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Trimpopp und Manasse

I

Diese Geschichte, die mit dem rebellischen Tod zweier deutscher Fremdenlegionäre am Fuße des Atlas ihr Ende fand, begann damit, daß den Dr. Karl August Trimpopp die Lebensfreude ergriffen hatte. Wie ein langsam anschwellender Sturm war sie über ihn gekommen. Er hatte tagelang geschwankt, es hatte ihn dorthin geschlagen, hierher geworfen, er mußte gewaltige Arbeit am Steuer verrichten, um mit der gewohnten Pünktlichkeit bei seinen Logierwirten, der Familie Schwerin, in das Kaffeehaus und in sein Büro einzulaufen.

Wieviel Glücksfälle auch! ... Gleich nach seinem Staatsexamen war er als chemischer Hilfsarbeiter in das Kaiserliche Patentamt eingetreten. Kaum hatte er sich von diesem freudigen Schreck erholt, da vermutete er, daß er liebte. Und jetzt – jetzt war er auch noch mitten im Winter von etwas Neuem, etwas ganz Neuem, nämlich vom Frühling, überrascht worden. Mitten im Winter!

Wenn er zum Bahnhof Charlottenburg ging, mußte er immer wieder daran denken: wie dieser Platz im Frühling plötzlich beginnen werde, grünlich in einer grauen Luft zu schimmern. Er hatte es früher nie beachtet, aber jetzt wußte er, jetzt erinnerte er sich ..., strahlte dann eines Tages die Sonne hinein und glänzte der Himmel blau, blau, daß die hohen Häuser darunter ganz weiß erschienen, so war ein festliches Tor nach dem Süden weit aufgetan, Luft wehte ... berauschend kühl wie der frühe Morgen einer Sommerreise. Abends aber, nach Sonnenuntergang, schwebten die Bahnsteige mit der Silhouette hängender Gärten im durchsichtigen Himmel, der die Farbe wechselte, als wäre er das duftige Spiegelbild großer, brennender Blumenbeete hinterm Horizont, die der Sonne nachwanderten. Die grünen und die roten Lichter der Signalmaste bohrten sich in das Leuchten des Himmels, einige standen ganz fern am Horizont wie am Rand eines Meeres ... und hell erleuchtet fuhren Züge in die Feuer hinein, vor denen die Häuser und die Bäume, alle Straßen und die Gesichter der Menschen erblaßt waren, glitten in langen Leuchtketten aus jenen luftigen Gärten und brachten einen Duft mit, in den sich alle Frauen teilten, die droben auf einem der kahlen Bahnsteige in die Wagen stiegen.

Ja – das: wie bedeutsam jede junge Frau wurde, wenn der Frühling kam ... Wie schön das war! Sie scheinen alle den Plagen und den gewöhnlichen Vergnügungen entrückt, sind alle in eine ursprüngliche Poesie gehüllt, der sanften Lüge des Frühlings hingegeben ... Und dann! die vielen Veilchensträuße in den Straßen, die Blumenstände, die wieder frisch und fröhlich über den Weg leuchten, die Blumenläden, die bis in ihre Tiefe, wo der Schatten eines hellgekleideten Mädchens sich regt, ganz voll Duft und Blüte sind, die vielen wandelnden Blumen in lichten Händen, an den Blusen, in Knopflöchern. Viele bleiben auf den Polstern der Stadtbahnwagen liegen, oder man sieht sie zu Boden fallen, sie werden zerdrückt ... Aber sie kommen wieder! Verschwenderisch nimmt man aus den Körben, die einem überall hingehalten werden! Wir sind überschüttet mit Blumen. Es ist wie ein leises Singen, nein, wie ein fernes Kastagnettenrascheln von Blumen in allem Gewühl, die Kleider der Frauen rauschen heller!

Da sitzt man im Kaffeehaus. – Die Zeitungen? Wer kümmert sich um Zeitungen! Jedes Tischchen hat in einem Wasserglas sein Veilchenbukett. Das Wasser leuchtet so frisch wie Regenwasser oder ein Bach zwischen hellen Ufern, und richtig hört man plötzlich das Klingen der Bergwasser und sieht die Tage auf dem Land, wo die Regenlachen in den Dorfstraßen in seltener Reinheit den Himmel spiegeln und alle Kinder draußen hinter den Hecken sind, um Veilchen zu suchen. Sie streuen ganze Büschel in den vorbeifließenden Bach, der die Blüten spielerisch hinausfährt in das von Feuchtigkeit schwimmende Land. Die schwarzen Bäume stehen mit so viel Zartheit, fast durchscheinend in der Luft. Die Felder glänzen, unübersehbar, mit tausend Wasserspiegeln auf dem tiefsten Grün, sie dunkeln und erhellen sich unterm Zug der Wolken. Die Luft trägt alle Laute weiter, als man sehen kann, sie ist ein einziger lichter Widerhall ... Ein jedes Kaffeehaustischchen hat in einem Wasserglas ein Veilchenbukett, das Klappern der Tassen klingt klar und hell. Zum ersten Male verspürte man Luft in diesem Spiegelkasten, Freiheit, Wohlbehagen, man atmet ... atmet Frühling ... Weite ... Die Menschen heben sich voneinander ab, es ist nicht mehr wie noch vor wenigen Tagen, als sie alle wie finstere Klumpen zusammenklebten und ein Einziges zu bilden schienen, das sich mit der melancholischen Plumpheit eines Ungeheuers bewegte, nein! Die Mädchen streichen ihre Bluse glatt mit einer schmeichlerischen Sachlichkeit. Die jungen Männer blicken so männlich wie sonst nie. Es gelingt ihnen ohne die geringste Anstrengung, sie wissen vielleicht nicht einmal, wie vorteilhaft sie aussehen. Fühlen wohl nur ein ›Es liegt etwas in der Luft ...!‹ Und ihre Haltung sagt: ›Herrlich!‹ In ihrem Gebaren zittert eine gewisse satte Nervosität, wie sie jungen Tieren eignet, die noch nichts von der Reflexion wissen und die Lust zu leben mit den von Gott geliebten Sprüngen und einem ursprünglichen Sich-am-Boden-Reiben und Lufteinschnuppern dartun. Jawohl, und so wollte Karl August Trimpopp auch sein, nein, so war er ...!

Es gab ein sehr menschliches Lachen, das dasselbe ausdrückte. Trimpopp hörte es die Friedrichstraße entlang, in der Hochbahn, beim Einsteigen in die Elektrische, auf den Bahnsteigen. Es sind die schönsten Tage in Berlin, und der halbtot gearbeitete Mann genoß sie zum ersten Male, wenn auch drei Monate zu früh. Aber dafür sah er auch gleich die vielen Frühlinge so, die er als armer Student in Berlin verlebt hatte, nicht nur den, der kommen sollte – wie wenn Staub und Asche sich von einem aufstrahlenden Bilde höben. Alle seine Frühlinge glänzten. Alle auf einmal. Die Welt war ausgefüllt von seinen Frühlingen.

Wenn er auf dem Dach des Automobilbusses die Friedrichstraße hinuntersauste durch die von Pelzen und Kragen entblößte Menge, die unruhig in der großen Fröhlichkeit der Lichter kreiste, da meinte er, es müßte diese Straßen sprengen, in denen so viel lebendige Sehnsucht sich staute, Sehnsucht, die sich reckte und dehnte, je wärmer die Nächte wurden.

Karl August Trimpopp hatte seine Frühlinge, er wollte sie behalten. Kein Geld der Erde konnte diesen Schatz aufwiegen. Er lachte hell auf. Sein Schatz lag sicherer als in den Stahltresoren gichtiger Bankiers, und wenn sich die zehn besten Geldschrankknacker Europas zusammengetan hätten, um ihn, Dr. Trimpopp, zu plündern!

Immerhin, er mußte ihn verteidigen.

Irgendwelche Gefahren drohten ihm wohl doch. Irgendwelche Gefahren ... drohten immer. Man mußte auf der Hut sein. Wie manches Gut, das mit Gewalt nicht hätte genommen werden können, war durch Leichtsinn verlorengegangen! Das lernte man sogar schon in der Schule ... Und er nahm sofort die Verteidigung auf, indem er nicht wie sonst vom Stadtbahnzug absprang und spornstreichs nach Hause eilte, sondern die Familie Schwerin mit dem Essen warten ließ und unterdessen auf dem Bahnsteig auf und ab spazierte. Dabei kehrte der Gedanke an Amalie Kleinschuh des öfteren wieder. Aber hauptsächlich erfreute Trimpopp sich am Anblick der Menschen, die immerfort kamen und gingen, eine unzählbare Menge. Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig hielten die Fernzüge. Dort gab es nur spärlich Reisende. Trimpopp musterte jeden einzelnen mit einer freundschaftlichen Bewunderung, von der er das Zugpersonal keineswegs ausschloß. Zumal den Führern der gewaltigen Lokomotiven hätte er gerne seine Verehrung mit einem kräftigen Handschlag ausgedrückt.

Sein Vater hatte bis zu seinem Tod nur Vorortzüge fahren dürfen. Leider! Trimpopp fand, die hohe, kräftige Gestalt des Seligen hätte eher zu diesen wilden Büffeln gepaßt als auf das zahmere Zugvieh des Vorortverkehrs.

Dann fiel ihm ein, daß das Geschlecht der Trimpopp eine Generation übersprungen habe. Der Sohn des Berliner Lokomotivführers war zu Unrecht gleich Doktor der Chemie geworden. Es fehlte eine Generation, die Schnellzüge führte oder große Stationen leitete.

Aber so ist es nun einmal in Deutschland! Er winkte lachend zu dem Fernzug hinüber, der sich gerade in Bewegung setzte. Wir haben ein Tempo, das sich sehen lassen kann, wir! Jawohl, schöne Ungarin...!

Drüben in einem Wagen erster Klasse lehnte eine braune Frau aus dem Fenster und winkte. Ihr Lächeln schien ihm so sanft, wie er es noch an keiner Frau gesehen hatte, und tief. Um Stirn und Haare hatte sie einen grünen Schleier geschlungen, der im Luftzug flatterte, die kleinen weißen Hände machten Bewegungen, als ob sie zu ihm fliegen wollten. Augen dunkelten, ein breiter, roter Mund lachte.

Trimpopp hatte die Hand, mit der er winkte, sinken lassen.

Als er endlich kehrtmachte, um seine Verspätung durch größte Eile einzuholen, war sein erster Gedanke, wie er sich bei der Familie Schwerin entschuldigen sollte, und er errötete wie ein Schüler, der zu spät in die Klasse kommt; der zweite zauberte Amalie Kleinschuh an seine Seite. Er betrachtete sie, und obwohl er nicht sicher war, daß sie ihm gefiel, gestand er sich doch ein, daß er sie liebte und zur Frau begehrte. Übrigens mußte sie eine hübsche Mitgift haben. Sie war gebildet und eine hervorragende Tennisspielerin, sie spielte auch Klavier. Und der Alte! Der hatte einen Beruf, der nach nichts aussah. In Wirklichkeit handelte es sich aber um eine richtige Goldgrube, besser gesagt: um einen Opferstock, in den der glückliche Pächter nur hineinzugreifen brauchte. Trimpopp wußte so viel, daß der alte Kleinschuh an jedem Glas eines Münchener Bieres, das in Berlin verkauft wurde, einige Pfennige verdiente, und er konnte sich sehr wohl eine Vorstellung davon machen, wieviel Bier täglich in Berlin abging. Wenn aber eine solche Sammelbüchse auch noch von einem Mann wie dem alten Kleinschuh verwaltet wurde, so mußte sie natürlich das Format eines ansehnlichen Kassenschranks erreichen.

Trimpopp lauschte eine Weile zerstreut der Musik des Goldregens in seinem bewegten Gemüt, dann ließ er Amalie aus dem mystischen Springbrunnen von klingenden Dukaten hervortreten: eine Nymphe ... mit einem Tennisschläger, und ihm lächelnd ihre reizenden Händchen reichen ... Doch, sie gefiel ihm. Beim Stiftungsfest des Kegelklubs hatten Herr und Frau Schwerin, beide, erklärt, daß Amalie von allen jungen Mädchen am hübschesten gekleidet gewesen sei. »Schick, was schick heißt«, hatte der Oberpostassistent zusammenfassend geäußert.

Trimpopp lächelte.

»Schöne Ungarin!« sagte er leise vor sich hin ...

Sie würden viel reisen ...

An der Straßenecke stand der kleine Schwerin und sah den Doktor heransegeln. Er stürzte die vier Treppen hinauf und brach mit dem Ruf »Er kommt! Er kommt!« in die elterliche Wohnung.

Der Doktor hatte ihn bemerkt. Langsam stieg er die Treppen. Im dritten Stock machte er halt.

Er fand den Mut nicht, zehn Minuten zu spät zu kommen, er fand keine Rechtfertigung, die vor den Augen des Oberpostassistenten standgehalten hätte, und als er aufbegehrte: »Wie kann ich, ein Akademiker, mir von einem Subalternbeamten –«, mußte er zugeben, daß er auch nichts fand, was ihm selbst als eine annehmbare Entschuldigung erschienen wäre. Schon überlegte er, ob er nicht umkehren und im Wirtshaus essen sollte, da wurde er von oben angerufen:

»Hallo! Herr Doktor! Kommen Sie noch immer nicht?«

Frau Schwerin lehnte Doppelkinn und Busen über das Treppengeländer.

»Pst!« machte Trimpopp.

