schlaf, und mir war, als schliefe als dritter der kleine Jacquot bei uns, ja, als wäre er noch gar nicht geboren, als träumten wir ihm erst entgegen... Ich spürte ihre Hände mild unter mir, an meinem Schoß, und mein Gesicht lag so auf dem ihren, daß die Wimpern meines rechten Auges gegen die Wimpern ihres linken Auges strichen, doch diese rührten sich nicht.

Da durchfuhr mich ein Gedanke wie Feuer. Ich lag hier, um sie zu wärmen, ich mußte sie warmhalten, damit sie nicht erfror, nur das brauchte ich zu tun, so konnte sie ruhig schlafen, bis Hilfe kam. Wir waren gerettet! Wir lebten! Plötzlich hörte ich Jacquot Vater und Mutter rufen, und ich antwortete ihm, wir unterhielten uns – lachend, schreiend, mit allen Flüchen der Hölle und gleich darauf zärtlich, wie ich mich nie gekannt hatte, unter Tränen und wuterstickten Drohungen erzählte ich ihm, was mit seinen Eltern geschehn war, ich erhob mich auf den Knien, um lauter zu sprechen.

»Jacquot!« rief ich, »Jacquot!« denn mir kam es vor, als ob seine Stimme sich wieder entfernte. Indem ich die Knie gegen die Wände der Spalte stemmte, versuchte ich, mich mit den Ellenbogen emporzuarbeiten.

»Jacquot, hörst du mich?«

Jetzt war seine Stimme ganz nahe, und aufstöhnend ließ ich mich mit den Knien und Ellenbogen zurückgleiten, langsam und vorsichtig, um Doris nicht wehe zu tun, und ich legte mich auf sie, um sie zu erwärmen. Wieder fühlte ich ihre Hände und streichelte mit meiner Wimper die ihre.

»Schlaf, mein Liebling,« wünschte ich ihr, »schlaf nur! Ich kümmere mich um das Kind, ich halte es da.«

Denn die Unterhaltung mit dem Kind, die wollte ich um nichts in der Weit abreißen lassen. Jacquot mußte, mit Gottes oder des Teufels Hilfe, in der Nähe gehalten werden – und wenn es ihm selbst Tränen und Blut kostete, er mußte bei uns sein.

»Hier, Jacquot, hier!«

Ich brüllte, ich schmeichelte, mit unerschöpflichen Tränenströmen rief ich ihn, ich zerriß ihn mit meinen zornigen Worten in Stücke, je nachdem, ob seine Stimme sich näherte oder entfernte. In gleichem Maße entwand ich mich mit den Knien und Ellenbogen, mit Zehen und Fingern der reglos ausgestreckten Frau und holte Jacquot zurück und ließ ich mich auf sie nieder, um sie zu erwärmen.

Manchmal bedurfte es Stunden besessener Arbeit, bevor ich die Stimme des Kindes wieder vernahm, und ich konnte nicht eine Minute auf Doris liegen bleiben, weil Jacquot gleich wieder davonlief. Dann kam ich fast bis zur halben Höhe des Spalts hinauf, immer bis an die gleiche Stelle, wo die Wände sich einander näherten und ich nicht einmal mit einem einzigen Ellenbogen Platz fand. Andre Male glaubte ich, das Kind an der Hand und auf Doris liegend, einen langen erquickenden Schlaf getan zu haben.

In solch einem Augenblick bemerkte ich, daß Dorisens Augen halb geöffnet waren. Ich erschrak furchtbar, ich glaubte, ich hätte sie mit meinem Geschrei und Getue geweckt. Sie mußte aber schlafen, bis Hilfe kam. Sie durfte nicht vorher aufwachen. Sonst war alles verloren. Sonst starben wir. Ich schloß ihr unter angehaltnem Atem die Augen, mit den Lippen schloß ich sie zu, aber gleich darauf standen sie wieder halb offen.

Da fühlte ich, wie ich verrückt wurde. In meinen rotglühenden Kopf griff eine eisige Hand, die suchte zwei, drei Sekunden darin herum, dann drückte sie zu und – und hätte mich beinahe mit einem Ruck mir selbst entrissen! Was wäre zurückgeblieben? Ein Bündel Lumpen und Angst ... Glücklicherweise fiel mir rechtzeitig ein, daß ich Doris schon einmal so hatte schlafen sehn, mit festgeschlossenem Mund und halbgeöffneten Augen, sogar sehr oft, im Bett, im Freien, einmal auf dem Pferd, als wir in einer Vollmondnacht dicht nebeneinander nach Hause geritten waren. Ich sah deutlich unsern Schatten auf dem langsam gleitenden Spiegel der Breusch, wie er bald ein Stückchen vor, bald hinter uns mitging. Deutlich sah ich ihr mondweißes Gesicht und einen bläulich silbernen Tropfen in jedem der halbgeschlossenen Augen. Und ich schluchzte endlosen Dank. Es war ein stummes Schluchzen des Körpers in seiner Tiefe. Ich hatte weder Tränen mehr, noch eine Stimme.

Wie die Sterne des Tages denen der Nacht zu weichen begannen und ich mit tonlos wimmernden Lippen zu Jacquot sprach, vernahm ich ... allmählich ... von weit her ... eine fremde Stimme.

Und da geschah das Wunder.

Ich schrie!

Nachdem ich seit Stunden unfähig gewesen war, den leisesten Hauch mit den Lippen zu formen, schoß, ganz von selbst, ein Schrei aus meiner Kehle, ein Schrei, wie ich ihn niemals, weder vorher noch nachher, ausgestoßen habe. Das Seil, das sie zu mir herabließen, erwies sich als zu kurz. Sie mußten zur Mutthornhütte gehn und Hilfe holen. Als sie wieder riefen, antwortete ich nicht. Ich schlief.

In Tücher gepackt, zwischen Wärmflaschen, mit Wickeln an Händen und Füßen wachte ich auf.

Erst sah ich nichts als glühendrote Sonne. Ich lag auf einem Feldbett im Freien. Dann erkannte ich die Mutthornhütte. Ich schaute mich um, ob ich ein andres, gleiches Bett entdeckte. Nein, ich war allein.

Ich fragte nicht.

Sie packten mich auf und trugen mich hin unter ins Tal.

Ich schlief.


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