»Pst ...«

Mit beschwörend gehobenem Finger schritt er an der Frau vorüber, und als die ganze Familie mit dem Dienstmädchen, das die dampfende Suppenschüssel hielt, ihn atemlos umringte, log er:

»Ich beehre mich, den Herrschaften die Mitteilung zu machen, daß ich mich soeben verlobt habe ...«

 

Mit der zweiten Morgenpost des folgenden Tages erhielt Fräulein Amalie Kleinschuh einen langen, heftigen Brief, der begann:

»In dieser qualvollen Nacht, wo Sehnsucht ein ums andere Mal mich aus dem kärglichen Schlummer reißt, in dieser Nacht muß ich, rückhaltlos, mit dem Ernst meines ganzen Herzens ...«

Sie faltete Trimpopps ganzes Herz auseinander, breitete es über den Tisch und glättete es sorgfältig. »Ein Stück fürs Museum«, sagte sie zu Mama. Sie hielt das Papier mit den Fingerspitzen in die Höhe und wandte es hin und her. Dann nahm sie es in beide Hände und hielt es prüfend von den Augen ab:

»Energische Schrift!«

Schließlich machte sie aus den verzweifelt glühenden Anrufungen Trimpopps einen Fächer, mit dem sie sich kleine Schläge Luft in die Ohren warf.

Sie lehnte sich zurück, als ob sie Cercle hielte, und forderte Mama auf, ›sich über den Fall zu äußern‹. Mama schlug eine jugendliche Lache an und erklärte, daß es ihr dringlicher scheine, in Erwartung von Vaters hungrigem Überfall die Küche zu mobilisieren. Sie hüpfte davon, aber nicht, ohne vor dem Spiegel im prachtvollen Sofa-Umbau haltgemacht und sich einen Augenblick in den Anblick ihrer schlanken Gestalt mit den üppig gezeichneten Hüften versenkt zu haben – ein ihr geläufiger Genuß, den sie damit abschloß, daß sie sich über das gescheitelte Blondhaar strich und der hübschen Frau von vierzig Jahren übermütig zunickte: »Servus, Franzel, gefällst m'r heut!«

Hier pflegte Amalie eine boshafte Bemerkung über Mamas Eitelkeit abzuschießen. Diesmal unterließ sie es nicht nur, sie rief der Mutter sogar ein überzeugtes »Famos« nach. Denn wo ein Trimpopp um sie warb, empfand sie tiefer als sonst ihre Zugehörigkeit zu einer edleren Menschenrasse.

Sie war, weshalb sie sich selbst einen ›freien Menschen ‹ nannte, in der Oppositionslust eines reich gewordenen, aber noch immer um seine gesellschaftliche Stellung kämpfenden Bürgertums aufgewachsen, aufgeklärten Geistes in manchem, was sie verstand, hingezogen zu allem Neuen, auch wenn sie es weniger begriff, als es ihre immer wache Neugier reizte. Sie liebte das Training, das körperliche wie das geistige; an allem, was Sport war, hing sie mit wahrhaft religiösem Gefühl, sie machte einen Sport aus ihren täglichen Beschäftigungen. Obwohl sie, frühreif, in der Schule nichts als eine pedantische Folterkammer gesehen hatte, war sie aus der Abiturientenprüfung mit den besten Noten hervorgegangen, von den Tanzstunden, in die sie sich mit kleinen blonden Bürgermädchen hatte teilen müssen, wäre sie am liebsten fortgeblieben, die gesellschaftlichen Veranstaltungen, wohin die Eltern sie führten, waren ihr ein Greuel. Aber sie brachte es fertig, daß man sie bald als die beste Tänzerin rühmte, und ihre gesellschaftlichen Fähigkeiten waren selbst in den kleinadeligen Beamtenhäusern Charlottenburgs anerkannt. Ein Prinz aus mediatisiertem Hause, der sie bei einem Vortragenden Rat im Reichsamt des Innern zu Tisch führte, hatte dem Gastgeber vertraulich mitgeteilt, daß sie in ihrem Benehmen durchaus du grand monde sei. Für die des Französischen Unkundigen war die Anerkennung mit ›Tipp-topp‹ verdeutscht und Tipp-topp sodann der rühmliche Spitzname Amaliens geworden.

Das Merkwürdigste an diesem für körperliche Kraft und Gewandtheit eingenommenen Mädchen war, daß sie eine schier aggressive Geringschätzung des Militärs zur Schau trug, und dies, obwohl ihr eigener Bruder Fritz Leib und Seele in den Rock des preußischen Königs gesteckt hatte und er die Schwester, wenn sie ihn bei seinem immer geräuschvollen Erscheinen in der Familie neckte, mit Strenge als ein ›verjudetes Girl‹ in die Schranken bewundernder Weiblichkeit zurückwies ... Der gute Junge vermißte die fraulichen Lorbeeren nirgends so sehr wie gerade bei Amalie, der er mit seinem ganzen, Frau Kleinschuh sagte: ritterlichen, Herzen anhing und die ihm nie Gelegenheit gab, sie gegen irgendwen oder irgendwas zu schützen.

Seinen Kameraden ging es nicht besser. Im Regiment stand daher fest, daß Tipp-topp ein entzückender Racker sei, den man mit List oder Gewalt aus der jerusalemischen Gefangenschaft befreien müsse. Amalie aber blieb bei ihrem ›Schönheitstyp‹, den sie nach jahrelanger Langeweile inmitten blonder Perückenstöcke auf den Tennisplätzen des Westens entdeckt hatte.

Zugleich bekam sie blanke Augen, deren Munterkeit nicht mehr wie bisher durch die ewige Schüchternheit oder Tolpatschigkeit ihrer Partner gefährdet war, und begann zu flirten. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß sie auch darin bald zur Meisterschaft gelangte. Denn zum ersten Male half man ihr bei ihrem Training, statt sich, wie im elterlichen Umkreis, dagegen zu verschwören.

Im Vollbewußtsein ihrer eigentümlich selbständigen Stellung als Mensch und Weib fächelte sie sich mit Trimpopps Brief und redete in Gedanken dem kleinen schmächtigen Mann zu, dessen ausgemergeltes Gesicht mit der energischen, pflichttreuen Stupsnase im rötlichen Backenbart wie in einem Hinterhalt lag.

– Trimpoppchen, sieh, wir passen nicht zueinander. Nein, glaub mir, wir passen ganz und gar nicht zusammen, wenn wir auch ein paarmal miteinander getanzt haben. Hier liegt schon das erste Mißverständnis. Du meinst, die Tatsache, daß ich zu euren Veranstaltungen komme, bedeute auch meine Zugehörigkeit zu euch, und da irrst du. Bei euch raffe ich einen Armvoll Huldigungen zusammen, so einen richtigen großen Bauernstrauß, ohne die geringste Anstrengung. Ihr seid mir Liegestuhl, Kleinstadt und Erholungsheim, außerdem befestigt ihr die Hochachtung Mamas vor ihrer Tochter, ohne die es auf die Dauer auch nicht ginge ... So, das allein genügte schon, und, wenn du gescheit wärest, brauchte ich mich nicht auch noch mit deiner Person zu beschäftigen. Ich bitte dich, wie schaust du aus! Du schaust überhaupt nicht aus, von dir ist nichts zu sehen als für Augenblicke das Schwefelfeuer von zwei kleinen lila Augen. Wenn dich eines der kleinen blonden Tanzstundenmädchen ihrer Freundschaft gewürdigt hätte, so wüßtest du, daß ich ihnen – mit großem Erfolg – anvertraute, von den Augen des Doktor Trimpopp sei mindestens das eine aus Glas ... mit elektrischer Zündung in der Pupille, und das andere hätte sich, eifersüchtig auf dessen schöne Amethystfarbe, so lange angestrengt, bis es genauso geworden wäre. Abendelang beschäftigte uns die Untersuchung, welches von den beiden Augen das echte sei, und wenn dich die Mädchen umdrängten und wilden Blicks in deinen Augen forschten, so hatte das leider nicht den Sinn, den du vielleicht glaubtest ... Ach Gott, wieviel wäre da noch zu bemerken; aber wozu dich kränken! Mir scheint, du bist sowieso kein Rahmschöpfer und Schlemmer im Leben. Schließlich – Amalie hatte das angemessene Argument gefunden, womit sich Trimpopp antworten ließ, ohne ihn zu beleidigen. Sie beugte sich über ein Blatt knallgelben Briefpapiers mit schmalem Goldrand und schrieb, ohne zu stocken:

 

»Lieber Herr Doktor!

Thank you . Ich. denke nicht daran zu heiraten. Weder Sie noch einen andern. Und Sie denken auch nicht im Ernst daran, mich zu heiraten. Stellen Sie sich Tipptopp vor, wie sie unter Myrthenkranz und Schleier einem fremden Mann im Bratenrock zulächelt. Stellen Sie sich bitte vor, wie Sie ... genug! Tun Sie wie ich, wenden Sie sich lachend ab – und rauchen Sie eine von den hoffentlich recht guten Zigarren, die ich Ihnen in Anerkennung Ihrer tapferen und für mich so schmeichelhaften Haltung vor dem Feind beilege.

In Freundschaft
Ihre Amalie Kleinschuh.«

 

Papa, der unterdessen eingetroffen war, mußte ihr gleich eine empfehlenswerte Zigarrenmarke nennen, er mußte sie ihr sogar aufschreiben. Amalie telephonierte nach einem Messengerboy, der die tröstenden Glimmhölzer besorgen und zugleich mit dem Brief dem unglücklichen Bräutigam ins Haus bringen sollte.

Vater Kleinschuh, dem Mama in Amaliens geliebtem Tone spöttischer Überlegenheit Mitteilung von einer sensationellen Werbung um Amalie machte, blieb in seinen Gedanken versunken und schien der Angelegenheit keine Beachtung Zu schenken. Erst nach einer Weile, als die Frauen schon von anderem sprachen, knurrte er, seine Suppe schlürfend, daß es Zeit sei, das Kind unter eine ordentliche Haube zu bringen. Sie hätte es nicht nötig, Medizin zu studieren. Dabei hob er, aus wasserblauen Augen aufblickend, ein wenig den Kopf, tauchte aber gleich wieder unter, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Seebärchen war an der Oberfläche!« stellte Mama zärtlich fest, und damit war die Angelegenheit erledigt.

Aber nach Tisch kam Fritz zu Besuch.

Kaum hatte er sich gesetzt, als er schon, fast heimtückisch, ausrief:

»Ich bin am Bahnhof deinem Freund Manasse begegnet«, und als Amalie, strahlende Herausforderung in den Augen, ihn abwartend ansah, fügte er hinzu:

» – der außerdem, wie ich dir bei der Gelegenheit mitteilen will, ein Schuft ist.«

Es gab eine erregte Auseinandersetzung zwischen Bruder und Schwester. Amalie verließ das Zimmer, wobei sie mit viel Geschick, nicht zu leise, nicht zu stark, die Tür hinter sich zuwarf. Sie bevorzugte diese dramatischen Abgänge, die sie der Pflicht enthoben, über ihre Unternehmungen Rechenschaft abzulegen. In den Rauch ihres Zorns gehüllt, verschwand sie, und niemand wagte zu fragen, wohin sie ging. Voll besänftigter Tragik kam sie wieder, und auf die Frage nach ihrem Verbleib antwortete sie nur mit einem leidvoll ablehnenden Blick ins Leere, es gab aber niemand in der Familie, der ihren Schmerz nicht geachtet hätte.

»Habt ihr sie glücklich vertrieben?« fragte Kleinschuh, den das plötzliche Schweigen zu stören schien. Er saß in einer Ecke und schrieb Briefe. Um einen Zusammenstoß zwischen ihm und dem aufgebrachten Fritz zu vermeiden und zugleich Amalie vor Fritz zu entschuldigen, beeilte sich Mama auszurufen:

»Denk nur, Junge, es hat einer um die Hand deiner Schwester angehalten – das macht sie wohl auch ein wenig nervös ... Rate mal, wer ... Der Doktor Trimpopp!«

Sie hatte auf einen Heiterkeitserfolg gerechnet. Statt dessen blieb Fritz, der im Zimmer auf und ab ging, plötzlich neben dem Vater stehen, tippte ihm leise auf die Schulter, worauf er nach einer Pause mit ernstem Gesicht sagte: »Ausgezeichnete Idee! Machen wir!«

Kleinschuh blickte auf, zuckte die Achseln, dann rückte er entschlossen den Drehstuhl ins Zimmer:

»Also, was ist denn nun eigentlich los?«

Fritz klärte ihn auf: »Trimpopp, Doktor, Chemiker, wenn ich nicht irre, Reserveonkel –«

Und zu Mama gewandt, ungeduldig:

»Du kannst darauf gefaßt sein, daß sie eines schönen Tages mit dem Bürger Manasse durchgeht ... Mama«, rief er mit Kommandostimme, als sie den Mund öffnete ... »Wir kennen den Jungen! ... Das geht jetzt schon seit Monaten. Sooft man ihr begegnet, immer ist sie in Begleitung dieses Manasse. Schon als Offizier kann ich das nicht länger mit ansehen.«

»Puh! Puh!« machte der Alte mit dicken Backen, »beruhige dich schon. Ist wohl nicht so schlimm.«

Doch, es war so schlimm, und Mama bekam Dinge zu hören, daß ihr die Ohren klangen. Der Alte nahm es weniger wörtlich, aber er ging doch so weit, daß er von Zeit zu Zeit seiner Frau bedeutungsvoll zunickte. Dies geschah jedesmal, wenn in Fritzens männlich ernsten Anklagen und Beweisführungen die seiner Ansicht nach entscheidende und auch wirklich vernünftige Behauptung wiederkehrte, daß Amalie – »das feurige Füllen, das nach allen Richtungen ausschlägt«, wie Fritz sagte – in das Gehege einer anständigen Ehe geleitet werden müsse. Im übrigen legte er dem Auftritt, der sich vor ihm abspielte, keine Bedeutung bei. Das Mädel, dachte er, ist nicht auf den Kopf gefallen. Sie wird schon tun, wie sich's gehört. Und das mit dem Manasse – im Grund zweifelte er daran, daß er überhaupt existierte, in solchen Farben malte ihn der Fritz, der von jeher in Übertreibungen planschte. Nach einiger Zeit überließ er den Sohn der Mutter und kehrte unauffällig zu seinen Briefen zurück.

»Na, na, na«, brummte er begütigend, wenn sie hinter seinem Rücken gar zu heftig wurden...

 

Trimpopp aber hatte sich müde und krank gerungen, bis er endlich bei Morgengrauen eingeschlafen war.

Er schlief bis in den Morgen, was er der Welterfahrung des Ehepaares Schwerin zu danken hatte, das übereingekommen war, den nicht beim Frühstückstisch erschienenen Doktor ruhig sich erholen zu lassen: Er werde jedenfalls, aufgeregt, wie er schon am Abend gewesen sei, eine schlechte Nacht gehabt haben. Außerdem wußte das Dienstmädchen zu berichten, sie habe gehört, wie der Doktor während der Nacht über den Gang geschlichen und die Treppen hinuntergegangen sei. Darüber war nun der Oberpostassistent doch einigermaßen erstaunt, bis er nach längerem Nachdenken den Zeigefinger auf die Stirn legte und ausrief: »Der Mann hat einen Brief zum Kasten gebracht!«

Seine Gattin stimmte mit einem mütterlich warmen »Na also« bei, und dies bedeutete, daß Frau Schwerin entschlossen war, den Doktor vorläufig wie einen Kranken zu behandeln. Schwerin übernahm es, das Patentamt zu benachrichtigen.

Um zehn Uhr bekam Trimpopp das Frühstück ans Bett gebracht. Das Mädchen mußte ihn anstoßen, damit er wach wurde. Den erschreckt auf die Uhr Starrenden beruhigte sie mit der Mitteilung, daß er krank sei und sich schonen müsse. Und die gnädige Frau lasse sagen, daß der gnädige Herr an das Büro telephoniert habe.

Trimpopp fiel in die Kissen. »Danke, ich frühstücke nicht«, sagte er, sich zur Wand kehrend, »nehmen Sie nur wieder mit... Wenn der Briefträger kommt, wecken Sie mich!«

Er wagte nicht aufzustehen. Er wollte liegenbleiben und weder essen noch trinken, bis die Antwort kam, und wenn es Tage und Wochen währte. Im Halbschlummer würgte er weiter im Kampf der verflossenen Nacht. Immer wurde er gedemütigt. Er erwachte zitternd oder starr vor Schreck. Er machte weite Bogen um die Bilder, die ihn quälten, versuchte im rasenden Lauf an ihnen, die auf ihn zukamen, vorbei und hinter sie zu kommen, in das erlösende, freie Dunkel dahinter; aber während sie stracks auf ihn zueilten, wichen sie auch immer vor ihm zurück. Er träumte von seiner Häßlichkeit – von seiner Feigheit – von seiner bettelhaften Armut – seiner kriechenden, neidischen, aufflackernd hämischen Niedrigkeit. Alle kläglichen Eigenschaften traten ihm in maßlosen Verzerrungen und gigantischen Vergrößerungen entgegen, als sei dies das Jüngste Gericht, das er zwischen abgrundhohen Spiegeln der Ewigkeit an sich selbst vollzöge. Während er um Gnade und Barmherzigkeit schrie, sich mit wahnwitzigen Lügen verteidigte, vernichtete er gleichzeitig sich selbst, der da vor ihm winselte und sich wand und zu entkommen suchte.

Unter den Schreckgespenstern war auch immer Schwerin, der höhnische Grimassen schnitt, und seine Frau, die Kinn und Busen vor Lachen schüttelte.

Es war umsonst, daß er sich bis dicht an die großen, blanken Stiefel des Oberpostassistenten drückte. Der grinsende Kopf über ihm beugte sich vor, um ihn zu sehen, und das Weiberlachen verfolgte ihn bis in seinen Schlupfwinkel.

Frau Schwerin wollte gerade nach dem Doktor sehen, da kam der Boy mit Paket und Brief. Beides brachte sie ihrem Kranken. Er sagte danke, ohne das Gesicht zu zeigen. Aber kaum hatte sich die Tür wieder geschlossen, als er aufsprang und hastig nach dem knallgelben Papier griff. Er roch daran. Es war nicht parfümiert. Enttäuscht hob er das Paket zur Nase. Er schwankte und mußte sich am Tisch festhalten. Langsam setzte er sich, zog das Paket bis an seine Brust, legte den Kopf in den Armen darüber und sog inbrünstig den Geruch der Zigarren ein. Er war gerettet! Sie liebte ihn und schickte ihm ein Geschenk, er sagte es laut vor sich hin: »Ein Angebinde.«

Frau Schwerin, die vor der Tür lauschte, hörte plötzlich weinen. Sie bückte sich zum Schlüsselloch und sah einen hageren Rücken in einem durchgeschwitzten Hemd krampfhaft bewegt hin und her gehen. Aber sie wußte gleich, daß er vor Glück weinte. Ohne sich aufzurichten, suchte sie und fand das Taschentuch im Rockfutter, sie hielt es bereit, während auch ihr Rücken schon sachte zu schaukeln begann. Er beruhigte sich gleich, als Trimpopp mit einem Ruck den Kopf zurückwarf, sich mit entschlossenem Gesicht erhob und zum Waschtisch ging. Er wollte – und Frau Schwerin begriff auch dies – den Brief angekleidet lesen, in tadellosem Zustand seiner Braut entgegentreten. Sie überschlug, daß die Toilette zwischen 15 und 20 Minuten dauern werde, die sie ihrem Gatten widmen konnte. Die Zigarrenkiste aber, das sah sie noch, machte Trimpopp gleich auf.

Als sie nach dieser Zeit auf ihren Beobachtungsposten zurückkehrte, fiel ihr gleich ein zarter, durchdringender Zigarrenduft auf, so wohlriechend, daß sie einen Augenblick stehenblieb, um mit Behagen darin zu schnuppern. Dann wollte sie, wohlvorbereitet, den Weg zum Schlüsselloch fortsetzen.

Statt dessen zitterten ihr plötzlich die Knie. Am Ende des Hausgangs, in Trimpopps Zimmer, hatte es aufgebrüllt, Möbel wurden umgeworfen. Scherben klirrten, und als sie die Tür aufriß, stand Trimpopp, bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, zwischen gestürzten Stühlen und zertrümmertem Geschirr und trat wie ein wahnsinnig gewordener Lohformer auf der Zigarrenkiste und knallgelbem Papier herum, immer auf demselben Fleck, mit den geballten Fäusten durch die Luft nach seinen Füßen schlagend, als sollten sie die Gewalt des Trittes erhöhen, und dazu ein gepreßtes, gleichförmiges »Ha! Ha!« ausstoßend.

In Wahrheit waren die Zigarrenkiste und ihr Inhalt nur noch eine unförmige Masse, und der Brief sah aus, als ob er aus dem Mülleimer geholt wäre.

»Um Gottes willen, was ist?« sagte die Frau; sie sprach ganz leise vor Angst und Schwäche. Trimpopp trat mechanisch weiter. »Was ist?« wiederholte sie lauter.

Trimpopp hob den Kopf und hielt sofort ein. Er setzte, indes er verwirrt den Tisch aufrichtete und sich dann auch nach den Stühlen bückte, einige Male zum Sprechen an. Er brachte keinen Ton hervor. Endlich reckte er sich und schrie, gradaus, Frau Schwerin in Mund und Augen:

»Was ist? Nichts ist! Es ist, daß ich Ruhe haben will in meinem Zimmer! Es ist, daß ich mir verbitte, hier als dummer Junge behandelt zu werden! Es ist, daß man in einem anständigen Haus anklopft, bevor man eintritt! Das ist! Verstanden?!«

In der Tür, hinter der an den Boden genagelten Frau, erschien der Oberpostassistent. Er zuckte zurück, als Trimpopps Blick, ein elektrisches Flammenbündel, ihm einigemal blitzschnell um Gesicht und Schultern kreiste und dann auflodernd in die Augen schoß. Schnell packte er seine Frau am Arm und zog sie aus dem Zimmer. Er wolle, murmelte er, zur Waffe greifen. Das Mädchen sollte um die Ecke zur Polizei laufen, um Hilfe zu holen und die Sanitätswache zu alarmieren.

»Die Tür«, sagte er mit erzwungen ruhiger Stimme, »muß abgeschlossen werden, bis die Polizei kommt.« Dabei streckte er die Hand nach dem Schlüssel aus, zog sie aber schnell zurück, als Trimpopp einen drohenden Schritt auf ihn zu tat. Konnte man sich mit einem Wahnsinnigen schlagen? Frau Schwerin, die im Gang stand, so wie ihr Gatte sie hingestellt hatte, wandte Trimpopp noch einmal ihr entsetztes Gesicht zu, über das jetzt große Tränen rannen ... Nein! Nein ... Nicht! ...

Trimpopp fühlte seinen Körper wie unter einem lauen Regen dahinschmelzen, Er ließ das Kinn auf die Brust sinken, und sie hörten ihn flüstern: »Ich will ins Bett ... Rufen Sie einen Arzt ...«

Da hatte sich Frau Schwerin auch schon gebückt und räumte auf. Sie holte einen Besen und fegte die Scherben zusammen. Als Trimpopp sich vergeblich mühte, die Schuhe auszuziehen, half sie ihm, und da sie nun einmal damit angefangen hatte, entkleidete sie ihn vollends, legte ihn ins Bett und packte ihn in die Decken, als ob er ihr großer Sohn wäre.

Nur sprechen konnte sie noch immer nicht.

 

Tage stiegen aus der Nacht wie heller Rauch und sanken wie Asche.

Mit Trimpopps Frühling war es vorbei. Er wußte zu gut, daß er fror, daß die Luft kalt und feucht war, daß die Restaurants übel rochen, daß die Stadtbahnwagen die Bezeichnung von rollenden Ställen verdienten, die niemals recht in Fahrt kamen und immer zu früh hielten. Er zitterte, wenn ein D-Zug mit der schwebenden, gleitenden Bewegung eines Segelbootes vorbeifuhr. So deutlich träumte er von golddurch-, glänzten Orangenbäumen auf den steinigen Terrassen der Riviera, von den Zypressen, die auf einem Reklamebild von Porto Fino hoch über dem tiefblauen Meer, dunkel im tiefblauen Himmel standen, von den wuchtenden Marmormassen des Domplatzes in Florenz. Er fuhr durch Schneewüsten, in einer Flora von Eis, an erstarrten Wasserstürzen vorbei über den Gotthard. Es war noch schöner, wenn ein Schneesturm heulte und der Zug nur mühsam vorwärts konnte. Er saß im Speisewagen und erklomm, einen unerhörten Jubel im Herzen, die höchste Spitze des Winters, den er hinter sich zurückließ. Dann senkte sich die Fahrt, die Vorgärten des Südens begannen. Dort waren alle Menschen fröhlich. Die Frauen hatten farbige, flatternde Schleier ums Haar geschlungen und winkten. Sonne war; Sonne, Sonne! Ruhm schwebte, eine blaue Wolke, durch die Luft.

Nachmittags saß er im Kaffeehaus, das mit debattierenden Beamten des Patentamtes gefüllt war, über das Kursbuch gebeugt und studierte die Züge, die ihn nach Rom, nach Madrid, nach Afrika brächten. In seiner Manteltasche trug er den Baedeker von Ägypten, er besuchte die Reisebüros und zog Erkundigungen ein. Alle Routen, die ins Mittelmeer führten, kannte er auswendig mit den Fahrzeiten. Er hatte sich ein Schiff ausgesucht, das vor acht Tagen abgegangen war, darauf reiste er. Jeden Abend ging er Unter den Linden und stellte im Schaufenster der Agentur seinen Aufenthalt fest. Dann, wenn rote Glühscheiben alle Gleise sperrten, war der Charlottenburger Bahnhof mit seinen leeren Hallen und tauben Lichtern in der einsamen Nacht das Symbol seiner Sehnsucht, die auch ›keine Ausfahrt‹ hatte und tragisch in die Leere der winterlichen Tage ragte. Er kam von der Mommsenstraße herüber, schlich den Bahndamm entlang – links drohten die steinernen Fratzen der Neubauten, die wie ein Aussatz an der Stadt klebten – passierte die ausgeräumte Markthalle des Holtzendorffer Tunnels und verschwand in dem traurigen Stadtteil am Amtsgericht, wo er zu wohnen verdammt war.

2

Fritz Kleinschuh war ein guter Junge. Er brachte Amalie einen Rosenstrauß und Konfekt, und wenn er sich auch nur korrekt verneigte und ein mannhaft kurzes Pardon herausstieß, so errötete er doch gleichzeitig bis unter den Offizierskragen, und Amalie konnte seinen Augen deutlich ansehen, wie er darauf wartete, schnell über die Backe gestreichelt und mit der zauberkräftigen, in ihren Kindertagen gewachsenen Zärtlichkeit eines ›kleinen tummen Jungen Fitz‹ ausgezeichnet zu werden.

Wenn sie diesmal die Annäherung ablehnte, so geschah es, weil ihr der Kriegszustand zur glücklichen Beendigung der unternommenen Arbeit günstiger zu sein schien. Bei ihrem Vater hatte sie gegen das Versprechen, innerhalb der nächsten zwei Jahre zu heiraten, den Schwur eingetauscht, daß sie nie gegen ihren Willen heiraten müßte. Mama war eingeweiht und schließlich nach vielen schlaflosen Nächten und verweinten Tagen gewonnen worden. Aber es kam noch vor, daß sie in ihren wirren Gedanken irgendwo saß und, von Amalie umarmt und liebevoll getröstet, weinend in die Klage ausbrach: »Aber ich bitte dich: Manasse! ... Manasse!«

Zuvor kämpfte sie dagegen an mit der Überlegung, daß Kleinschuh auch nicht gerade vornehm klinge, mit der Vorurteilslosigkeit ihrer Zeitgenossen, nicht zuletzt mit dem Trost, den die Religion ihr nicht versagte. Alles versuchte sie. Aber der Gedanke, daß Amalie Frau Manasse heißen sollte, tauchte wie eine Windhose auf und ließ ihre festesten Vorsätze elend untergehen. »Lieber sterben«, stöhnte sie dann, »ja, mein Kind, lieber sterben.«

»Er sieht ja gar nicht so aus«, sagte Amalie ungeduldig.

»Aber er heißt doch so! Er heißt doch so, und da könnte er aussehen wie der heilige Johannes.«

Amalie griff zu.

»Nun, wer weiß: Vielleicht sieht er wirklich aus wie der heilige Johannes, der auch Manasse oder so ähnlich hieß.«

Zuerst verstand Mama nicht, was gemeint war, und als sie verstanden hatte, sagte sie wehmütig:

»Gott, das ist so lange her! Daran denkt kein Mensch mehr.«

Immerhin, der Mutter glaubte Amalie sicher zu sein. Sie brauchte nur noch mit dem zu sprechen, den sie heiraten wollte und von dem sie vorerst nur wußte, daß er sie liebte.

Die Gelegenheit bot sich, als ihr Freund sie eines Nachts auf der Heimfahrt vom Theater bestürmte, noch eine Stunde oder zwei mit ihm zu verbringen. Während er den Wagen halten ließ, fragte er: »Aber wo?«, und dann schlug er seine Wohnung vor. Sie zögerte, widersprach aber nicht, als er dem Führer seine Adresse zurief.

An der Tür nahm er ihre Hand und führte sie die Treppe hinauf. Er schlich mit ihr durch plötzlich erhellte Gemächer, an deren Wänden gewirkte Teppiche aufgeregte Geschichten erzählten, die mit einem Schlag ins Dunkel zurückfielen. In einem kurzen Gang, der finster blieb, mußte sie sich bücken, wobei schwere Vorhänge über sie hinwegstrichen. Er öffnete leise eine Tür, schloß sie wieder und legte Amalie irgendwohin auf Kissen, in die sie einsank, und sie ließ sich, zitternd und plötzlich wie gelähmt, wenn sie seine Hände fühlte, von ihm küssen, soviel er wollte.

»Gib dich«, flüsterte er. Schnell zog sie ihn in ihre Arme zurück, und sie behielt ihn fest an sich und küßte ihn, sanft und still, auf Stirn, Augen und Wangen, bis er ruhig geworden war.

»Darfst mich nicht mißverstehen, Arthur. Ich bin dein, und du kannst mit mir tun, was du willst ... Aber höre, ich finde, es wäre schade, hörst du? Wenn ich arm wäre oder aus irgendwelchen Gründen nicht deine Frau werden könnte, ja, ich wäre dein kleines Mädel, deine Geliebte, heimlich oder wie du es sonst haben möchtest! – Sag, willst du, daß wir uns verstecken? ... Nein, ich weiß. Dann wollen wir auch richtig Hochzeit machen. Weißt du, es muß herrlich sein, richtig Hochzeit zu machen, ich meine, mit dem Prinzen, den man sich gewünscht hat. Denk mal, wenn man nach dem Essen, während die andern noch lärmen und Trinksprüche halten, aufatmend losfährt ... Wie da der Lehrter Bahnhof aussehen muß! Und die Dienstmänner, die angelaufen kommen, und der Herr im Billettschalter, der das Geld wechselt! Und Hamburg! ... Kennst du Hamburg? Ich auch. Aber natürlich kennen wir es gar nicht, haben es nie gesehen ... ja, und dann schauen wir uns möglichst schnell nach unsern Kabinen um. Denn wir fahren doch nach Westindien, nicht wahr ...? Westindien? Paß mal auf: Habana, San Jouan, Jamaika, Colon, La Guayra, Barbados, Martinique, St. Thomas – Nun, was sagst du? Noch einmal, damit du klarer siehst.« Und sie wiederholte, als überließe sie sich einem Taumel: »Habana, San Jouan ...«

Dabei richtete sie sich auf und begann, mit hastigen Griffen Haare und Kleider zu ordnen.

»Arthur, wie wär's, wenn du mir erlaubtest, mich ein wenig bei dir umzusehn. Ist es hübsch hier?«

Aber Arthur hielt sie auf. »Pst! Nicht laut sprechen. Mein Vater schläft nebenan.

Amalie tat entrüstet. »Na, weißt du, da hört sich alles auf!«

Schon war sie weit von ihm fort, im Dunkel. »Licht, mein Freund, Licht. Aber schnell, sonst rufe ich um Hilfe.«

Weiß und lächelnd tauchte sie aus der Finsternis und warf sich ihm um den Hals. Darauf legte sie seinen Arm in den ihren und ließ sich von ihm bedächtig an den Wänden entlangführen. Als der Rundgang beendet war und sie einander in einer maurisch aufgeputzten Ecke gegenübersaßen:

»Wenn du Lust hast, sprechen wir jetzt von unserer Einrichtung. Da ich es bin, die dich heiratet, darfst du Vorschläge machen. Östliche Stile von vornherein abgelehnt. Bitte.«

Statt dessen fragte er, ob sie eine Komödie mit ihm aufführe oder ob es Ernst sei.

Sie zog ein langes Gesicht und hauchte mit niedergeschlagenen Augen:

»So ernst.«

Von ihrer guten Laune angesteckt verriet er ihr, daß er sie für leichtsinnig genug gehalten hätte, seine Geliebte zu werden, aber für viel zu gescheit, ihn zu heiraten.

Sie rief mit albernem Erstaunen:

»Arthur, wer hat dich so verdorben?«

»Ruhig!« befahl er, »ich spüre, wie der Ernst des Lebens... Da! Da!...«

Er legte prüfend die Hand aufs Herz und hob die Augen zur Decke.

»So eine Art freundliche Paralyse, die in den Beinen beginnt und langsam höhersteigt... Übrigens irrst du, wenn du glaubst, daß man unter Menschen und Tieren einfach heiratet, wie und wann man Lust hat. Es gibt Schwierigkeiten. Von mir rede ich nicht. Ich habe schon an der Mutterbrust getan, was ich wollte. Beginnen wir mit deiner Mama.«

Amalie nickte:

»Weiß schon. Manasse, Muttersöhnchen, Nichtstuer, Pascha in Juda und seinen Provinzen, vor allem: Manasse. Der Schwager des Renommierbürgerlichen bei der Garde... Sag mal, was hast du eigentlich mit dem Militär gehabt?«

Ja, das war eine düstere Geschichte, und Arthur hatte offenbar keine Lust, auf Einzelheiten einzugehen. Er war als Einjähriger bei den Gardedragonern eingetreten und hatte bereits in der zweiten oder dritten Woche einen Zusammenstoß mit dem Hauptmann gehabt. Um dem Kriegsgericht zu entgehen, war er geflohen, hatte dann, um zurückkehren zu können, eine richtige Verschwörung angezettelt. Von einem Freund, dem Sohn des Großindustriellen Kreuzer, der ebenfalls bei der Garde gedient hatte, tatkräftig unterstützt, war es ihm mit manchmal recht zweifelhaften Mitteln gelungen, auf saubere Weise aus der Stammrolle gestrichen zu werden. Ohne seinen Freund wäre ihm das Kraftstück natürlich nie geglückt, aber sein Freund war ein Kerl. Bei einem Liebesmahl hatte der Kaiser ihm eine Rose geschenkt. So sah er aus. Ein Stück Mensch, von einer Vitalität und einem muskulösen Hochmut, um den die alten Raubritter, die Ahnen seiner bessern Kameraden, ihn beneidet hätten. Alle hatten ihren besonderen Grund, ihn zu schätzen, vom Wachtmeister seiner Schwadron bis zum Kommandierenden General. Er brauchte unsäglich viel Geld, nicht, weil er etwa dessen Wert unterschätzte, im Gegenteil: Er hieb, stach und schoß es hinaus, wie er zu einer andern Zeit die Widerstände mit körperlicher Gewalt gebrochen und die unbequeme Kreatur unter die Hufe seines Pferdes gerannt hätte. Was Amalie von Leichtsinn und Lebensfreude an ihm, Arthur, bemerkte, diese neckischen Skizzen waren bei dem andern monumental ausgeführt.

»Er spielt Tennis wie ein Trampeltier«, schloß Arthur, »aber ich wage nie, ihn ein paarmal hintereinander verlieren zu lassen, aus Angst, er könnte plötzlich in Wut geraten und mit geballten Fäusten über das Netz auf mich losspringen.«

Es klopfte an, und Amalie, die sich erschrocken umdrehte, sah einen kleinen Herrn mit weißem Backenbart ins Zimmer treten und sich mit zwinkernden Augen vor ihr verbeugen. Seine hagere Gestalt war in einen gelbseidenen Schlafrock gewickelt, unter dem schwarze Pantinen in japanischer Art hervorsahen.

Arthur lachte hell auf.

»Ich habe sprechen hören« ..., sagte der Greis melodisch, und zugleich gab er durch einen leuchtenden Seitenblick zu verstehen, daß er die Wahl der Dame billige. Auch bog er den Kopf zurück und schmatzte, als ob er eine Auster schlürfte. Dann wollte er sich, das Schlemmergesicht in wohlgefällige Falten legend, umständlich in einen Sessel niederlassen. Aber er kam nicht soweit.

Arthur klärte ihn über den Irrtum auf, den er so deutlich beging, und als er nun vernahm, daß die Dame, der er bei Nacht im Zimmer seines Sohnes vorgestellt wurde, Fräulein Amalie Kleinschuh sei und daß soeben, unter so auffallenden Umständen, eine Verlobung in seinem Hause stattgefunden habe, da verharrte er in einer kauernden Stellung zwischen Sitzen und Stehn und stammelte mit niedergeschlagenen Augen Entschuldigungen, die von Rührung und Scham abwechselnd rot und weiß gefärbt wurden. Doch plötzlich raffte er sich auf, und indem er Amalie die Hand hinstreckte, sagte er aufatmend:

»Jetzt sind Sie auch über das Vorleben Arthurs unterrichtet: Entschuldigen Sie die Narrheit eines Vaters, der selbst die Laster seines Sohnes ohne Abscheu ansieht. Wir Juden –«

»Natürlich«, klagte Arthur, »schon wieder die Juden.«

Aber der Greis war zu froh, sich auf ein festes Ufer gerettet zu haben, als daß er sich auf dem angetretenen Siegeszug hätte aufhalten lassen: er mußte sprechen, er konnte nicht zurück, und er hatte ein dankbares Thema gefunden.

»Bitte«, rief er, als schwänge er den Degen, »dein Freund Kreuzer interessiert sich sehr für die Juden. Heute abend haben wir zwei geschlagene Stunden von nichts anderem gesprochen.«

Amalie wollte beweisen, daß sie ihm Gefolgschaft leistete:

»Kreuzer, ist das Arthurs Freund?«

Das war Arthurs Freund, jawohl, aber der Freund nicht nur des jungen, sondern auch des alten Mannes. Sie spielten zusammen, manchmal ganze Nächte, und dazu tranken sie Kreuzers Lieblingswein, einen alten Burgunder, Nuits, der aus der Zeit stammte, wo Arthurs Mutter noch lebte.

»Geh, Arthur, hol mal zwei Flaschen davon. Wir müssen die Verlobung feiern. Ich erzähle dem gnädigen Fräulein, was Kreuzer heute von den Juden gesagt hat.«

Er verstand nicht, hatte Kreuzer gesagt, daß die Juden eine so geduldige Sippschaft seien: »Ich hatte ihm von unserer mühevollen Vergangenheit erzählt, zur Abwechslung, weil mir weder eine geschäftliche Anekdote noch ein jüdischer Witz einfiel, wie ich sie ihm sonst als Konfekt zum Wein auftische.«

Wenn er Jude wäre, hatte Kreuzer versichert und dabei gewaltig die Fäuste geschüttelt, dann sänne er Tag und Nacht über nichts andres, als wie er Rache nehmen könnte, für sich und seine Vorfahren, und er war aufgeregt im Zimmer herumgegangen und hatte wahrhaftig nachgedacht, wie sich das unter den heutigen Verhältnissen bewerkstelligen ließe. »Da setzt man uns in den Schulen die alten Griechen und Römer vor, was sind denn die, verglichen mit den Juden!«

Nu, hatte der Alte eingewandt, ob Kreuzer ihn vielleicht ebenso schön fände wie den Apoll von Belvedere?

Schön! Was war das, schön? Auf Kraft kam es an, auf die Lebenskraft, in Berlin genauso wie seinerzeit in Babylon, in der Börse wie im mexikanischen Urwald. Er zum Beispiel hatte es schon in Babylon nicht ausgehalten, geschweige denn als bekümmerter Offiziersaspirant in einem preußischen Regiment ... Kreuzer war ein Schreier ... aber lustig – und dabei: gediegen!

Er rieb zum Zeichen der Anerkennung die Hände auf den Knien. »So«, sagte Amalie.

Der Alte dachte nach, und mit einem verlegenen Augenaufschlag:

»Arthur ist übrigens wirklich ein hübscher, gut gewachsener Junge.« Sie gestand, daß er ihr sogar besser gefiel als der Apoll von Belvedere. Aber da war der Nuits ! Welch ein Wein, wie? Und jetzt verspürte man Hunger ... Und man beschloß zu tafeln.

Die Herren zogen sich zurück und kamen im Frack wieder. Die Dienerschaft wurde geweckt, und um drei Uhr gab es ein warmes Frühstück. Als Arthur Amalie nach Hause fuhr, dämmerte der Tag.

Ihre Mutter empfing sie.

Sie saß in Amaliens Schlafzimmer vor dem Toilettentisch und weinte. Die Kerzen in den silbernen Leuchtern zu seiten des Spiegels waren fast abgebrannt. Sie erhob sich, groß und schön in ihrem weißen Morgenrock, die langen blonden Haare auf Brust und Schultern, und hüllte Amalie ein: eine prächtige Henne, die glucksend ihr Küken unter die Fittiche nahm.

»Ist es geschehn, sag, mein armes Kind, ist es geschehen?«

Doch sie zitterte, und ihr Gesicht war totenblaß. Amalie nahm es in die Hände und sah es an, und sie bedeckte es mit langsamen Küssen. »Was soll geschehen sein, Mutti?«

Da brach Frau Kleinschuh wieder in Tränen aus: »Hat dich der Jude verführt?« rief sie schluchzend und ließ sich auf das Bett fallen.

Amalie zögerte.

»Welcher Jude?« fragte sie gedehnt, als griffe sie und hielte den Zorn zurück, der plötzlich in ihr war wie ein böses Tier.

Die Mutter, die nun mit Sicherheit das Geständnis kommen fühlte, wurde still und krampfte sich zusammen, um den Schlag entgegenzunehmen.

»Manasse«, flüsterte sie.

Und Amalie log, aus Trotz und auch, um der Sache ein Ende zu machen.

»Ja, ich habe mich ihm gegeben. Jetzt werdet ihr euch wohl darin schicken, daß ich ihn heirate.«

Darauf zog sie sich wortlos zurück, unglücklich, daß sie nicht auch einmal besinnungslos weinen durfte.

Frau Kleinschuh schickte sich. Nachdem sie noch eine Weile im Unglück verharrt hatte, erhob sie sich, raschelnd, weiß, mütterlich im Gedanken an das große Ereignis, die Hochzeit ihrer Tochter. Sie saß auf Amaliens Bett, streichelte ihre Hände und wiegte sie mit Trost und schönen Versprechungen ein wie eine Kranke, und Amalie mußte sich zusammennehmen, um nicht ihre Lüge zu vergessen und ihrem Herzen freien Lauf zu lassen.

Um Mittag ließ sich Dr. Karl August Trimpopp melden.

Amalie schickte Mama.

Aber Trimpopp wünschte dringend, dem gnädigen Fräulein eine Mitteilung zu machen.

Als er vor ihr stand, nahm er den Kneifer ab und sagte:

»Wollen Sie bitte vergessen, daß ich Sie in einer Angelegenheit belästigt habe. Nicht wahr?«

»Ich habe vergessen. Setzen Sie sich, Herr Doktor!«

Die Sache war die, daß Fritz Kleinschuh den Dr. Trimpopp aufgesucht hatte.

Amalie unterbrach ihn: wohl mit dem Befehl, seine Schwester zu heiraten.

Oh! Das gnädige Fräulein mißverstand ihn. Das war doch vergessen, nicht wahr? Es klang ja vielleicht lächerlich, aber er bat sie, bat sie ... flehentlich ... einen andern Ton – Denn wenn das andere auch vergessen war, so konnte sie doch aus seinem Besuch schließen, wieviel ihm an ihrem Wohlergehen gelegen sei. Er kam, um ihr zu helfen. Hätte er das Vergnügen gehabt, Herrn Manasse zu kennen, so wäre er zu Herrn Manasse gegangen.

Amaliens Gesicht veränderte sich. Es trat eine Pause ein, und nun setzte Trimpopp seinen Kneifer wieder auf.

Nämlich. Fritz hatte Dr. Trimpopp ganz einfach eröffnet, daß er entweder seine Schwester bewegen werde, ihn, den Doktor, zu heiraten, oder aber dessen Rivalen namens Manasse über den Haufen schießen werde.

Aber die Eröffnung schien auf Amalie keinen Eindruck zu machen.

Sie sagte nur: »Der Kindskopf.«

Das war er, ja, wahrhaftig, das war er. Trimpopp bestätigte es. Ein Kind, das mit Tod und Leben spielte, als wären es harmlose Launen von ihm, die keinen andern etwas angingen ... Immerhin. Trimpopp hob den Kopf und sah ihr fest in die Augen:

»Er ist imstand –«

»Verzeihung«, sagte Amalie verwirrt. »Ich weiß nicht, wie ich Ihren Besuch auffassen soll. Was beabsichtigen Sie?«

»Helfen, Ihnen helfen ...«

Und nun lächelte das Ungeheuer. Es lächelte so gütig, daß Amalie diesen nahen Glanz nicht aushielt und mit einer plötzlichen Bewegung, als wollte sie sich schnell sammeln, die Hände vor die Augen schlug.

»Helfen? Wie wollen Sie mir helfen?«

»Auf jede Weise. Wie Sie wollen.«

Sie sah ihn unsicher an: »Sie lieben mich doch nicht mehr?«

»Nein – das heißt: nicht so ...«

»Gott sei Dank«, sagte sie. »Aber wie wollen Sie mir denn helfen, vorausgesetzt, daß ich Ihre Hilfe nötig hätte?«

»Sie können über mich verfügen ... wie ... über eine Strohpuppe.«

Ach so? Danke!

Nein, wirklich: danke! Trimpopp blitzte sie aus fanatischen Augen an: »Ich weiß nicht, ob Sie mich richtig verstehen. Sie können mich heiraten – wie Sie wollen, solang Sie wollen ... Für mich gehören Sie Herrn Manasse.«

Amalie hatte sich erhoben.

»Herr Doktor«, sagte sie, »Sie können gehn.«

Sie hörte selbst, und es tat ihr weh, wie gezwungen ihr Lachen klang.

Aber als er sich, so feierlich unfrei wie immer, vor ihr verbeugte, fand sie ihn nicht mehr komisch. Er war ihr unheimlich.

»Wie Sie meinen«, murmelte er. »Nur tun Sie mir unrecht.«

In diesem Augenblick glaubte sie ihm.

Sie erkannte seine ganze unwahrscheinliche Überlegenheit.

Und wandte sich zornig ab.

 

Zur selben Zeit befand sich Arthur Manasse auf dem Weg nach Potsdam, bereit, alles zu ertragen, um Amaliens Bruder zu gewinnen.

Er hatte ihr nichts von dem beabsichtigten Besuch gesagt und es sich in den Kopf gesetzt, allein eine Verständigung mit Fritz zu finden. So nahm er ihr eine schwere und unangenehme Aufgabe ab und bereitete ihr vielleicht eine schöne Überraschung.

Nur! Wie sollte er zu ihm sprechen?

Er kannte ihn einzig aus Amaliens Erzählungen, wo Fritz der reizendste Junge war; er litt, vielleicht heftiger als andere – Amalie sagte: bis zur Fallsucht – an zwei, drei Vorurteilen, die er für die Grundsteine der menschlichen Gesellschaft hielt. Sie liebte ihn sehr, und auch Arthur hatte, ohne ihn je gesehen zu haben, eine Zuneigung für ihn.

Nichts war natürlicher.

Aber wie ihn gewinnen – da er ihn unbedingt gewinnen wollte?

Gut, er würde sich ihm vorstellen und nicht böse werden, wenn Fritz mit einem Nasenlaut »Manasse?« wiederholte oder sich mit einem verächtlichen Gesicht bewaffnete. Geduld wollte er haben, Geduld, solange die geringste Hoffnung blieb. Er wollte sogar versuchen, ihn zu rühren. Schließlich handelte es sich doch um eine menschliche Angelegenheit, um ein Schicksal zweier Menschen, von denen wenigstens der eine, Amalie, Fritz nicht gleichgültig sein konnte. Die aber liebte ihn, ja, das war über alle Maßen gewiß, sie liebte ihn und wollte ihn haben, gleichviel, wie er hieß und was er war. In dieser Gewißheit hingen wie in unerschütterlichen Angeln alle Betrachtungen, denen er Fritz durch Geduld, Rührung, List, durch alle Mittel, die sich als wirksam erwiesen, zugänglich machen wollte. Sie liebte ihn nicht, wie unerfahrene Mädchen gewöhnlich lieben. Dazu mußte auch Fritz sie für zu klug halten, und ihre Klugheit war so groß wie ihre Leidenschaftlichkeit, die ihr Bruder ebenfalls kennen mußte. Sie wollte ihn und täte alles, um ihn zu bekommen, so oder so. Das mußte Fritz herausfühlen, denn sagen konnte er es ihm natürlich nicht.

An der Tür von Fritzens Zimmer blieb er lange stehen und legte sich noch einmal zurecht, was er im unbestimmbaren Verlauf der Unterredung vorbringen konnte. Er erwog den Rückzug für den Fall, daß Fritz sich völlig abweisend verhielt: Auch der Rückzug durfte nicht so sein, daß ein für allemal die Brücke zwischen ihnen abgebrochen wäre.

Also vor allem Geduld ... Geduld und Vorsicht.

Ein Bursche nahm seine Karte, kam gleich wieder und führte ihn in das Zimmer, wo Fritz ihn aufrecht, in langem Offiziersrock, erwartete. Sie verbeugten sich leicht voreinander, dann lud Fritz Arthur zum Sitzen ein, wobei er sagte, daß der Besuch ihm sehr willkommen sei, weil er die längst gewünschte Gelegenheit zu einer Aussprache biete, die hoffentlich die einzige bleiben werde.

Arthur erwiderte, daß ihm das sehr leid täte und daß er im Gegenteil gekommen sei, weil er sich für verpflichtet halte, nach seiner Verlobung mit Amalie, die gestern stattgefunden habe, ein mögliches Verhältnis zu ihrem Bruder anzubahnen.

Fritz sah ihn einen Augenblick mit übertriebener Schärfe an, dann legte er die Hände in den Schoß und sagte halblaut: Da es schon so weit sei, könne er sich ja kurz fassen. Arthur werde seine Schwester nicht heiraten – er, Fritz, müsse es unter allen Umständen verhindern, selbst unter Lebensgefahr.

Ob er fragen dürfe, warum, erwiderte Arthur, und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: der Grund, daß er Jude sei und ein Herr Manasse, scheine ihm jedenfalls nicht wert, unter erwachsenen Menschen, die keine Narren seien, diskutiert zu werden.

Einen solchen Narren sehe er, Arthur, aber vor sich, sagte Fritz, und er müsse jedem klugen Mann abraten, sich mit einem Narren einzulassen. Damit halte er die Unterredung für beendet.

Fritz erhob sich und sah mit gemachter Gleichgültigkeit auf Arthur herunter, der, die Hände krampfhaft gefaltet, sitzen geblieben war. »Herr Leutnant«, sagte er, »bitte noch zwei Minuten«, und während sich Fritz achselzuckend niederließ, begann er, ihm alle Vorschläge zu unterbreiten, die er während der Fahrt hierher zusammengesucht hatte.

Fürchtete Fritz, daß sein Schwager Manasse ihm die militärische Laufbahn verderbe?

Weder Amalie noch er hingen sonderlich an Berlin, sie würden wegziehen ins Ausland, doppelt so weit, wie die Vorsicht geböte.

Das wollte er leichten Herzens tun.

Hielt er ihn für einen leichtsinnigen Kerl?

Der alte Kleinschuh sollte Amaliens Mitgift behalten, er selbst wollte das Seine zum größten Teil auf Amalie übertragen, die sei nicht leichtsinnig, nicht wahr, nein, ihr und den Kindern –

Hier schlug Fritz mit der Faust auf den Tisch und schrie so laut, daß Arthur flackernd in die Höhe fuhr: Amalie bekäme keine Kinder von ihm, eher knallte er sie und sich nieder, eher rottete er alle Manasse der Welt aus, eher –

Sie standen einander gegenüber, als wollten sie im nächsten Augenblick losspringen, die Hände geballt, Auge in Auge, Fleisch in Fleisch. Dann öffnete Arthur die Hände mit einer gewaltsamen Bewegung.

»Warum«, sagte er traurig. »Sagen Sie, warum?«

Aber Fritz beugte sich vor und schrie verzerrt in das blasse, gefaßte Gesicht, als ob er es anspuckte:

»Weil ich Sie hasse – Sie Jude!« Und als Arthurs Blick voll auf- und abschwellender Schwermut auf ihm ruhen blieb, knirschte er, von Scham über seine Roheit gepackt: »Muß ich es Ihnen denn ins Gesicht patschen?«

Arthur schüttelte den Kopf:

»Ich bin ja stärker als Sie.«

»Oh, was das anlangt ...«

Auf dem Schreibtisch lag ein Säbel. Fritz sprang und griff danach. Arthur zögerte. Sollte er ihm den Säbel wegnehmen?

»Ich gehe ja schon«, sagte er, »ich räume vor Ihnen das Feld.«

Fritz möge sich bitte begnügen.

Draußen hörte er, wie der andere »Feigling« hinter ihm herbrüllte.

Feigling? ...

Welchen Begriff sich der Hanswurst vom Mut machte. Und der Gedanke kam ihm: Wie feig sie doch sein mußten, da sie es nicht wagten, einfach über die so unmenschlich Verhaßten herzufallen und sie alle niederzumachen ...

Er sah auf die Uhr und rief hastig ein Auto, das vorbeifuhr. Nun kauerte Amalie schon eine Viertelstunde auf dem Segelschlitten und wartete auf ihn, und der Wagen fuhr zwischen bereiften Kiefern, die in der Sonne schimmerten. »Amalie«, zitterte sein Herz, groß und dunkelfüßig ... An glitzernden Wiesen traten Villen mit roten Dächern aus blanker Himmelsbläue. Ganz hell und kühl war dieser Name: Amalie. Und strahlend wie die Welt, die sich da draußen um ihn drehte, um ihn, der zu ihr hinflog mit einem Klirren stählerner Flügel ... Die Züge der Stadtbahn schienen ein frisches Fell bekommen zu haben, so glatt und braun rollten sie in der klaren Luft, und die langen weißen Rauchwürmer waren von einer Sauberkeit, daß tausend Eisengel darauf hätten reiten können, ohne sich mit einem einzigen Rußfleck zu beschmutzen. Wo der Weg zum Wannsee abbog, stand Amalie im weißen Sweater und winkte dem Automobil entgegen.

Da komme er also richtig nur eine halbe Stunde zu spät. Sie danke auch sehr, sie habe sich bereits darauf eingerichtet, bis zur Dunkelheit zu warten, nur, um dann schnell mit ihm nach Hause zu fahren.

Ja, er käme von ihrem Bruder.

Na, und?

Der habe ihn hinausgeworfen.

So.

Sie dachte nach.

Ob sie einander auch sicher nichts angetan hätten? Ob der Junge mit den Beinen gestrampelt habe? Er strampele nämlich mit den Beinen, wenn er böse sei, nur, seitdem er lange Hosen trüge, sähe man es nicht so leicht. Nun?

Dann werde er wohl gestrampelt haben... Sie sah unsicher an ihm hinauf. Ja... Da werde es einen schönen Krach absetzen zu Hause.

Um Gottes willen! Daran hatte er noch gar nicht gedacht.

Eben. Man könne behaupten, daß er sich eher ungeschickt angestellt habe. Er da. Der Große.

Es sollte halt eine Überraschung werden.

Keine Sorge. Das werde es auch. Sie seufzte: »Dabei möchte ich so gern richtig Hochzeit machen, statt sündhafterweise durchzubrennen...«

Sie sausten auf dem Segelschlitten davon, dicht vor dem Wind.

Das Eis des Wannsees war blendend weiß, und überall hobelten die Kufen glühende Späne, die in der Luft auseinandersprühten.

Ein Schlitten wendete mit dem Wind und schlug krachend um. Es gab eine Ansammlung, sie sahen Leute winken und rufen, bogen aus, rasten lachend vorüber.

Arthur hielt das Steuer, und sie preßte ihn mit ihren dünnen Armen an sich, er fühlte ihren Atem im Nacken. Plötzlich schwemmte die untergehende Sonne Blutwellen über das Eis. Springbrunnen goldenen Blutes stiegen und fielen. Manchmal spritzte das Eis rot auf wie unter einem Dolchstoß. Langgedehnte Rufe zogen von einem Ufer zum andern.

Als sie den Schlitten abgetakelt hatten, saßen sie und sahen einander wortlos an. Aber manchmal stockte ihnen der Atem, und sie griffen fest ihre Hände, und manchmal nickten sie einander zu.

Schließlich:

»Nun steh doch auf!«

»Erst die Dame.«

»Dein Papa und Tante... wie heißt sie doch gleich...«

»Ida – langes ›i‹.«

»Also,... ich meine... Dein Papa und Tante Ida erwarten uns zum Diner.«

»So eil dich! Du mußt dich doch noch umziehen.«

»Muß ich? Wenn aber Fritz schon den Generalmarsch geblasen hat?«

»Schnell...«

3

Der Diener, der Amalie Hut und Mantel abnahm, behandelte sie gleich wie seinen besonderen Schützling. Er sagte nicht: »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, aber er flaggte ein diskretes Lächeln, das die große Freude seines Herzens andeutete, ohne darum gleich vertraulich erscheinen zu wollen. Und dann wurde sie behutsam weitergegeben und glitt zwischen weichflügeligen Erzengeln des Wohlwollens von Hand zu Hand bis zur kleinen rundlichen Brillantensammlung, die eine alte Dame, Arthurs Tante, ihr entgegenstreckte.

Es war ein reizendes Haus.

Alles glänzte in Verwandtenähnlichkeit, das tote und das lebende Inventar, Mensch und Tier. Die Diener glichen alle dem gnädigen Herrn, und der Mops hatte den angestrengten Zug um den Mund und die mürrische Behäbigkeit der gnädigen Frau. Amalie schien es, als ob sie die Frisur der Tante auf eben einer solchen Stirn schon einmal gesehen hätte. Aber wo? Vorn in der Garderobe, an der alten Kammerzofe, die sich schwatzhaft um sie bemüht hatte!

Die Gobelins an den Wänden, die Möbel und gar die Stühle – ja, die stammten wohl aus verschiedenen Jahrhunderten, aber man mußte schon hinschauen, um das festzustellen, man mußte sich ihnen boshaft nähern, sie brutal voneinander trennen, und dann war es, als ob man eine Familie sprengte, erinnerungsgetränkte Bande des Gemüts mit Vernunftgründen zerrisse, mit plumpen Füßen in die Intimität eines herzstillen Zusammenlebens hineinträte.

Sonst standen sie da, eng aneindergeduckt, und ließen die Gespräche rauschen. Manchmal tauschten sie verschlafene Blicke mit ihren Besitzern. Aber wenn jemand von der Familie sie in Anspruch nahm, wurden sie wach, ganz wach. Die Stühle zum Beispiel wirkten lebhaft mit. Sie beteiligten sich voll grimmigen Humors an der Unterhaltung. Da war ein Lutherstuhl, der lachte sich halb tot. Und ein Sessel, den Arthurs Vater selbstzufrieden ausfüllte, hielt den Bauch seines Opfers und markierte leise Schnarchtöne.

Als der Diener meldete, daß die gnädige Frau bedient sei, ging ein Seufzer der Erleichterung durch das Mobiliar, und der Mops schritt mit den gravitätischen Schritten seiner Herrin zu ihrer Rechten in den Speisesaal.

Bei Tisch erzählten die beiden Alten um die Wette, wovon die Bewohner des Tiergartenviertels am liebsten sprechen, von der Entwicklung Berlins und von ihren Glaubensgenossen, deren Tüchtigkeit sogar der Kaiser entdeckt habe. Von der Zeit, wo dieses ihr Haus noch am Ende der Stadt stand und an ach! so stillen Sonntagen Landpartien nach Wilmersdorf unternommen wurden. Dort, wo jetzt die Kaiserallee war, hatte der alte Manasse sich in einen großen parkähnlichen Garten ein Landhaus hingebaut und durch den Kauf anliegender Äcker ein schönes Besitztum hergerichtet – für weniger Geld, als ein gutes Automobil koste. Und plötzlich, hatte Berlin angefangen zu wandern. Über Nacht war Leben in die grauen Stadtviertel gekommen, sie hatten sich aufgemacht und waren nach Westen marschiert. Der alte Manasse hatte den ersten Ansturm auszuhalten gehabt, sein Haus wurde umzingelt und bekam zwei Renaissancevillen als Wachtposten. Aber die steinerne Invasion ließ hier nur ein paar kleine Paläste zurück, die sich schon im Wachsen mit dem Rücken gegen die großen, ungeschlachten Nachläufer stemmten, die hinter ihnen, vor ihnen, kilometerweit, in unübersehbaren Reihen ihr jungfräuliches Quartier bezogen. Und jetzt war es schon lange her, daß er das Wilmersdorfer Besitztum verkauft hatte und daß aus seinen Kohlbeeten Vierstöcker aufgeschossen waren.

»Ihr wißt nicht, was Berlin ist«, rief er, zu seinem Sohn gewandt. »Die alten Stadtteile kennt ihr nicht, und die neuen findet ihr langweilig. Ich kann stundenlang, bei Tag und bei Nacht, in den asphaltierten Straßen herumgehen und die neuen Häuser betrachten, die einander gar nicht so sehr gleichen, wie ihr glaubt. Ich sehe zu, wie weit sie gekommen sind, steige in den Neubauten die Treppen hinauf, die noch kein Geländer haben, wandere in den Zimmern, die der Bauschreiner mit einer Eile verputzt, als gelte es, eine Wette zu gewinnen – bis unters Dach. Und dort schaue ich durch die Sparren oder, wenn sie das Dach schon gedeckt haben, durch eine Luke ins Freie. Wiesen, Lauben, dahinter zwei, drei graue Gasometer, noch weiter rauchende Schlote und im Dunst ein Haufen Häuser und darüber ein weiter flacher Himmel: die schönste Landschaft, die ich kenne. Während ich so stehe, tauchen manchmal, gerade unter mir, ein Karren und eine Schar Arbeiter auf. Der Karren hält, die Arbeiter laden Schaufeln, Hacken und anderes Werkzeug ab, er fährt davon, sie stehen um einen Mann herum, der ihnen allerhand Anweisungen gibt, und dann beginnen sie alle auf einmal, an zehn, zwanzig Stellen, in der Erde zu graben. Wenn ich wiederkomme, stehn die Mauern, und das nächste Mal ist ein Pförtner da, der mir Wohnungen zeigt mit Fahrstuhl, Warmwasserheizung und -Versorgung, Vakuumreiniger und andern Herrlichkeiten, deren Betrachtung mich mit Stolz und Dankbarkeit erfüllt.«

Tante Ida schob, plötzlich entrüstet, den Teller zurück. Die Trüffeln waren wirklich zu hart.

»Bringen Sie das Fleisch«, murmelte sie mißgestimmt. Manasse warf einen Blick auf sie und rief begütigend:

»Tante Ida sagt auch immer, die Jungen sind Ausländer. Jawohl. Euch Jungen kann Berlin gestohlen werden. Ihr lebt hier wie in einem Hotel, und wenn ihr euch freuen wollt, reist ihr eher bis ans Ende der Welt. Uns dagegen interessiert nur Berlin und was Berlin hervorbringt. Wir leisten uns ja den Komfort der ganzen Welt! ... Und, wenn es gestattet ist, davon zu sprechen: Berlin ist auch mein Kirchhof. Irgendwo unter diesen Straßen und Häusern liegen meine Frau, meine Verwandten, meine Freunde begraben – nicht da draußen in den Großgärtnereien mit numerierten Wegen, wo wir uns nicht auskennen ...«

Die Tante drehte den dicken, gepuderten Hals. Sie schien hochmütig, aber das lag nur daran, daß sie stark geschnürt war und schlecht hörte.

»Ich – ich weiß nicht«, gurrte sie mit ihrer tiefen Stimme, »was ich außerhalb Berlins anfangen soll. An der Riviera wird mir schlecht vor Langeweile, und in Kairo, in Kairo zehre ich vom Anblick der Berliner, die aus den Hotelwagen herauskrabbeln. Aber, was soll man tun? Man reist.«

Arthur beugte sich zu Amalie: »Wohin reisen wir doch gleich?«

Sie sah die Tante groß an und sagte bekümmert: »Nach Westindien.«

Tante Ida verrenkte sich schier den Hals. »Wohin?« schrie sie.

Arthur und Amalie wiederholten zusammen: »Nach Westindien.«

Sie nahm ihr Lorgnon und blickte von einem zum anderen. Alle machten ernste Gesichter. Ihr Bruder, dem es schwerfiel, das Lachen zu verbeißen, lehnte sich zurück und suchte nach einem Brosamen an seiner Weste, den er wegschnellen konnte. Seine Glatze wurde röter und röter. Die alte Dame bemerkte es, und ihr Blick blieb lange darauf haften. Dann klappte sie das Lorgnon zusammen und murmelte: »Nebbich.«

Nun begannen alle drei schnell und laut über Westindien Dinge zu erzählen, von deren Richtigkeit sie nicht ganz überzeugt waren, die sich aber als stark genug erwiesen, die Verstimmung der alten Dame zu zerstreuen. Nun, es sei ja nicht ihr Geld, sagte sie mit einem dumpfen Blick auf die jungen Leute, ließ ihre Diamanten funkeln und zog sich nach einem gnädigen Gruß, den Mops zu ihrer Rechten, hinter einen schönen italienischen Gobelinvorhang zurück.

Der alte Manasse reichte Amalie den Arm und sagte: »Das war Tante Ida, und Sie werden sie nicht wiedersehen. Ihre Tochter ist in glücklicher Ehe mit einem Oberrabbiner verheiratet. Ihr Sohn hat sich, ganz jung, wegen einer Pariser Lebedame erschossen, die blonde Haare und blaue Augen hatte. Grund genug für Tante Ida, die Christen nicht zu lieben.«

Amalie blickte bestürzt auf.

Der alte Manasse lächelte:

»Gewiß, das gibt es auch – und Sie werden zugeben, daß sich Tante Ida mit Recht auf ihre Erfahrungen berufen darf« – und Arthur schloß: »Wie ihr euch so gern auf eure Erfahrungen mit uns beruft.«

»Ihr?« fragte Amalie leise. Sie schlug den Blick nieder aus Furcht, daß Arthur sie jetzt ansähe. Denn sie fühlte, im tiefsten gekränkt, einen Abgrund zwischen sich und den beiden Männern, sie kam sich hier fremd vor, fremd und von Fremden mit Mißtrauen überwacht ...

Schnell nahm Arthur ihre Hand, denn sie hatte trotzig den Kopf gehoben, und zog sie hinter sich her, durch Zimmer und Gänge, bis in sein Zimmer. Dort stellte er sie unter den Kandelaber, nahm ihr Gesicht in die Hände, tauchte seine Augen in die ihren, die sie ganz klein und dunkel im grauen Spiegel der seinen sah:

»Tipp-topp!« rief er zärtlich und drohend, »wenn du dich unterstehst!«, und sie antwortete: »Ich will mich nie wieder unterstehen.« Dann lagen sie umschlungen und sagten einander zitternd, daß sie zusammenhalten wollten, gegen die ganze Welt.

Um zehn Uhr fuhr Arthur seine Braut nach Hause. Er stieg mit ihr aus und begleitete sie bis an die Haustüre, und hier trat das Ereignis ein, das der kleinen Liebesgeschichte die jähe Wendung ins Tragische gab. Arthur wollte gerade mit Amaliens Schlüssel die Tür öffnen, sie sprang an ihm hinauf, um ihm zum Abschied zu küssen, da wurde von innen die Tür aufgezogen, und Fritz trat heraus. Zuerst schien er erstaunt, den beiden zu begegnen, er griff verlegen zum Hut, aber dann hob er die Hand und schlug Arthur mitten ins Gesicht. Einen Augenblick stand Arthur barhäuptig mit hängenden Armen und kauenden Kiefern über Fritz gebeugt, der einen Kopf kleiner war als er. Dann stürzte er sich über ihn, hob ihn auf und schleuderte ihn von sich, und als der andere sich aufgerafft hatte und gegen ihn anstürmte, stieß er Amalie, die sich an ihn hängte, heftig mit dem Ellenbogen zurück und streckte ihn mit einem Faustschlag nieder.

Menschen kamen angelaufen und umringten sie. Zwei Männer balgten mit Fritz, der sich wieder erhoben hatte und die Straße mit seinem Gebrüll erfüllte. »Feigling«, schrie er, »Feigling!« Er fand nichts anderes.

Amalie lehnte zusammengesunken an der Haustür und sah mit großen, starren Augen auf ihren Bruder, der sich zu befreien suchte. Er sprang gegen Arthur an wie ein Hund an der Kette, ihr schwindelte, und als Arthur sich ihr näherte, warf sie ihm einen entsetzten Blick zu und flüchtete in den Hausflur, die Treppen hinauf, und da sie hier auf ihre Mutter stieß, wieder die Treppe hinunter, in den Flur, wo sie erschöpft in einer Ecke stehenblieb,, Ihre Mutter sprach begütigend auf sie ein ... sie hörte nur auf den Lärm draußen, und als der sich gelegt hatte und die Leute auseinandergegangen waren, hob sie den Kopf und fragte lächelnd, ob ihr Vater zu Hause sei. Die verneinende Antwort schien sie vollends zu beruhigen. Sie legte den Arm um die Hüften der Mutter und stieg langsam mit ihr die Treppe hinauf, und jedesmal, wenn der Blick der Mutter sie unruhig ausforschte, zeigte sie ihr volles Gesicht und lächelte sie geduldig an.

Sie brachte die Mutter ins Bett und schloß sich darauf mit dem Kursbuch in ihr Zimmer ein. Sie schrieb Arthur, daß er das Nötige besorgen solle, damit sie beide am Abend des folgenden Tages abfahren könnten, sie werde zur festgesetzten Stunde mit ihrem Gepäck am Bahnhof sein.

Nachdem sie den Brief zum nächsten Kasten gebracht hatte, begann sie die Sachen, die sie mitnehmen wollte, stapelweise in. die Dachkammer zu tragen, wo die Koffer untergebracht waren, verpackte sie mit viel Sorgfalt, schloß die Koffer ab und legte sich schlafen.

 

Indes lief Arthur, noch immer barhäuptig, durch die Straßen Charlottenburgs, am Bahnhof Zoologischer Garten vorbei, durch den Tiergarten. Er verirrte sich und setzte sich auf eine Bank. Hier kam ihm endlich zum Bewußtsein, daß niemand ihn verfolgte, und die Angst verließ ihn.

Er hatte angefangen zu laufen, als er sah, wie Amalie vor ihm floh, die Panik hatte ihn erfaßt, er hörte einen Lärm, als ob die ganze Stadt hinter ihm her sei, er glaubte, es ginge auf Tod und Leben. Es war kein Laufen mehr gewesen. Die Angst, daß sie ihn packten, hundertarmig, ihn niederträten mit hundert trampelnden Füßen, aus einem Chaos aufgerissener Mäuler schreiend, hielt ihn mit eisigem Griff hinten im Kreuz und trug ihn, über den Boden, durch die Luft.

Und jetzt saß er da ...

Wie schön, allein zu sein in dieser Stille. Keine Menschen. Nacht. Helle, wohlwollende Sterne. Er zählte Geld in der Manteltasche.

Keine Menschen.

Doch da, aus einem goldgelben Dunst, in dem Wagen und Menschen und. Tiere, Knäuel schwitzenden Lebens, wogten, stieg ein stilles, weißes Gesicht und kam lächelnd auf ihn zu. Abraham Levy aus Marseille. Er hatte einen langen grauen Bart und gedrehte Locken an beiden Schläfen.

Ja, das war sein Freund. Auf den konnte er sich verlassen ...

Arthur fühlte sich fröhlich werdend, es kroch warm, mit kleinen, köstlichen Schauern, an ihm hinauf: Weißt du noch? sagte er und strich über die Hand des Alten, die ein harter Haufen Runzeln war, den die Sonne gewärmt hatte. Weißt du noch, wie ich an einem wundervollen Sommerabend vor deinem schiefen einstöckigen Haus stand und deine schmutzige Auslage von alten Kleidern, rostigen Bajonetten und bunten Glasperlen anstarrte? ... Gott, ging es mir schlecht ... Ich wollte dir meine Kleider verkaufen, die, die ich am Leib trug, denn die andern hatte die Wirtin als Pfand zurückbehalten ... Du solltest mir dafür eine alte Kluft und ein Silberstück geben ... Du sahst mich an und lächeltest so seltsam und sagtest plötzlich etwas, was ich nicht verstand, weil es Jiddisch war. Du stutztest, sahst mir wieder in die Augen und auf den Mund und batest mich dann einzutreten. Fragtest, woher ich gekommen sei.

Aus Berlin ...

Nicktest.

Wo ich mein Geld gelassen habe ...

In Paris.

Nicktest wieder, diesmal mit glänzenden Augen: »Frauen!« sagtest du, im Tiefsten heiter, über alle Maßen verständnisvoll ... Ja, die Art, wie du den Lippenlaut von femmes aussprachst, beruhigte mich fast ... Und was ich in Marseille wolle? Ich wußte es selbst nicht und hatte mir die Frage nie vorgelegt. Aber jetzt dachte ich nach, und als ich lange nachgedacht, die ganze Zeit bedacht hatte, von der Ohrfeige im Kasernenhof bis zum Aufsuchen eines möblierten Zimmers in Marseille, da fand ich nichts andres als eine Menge Gefühle von Angst und Hoffnung, die ich in dem Wort ›Verschwinden‹ zusammenfaßte. Man sollte mich nicht mehr kennen! Ich wollte mich nicht mehr verteidigen, nicht mehr lachen und glänzen und mich um tausend unnütze Dinge kümmern müssen ...

Ruhe ... Sicherheit ... Ich wollte nicht mehr da sein ...

Arthur sah sich auf dem Strohstuhl in dem niedrigen Zimmer, das von Schmutz starrte. Gegenüber saß Abraham Levy, dessen reiner Kopf im Zwielicht, wie ihm schien, ziemlich weit entfernt, vor ihm leuchtete. Abraham Levy schwieg, aber er hüllte ihn, hartnäckig lächelnd, in eine Wolke bohrender Gedanken. Arthur wandte den Kopf hin und her und wollte nichts davon wissen.

»Du bist reich gewesen«, sagte der Alte, »reich! ... reich! ...« Er wiederholte ein paarmal das Wort, ergriffen und auch, als preßte er eine frische Feige zwischen den Zähnen aus, und sein Blick ging über Arthur hinweg, weit fort, und nun hatte er ein Gesicht, als weide er sich an einem Rachegedanken.

»Aber«, fuhr er endlich fort, »warum solltest du nicht auch einmal so arm sein wie die meisten von uns und wie deine Väter waren ... Versuch's!«

Und Abraham Levy ließ ihm nicht nur seinen guten Anzug, sondern er kaufte ihm auch noch frische Wäsche und Lackschuhe, damit er aussähe wie ein Kavalier, und begann einen Handel mit leichtfertig bemalten Postkarten, die Arthur in den Kaffee- und Speisehäusern feilbot. »Fordere so viel, wie du meinst, daß du bekommst«, sagte Abraham Levy. »Du wirst mich nicht betrügen.« Jeden Mittag trafen sie einander in einem Wirtshaus an der Ecke von Levys Gasse, aßen eine koschere Suppe und teilten den Reingewinn. Am Abend speiste Arthur manchmal in besserer Gesellschaft. Aber die Hauptgeschäftszeit war nachts.

»Junge, du könntest reich werden«, rief Abraham Levy manchmal bewundernd aus, wenn Arthur ihm sein Teil einhändigte.

Aber der hütete sich, reich zu werden. Sobald er einige Francs zusammen hatte, verschenkte er sie schnell an arme Mädchen, die erstbesten, die ihn anbettelten. Deshalb dauerte es auch nicht lange, und Abraham Levy schränkte den Anteil seines Agenten auf ein Drittel ein, dann auf ein Viertel und noch weniger, und schließlich stellte er ihn fest an mit der Verpflichtung, die gesamten Einnahmen abzuliefern.

»Du wirfst das Geld zum Fenster hinaus«, sagte er, und Arthur mußte ihm recht geben.

»Iß und schlafe bei mir«, schlug Abraham Levy vor, »dann brauchst du überhaupt kein Geld, und es geht nichts verloren.«

Auch damit war Arthur einverstanden, ja, ihm schien, er sei erst jetzt befreit, wo ihm auch die letzten Sorgen, die Sorgen um Essen und Unterkunft abgenommen waren.

Aber! ... Aber! ... Es war natürlich zu schön, und eines Nachts stieß er in einem Restaurant auf einen Berliner Bekannten und erkannte ihn erst, als es zu spät war. Jemand reichte ihm zwanzig Francs für eine Postkarte und lachte schallend, Arthur blickte erstaunt auf und ergriff die Flucht vor zwei Händen, die sich ihm entgegenstreckten ... Er weckte Abraham Levy und sagte, daß er fort müsse, sonst kämen sie und holten ihn. Es zeigte sich, daß Abraham Levy einer Veränderung nicht abgeneigt war und schon lange mit dem Gedanken umging, sein Glück auf breiterer Basis in Paris zu versuchen.

Paris wimmele von Bekannten, versicherte Arthur, der im übrigen schwor, Abraham Levy überallhin zu folgen, überallhin, wo keine Berliner seien. Da aber Abraham Levy hinwiederum der Meinung war, daß überall auf Gottes Erdboden Berliner hinkämen, konnten sie sich nicht schnell genug einigen, und acht Tage später wurde Arthur am hellen Mittag, als er aus der Tür trat, um Essen für die Familie Levy einzukaufen, von seinem Freund Kreuzer abgefaßt. Der drang, von zwei borstigen Halbtieren, Marseiller Detektiven, begleitet, in das Haus und schob Abraham Levy mit einem Puff neben das Fenster an die Wand, als wollte er ihn dort in aller Bequemlichkeit niederschießen. Vorläufig begann er, in wirkungsvollem Abstand und im Bogen, wie ein Vulkan Beschimpfungen auszuspeien ... ein Phänomen, das die beiden fremdländischen Begleiter stumm und mit sichtlicher Ergriffenheit anstaunten.

Arthur legte den Kopf noch mehr in den Nacken und lächelte zu den Sternen ...

Abraham Levy ... Nun, alles, was recht war – er benahm sich sehr würdig. Er drückte sich in die Ecke und sagte ruhig:

»Mein Herr, wir sind hier nicht in Preußen.«

Sonst nichts. Aber wie entschlossen.

Das Donnern eines neuen Ausbruchs deckte seine Stimme zu. Abraham Levy erklärte nun ununterbrochen: »Ich bin französischer Staatsbürger«, so lange, bis der Satz endlich in einer Pause laut und hoch erklingen konnte, und dieselbe erhabene Stille benützte Arthur, um sich einzumischen. »Ich verbiete dir«, flüsterte er, seine Stimme schnurrte heimtückisch, drohend ging er auf Kreuzer zu. Er war richtig böse ...

Und, mein alter Abraham, ich war erwacht. Ich höre noch dein leises Gelächter hinter mir, als der verdutzte Kreuzer seine großen blauen Augen rollte und zögernd einen Schritt zurücktrat. »Adieu«, sagte er und drehte sich auf den Absätzen um: »Pack!« Es dauerte lange, bis ich ihn versöhnt hatte. Er mußte viel. trinken, bevor er es über sich brachte, mich kraftvoll in die Arme zu schließen. Ich aber war wieder ein Herr. Ich nahm ihm Geld ab, telegraphierte, bestellte Zimmer im Hotel, lächelte Frauen an, von oben herunter mit gebeugtem Kopf, fühlte meine Glieder in der Menge und sah die Sonne über dem Hafen. Wie gern wäre ich jetzt Dragoner gewesen! Und auf irgendeinem kriegerischen Zug. Ja, der Krieg erschien mir als eine blitzblanke Freude. Da fühlte man sich doch wenigstens leben! Der Krieg, dachte ich: das einzige im Leben, was zugleich todernst und unbändig heiter ist ...

Mein Abraham! ... Adieu!

Ich führte dich noch zwei Stunden im Wagen spazieren, und Kreuzer mußte gegenübersitzen und stillhalten. Ha, du genössest deinen Triumph über diesen blonden Teufel von einem Goi ! ... Fast wärst du zu stolz gewesen, den Wechsel zu nehmen, den ich dir zum Abschied reichte. Doch, doch! Ich mußte flehentlich bitten, erinnere dich, und erst, als du die vierstellige Zahl sahst, liefen Tränen über dein großes weißes Gesicht, du konntest nichts sagen als: »Paris.«

Arthur erhob sich und ging hastigen Schrittes weiter. An der Hofjägerhalle blieb er stehen und wartete, bis ein leeres Automobil vorbeikam. Er ließ sich durchs Brandenburger Tor, die Friedrichstraße hinunter, über die Leipziger Straße nach Hause fahren. Das tat gut, durch das viele Licht, den Lärm, die drängenden Menschen zu jagen. Das Rattern des Motors drang lindernd bis ins Herz. Die Sprünge des Wagens rührten Grundwellen von Angst auf, ein Gefühl von Notwehr weckte die Energie, die Geschwindigkeit machte beherrscht und sicher. Fliegende Festung, dachte Arthur. Wir leben alle in unseren Festungen aus Gold und Klugheit und Geduld, ewig in der Abwehr, selbst wenn wir angreifen. Nein, es war kein Vergnügen und so über alle Begriffe langweilig! Immer dasselbe! Immer dasselbe! Wo man sich umdrehte, wo man hintrat. Überall derselbe heimtückische Blödsinn.

Zu Hause traf er Kreuzer, der mit seinem Vater Karten spielte. Arthur setzte sich zu ihnen und sah zu. Als er schwieg, knurrte Kreuzer etwas und schob ihm sein Glas hin:

»Trink«, befahl er, und Arthur, der keinen Wein vertrug, hatte kaum das Glas geleert, da begann er mit müder Stimme, zuerst lächelnd, als ironisierte er sich selbst: wie schön es sei, arm und verkommen zu sein und Ruhe zu haben unter den Niedrigsten, von denen niemand mehr verlangte, als daß sie aus dem Wege gehn ... Die Niedrigsten allein waren gut, weil sie zufrieden waren ... Sie allein verstanden zu schenken, weil sie nichts brauchten als eine Suppe und zwei Stück Brot und alles andere, was ihnen zufiel, zum großen Überfluß gehörte ... Sie allein kannten das Glück, weil sie nichts erwarteten und jede Duldung sich wie eine unermeßliche Gnade auf ihr demütig gebeugtes Haupt legte ...

»Du redest wie ein Hofprediger«, sagte der alte Manasse, der im Gewinn war. Kreuzer aber faßte einen Entschluß, warf die Karten fort und wandte sich zu Arthur.

»Was ist los?« fragte er. Und sanft weinend breitete Arthur seinen ganzen Jammer vor ihm aus. Der Alte war aus dem Zimmer geschlichen. Sosehr er Kreuzer vertraute, es kränkte ihn, daß sein Sohn vor dem da weinte ... Je mehr er's überdachte, desto aufgeregter wurde er. Er mußte Hut und Mantel nehmen und ein wenig spazierengehn.

Es war unheimlich. Der Junge konnte plötzlich losgreinen ... Das hatte er von seiner Mutter, bei der man auch immer hatte befürchten müssen, daß ihr hellstes Lachen in ein Schluchzen umschlüge. Hauskatzen! Nervenbündel!

Der alte Manasse fand, daß derartige feine Eigenschaften bei blonden Prinzessinnen besser aufgehoben wären.

Am andern Morgen suchte Kreuzer Fritz Kleinschuh auf. Arthur und Amalie erwarteten ihn in einem kleinen Zimmer bei Dressel, wo sie frühstückten.

Sie sprachen aufeinander ein, aneinander vorbei.

Nein, er konnte nicht mit ihr fort, sagte Arthur heftig, nein – jetzt – konnte er nicht mehr.

Was kümmerte ihn ihre Familie ... Fritz? Amalie legte die Hand auf seine Schulter ... Ließ sie nicht auch alles hinter sich? ... Sie kannte nur ihn! ... Sie wollte nur ihn!

Sie sprach ruhig und sah ihn mit ihren überhellen Augen an.

Bitte nicht, sagte er. Bitte! Und nach einer Weile, als ihr plötzlich ratlos gewordener Blick zu ihm irrte: Sie müßten durchhalten.

Sie nickte tapfer, und ganz leichthin fragte sie: Warum schoß er sich nicht einfach mit ihm?

Sich schießen? Entweder er traf Fritz, oder Fritz traf ihn: Beides wollte er nicht.

Das sah sie ein. Aber ob er sich nicht duellieren würde für den Fall, daß er sicher wäre, ihren Bruder nur zu verwunden ... Sie war ein wenig blaß und hielt sich mit einigen hastigen Bewegungen aufrecht.

Wie sollte er sicher sein? ...

Oder wenn keiner verwundet würde? Das ließe sich vielleicht einrichten, fügte sie schnell hinzu.

Da wurde er böse: Solch ein Schwindel! Nach dem, was geschehen war! ... Übrigens, was würde es nützen? Fritz führe fort, ihn zu quälen, wie er Fritz kenne.

Ja ... und was dann? Und nun zeigte sie ihm, fassungslos, ihre ganze Angst. Sie sank in den Stuhl zurück und starrte ihn mit offenem Munde an.

»Willst du mich ...«, begann sie.

Er rief gequält: »Nein, nein!« und zog sie an sich: »Ich lasse dich nicht im Stich. Alles, alles, nur nicht jetzt mit dir fliehen, versteh doch: jetzt! Nein, so feig kann ich nicht sein ...« Da trat Kreuzer ein. Er habe, sagte er, ein wenig zu laut, Fritz nicht angetroffen.

Amalie hörte, daß er log. Sie wollen allein sein, dachte sie, und verabschiedete sich unter einem Vorwand. Als sie die Tür geschlossen hatte, überwand sie die Versuchung, stehnzubleiben und zu lauschen, und im selben Augenblick wurde ihr klar: Kreuzer und Fritz werden sich schießen. Einer von beiden ... Und sie dachte schnell an etwas anderes und seltsamerweise an Trimpopp. Nun strengte sie sich an, nur Gedanken über Dr. Karl Trimpopp zu haben, und zu Hause angelangt, schrieb sie ihm. Er scheine gekränkt zu sein, da er so lange nichts mehr von sich habe hören lassen. Sie wäre unglücklich, wenn er sie derart mißverstanden hätte, und sie bäte ihn herzlich, nächsten Sonntag zum Tee zu kommen. Und während sie das Kuvert schloß, fuhr sie halblaut fort: Bis dahin bin ich entweder auf und davon, oder mein Leben ist verpfuscht, und ich kann von vorn anfangen ...

Als Trimpopp sich zur festgesetzten Stunde einstellte, wurde er nicht empfangen. Am Tage vorher hatten Fritz und Kreuzer ein Pistolenduell ausgetragen, und beim zweiten Kugelwechsel war Fritz getötet worden. Kreuzer hatte zwar Arthur feierlich versprochen, in die Luft zu schießen. Fritzens Kugel war ihm aber so nah am Ohr vorbeigesaust, daß er es vorgezogen hatte, den offenbar allzu ernsthaften Absichten des anderen zuvorzukommen. In derselben Nacht reiste Arthur ins Ausland. Sein Weg ginge abwärts, schrieb er Amalie, und er wollte sie nicht mitnehmen. Ihre Liebe sei die brennende Freude seines Lebens gewesen, er fände es natürlich, daß sie nun über ihm zusammenschlüge. Er wollte versuchen, als Salamander weiterzuleben ... Glücklicher könnte er nicht werden als jetzt, wo er stark genug gewesen sei, mit diesem Verzicht sein verfehltes Dasein aufzuheben und von sich zu werfen.

 

Kreuzer bekam Festungshaft. Anfangs gefiel es ihm recht gut, weil er zum ersten Male die Muße fand, Bücher Zu lesen und lange Briefe zu schreiben – er überraschte damit sogar Schulfreunde, an die er jahrelang nicht gedacht hatte. Aber als der Reiz der Neuheit vorbei war, zogen Tage furchtbarer Untätigkeit herauf, denen er sich durch die Flucht entzog.

In Brüssel traf er mit Arthur zusammen, der im Begriff war, sich für die französische Fremdenlegion anwerben zu lassen. Kreuzer, gleicherweise berauscht von Arthurs fahler Entschlossenheit und von der Aussicht auf das unerwartete Abenteuer, schloß sich ihm an.

»Endlich«, sagte Arthur, »gelange ich ins Freie. Es wird Kampf sein, ich werde alles vergessen, womit diese überaus zivilisierten Menschen zu Hause einander bis aufs Blut quälen. Jetzt, Karl, denke ich, wird ›nur das Herz noch gewogen‹ – nicht wahr?! Ich bin ebenso tapfer wie sie. Ich kann ebenso Krieg führen wie sie – und das ist ihre einzige Überlegenheit: Zu kämpfen, brutal zu kämpfen ... Wie ich mich freue, den Tod zu rufen, ihn leibhaftig vor mir zu haben und mich gegen ihn zu werfen! Das ist doch ein Feind, der sich greifen läßt, der sich besiegen läßt, wirklich und unwiederbringlich besiegen, aus der Welt schaffen ...«

Kreuzer lachte:

»Paß auf, alter Makkabäer, es gibt einen Mordsspaß!«

4

Trimpopp kam wieder. Er kam oft. Abends holte er Amalie zu kleinen Spaziergängen ab, an freien Nachmittagen fuhren sie mit dem Vollringzug um Berlin. Sie faßte eine demütige Zuneigung für ihn, den sie so mißhandelt hatte, bevor sie selbst gefallen war. Seine kleine, hilflose Nase, auf der ein großspuriger Kneifer ritt, sah sie so lange an, bis sie eine gutmütig spaßhafte Sympathie für sie empfand. Den pedantischen Spitzbart, dessen Anblick ihr früher ein Frösteln verursacht hatte, betrachtete sie mit mütterlichen Augen, ja, sie entdeckte einen strengen, einsamen Leidenszug an ihm: Wenn es Beamte des Schmerzes gäbe, dachte sie, dann trügen sie einen solchen Bart, und ihre Augen schillerten gewiß auch so violett, wie von einem plötzlich ausbrechenden, aber unendlich demütigen Wahnsinn.

Trimpopp aber liebte sie, wie er nicht aufgehört hatte, sie zu lieben, seitdem er aus dem kurzen, bitterbösen Traum erwacht war, wo er sich nur immer geschlagen und entehrt sah und ausgestoßen aus der Menge tätiger, aufstrebender Männer. Er hatte sich damit abgefunden. Er hatte Verzicht geleistet. Aber sie blieb das Ziel, der Höhepunkt einer langen, großen Anstrengung. Es ging einen steilen Weg hinauf, durch Unterholz und Baumstämme, die so dicht standen, daß er sich mühselig durchzwängen mußte, über wackelige Felsblöcke, die es auf den Knien hinaufzuklettern galt, durch Hohlwege wie Kloaken, über feenhaft helle Lichtungen wieder ins Halbdunkel, das von Todfeinden wimmelte, immer höher, und je höher er kam, desto leichter wurde der Aufstieg, und ganz oben, auf der sonnigen Höhe seines Lebens, stand Amalie und erwartete ihn – ein weißes Dornröschen unter dem endlos blauen Himmel, lang ausgestreckt auf einer grünen Wiese, von wehenden Sonnenflächen umglitzert, den Tennisschläger neben sich.

Er wußte nicht genau, ob es wirklich Amalie, Amalie Kleinschuh, gerade sie und keine andre war. Aber sie hatte ihre Züge, ihr Haar und ihren Wuchs. Sie war schön. Sie war reich und klüger als andere Frauen.

Und dort hinauf wollte er...

Dort hinauf mußte er...

Hinauf, nur hinauf!...

Er mußte reich, das heißt mächtig werden, seinen Unternehmungsgeist beweisen, kühn sein und von Überlegenheit in der entscheidenden Minute. Reich sein, um sich stark zu fühlen, reich, um grundfröhlich zu sein. Und dann wieder hart und ernst, wie Feldherren in der Schlacht.

»Sie, verehrtes Fräulein, kennen von Berlin die innere Stadt, die Läden der Linden und der Friedrichstraße, die zahllosen und gewiß einträglichen Geschäfte, die sich, Haus an Haus, ein Stockwerk über dem andern, die Leipziger Straße hinunter, über den Alexanderplatz bis zum Friedrichshain, aneinanderreihen – wenn Sie jemals so weit gekommen sind... Immer habe ich diese Budiken angesehen und die Firmenschilder studiert und den Mietpreis und die Spesen überschlagen, womit jede der Unternehmungen belastet ist, und nie konnte ich begreifen, wie sie bestehen, geschweige denn, wie sie gedeihen können...

Das bedeutet so viel, daß ich nichts davon verstehe, vielmehr, daß ich für diese Art Betrieb vollkommen ungeeignet bin. Das Risiko des Wiederverkäufers erfüllt mich mit Schrecken. Dagegen hat die Fabrikation, jede Fabrikation mein volles Vertrauen... Ja, wie soll ich Ihnen das erklären? Es liegt mir wahrscheinlich im Blut. Sie können sich nicht denken, wie genußvoll, ja aufregend diese Fahrten auf dem Vollring sind, an denen Sie jetzt teilnehmen. Der Anblick all dieser ungeheuren Fabrikhöfe, die Berlin wie einen Ring umschließen, entzückt mich geradezu. Und denken Sie nur, das hat mein Vater alles wachsen sehn, eins am andern, eins hinter dem andern... Als er starb, reichten sie schon bis in den Horizont – und sie wachsen weiter, täglich, unaufhaltsam... In ganz Deutschland schießen sie wie Pilze aus dem Boden und legen sich im weiten Bogen, in tausend Kilometer tiefem Bogen um die großen Häfen, vor das Weltmeer.

Sprechen Sie nicht von Arbeit... Dies ist nur Mittel zum Zweck... und um so schwerer, je lebhafter die Phantasie ist, die dahintersteht. Der Zweck aber: Geld, Geld, Macht... vom Leben wissen, indem man es beherrscht!

Glück?... Man muß fähig sein zum Glück, nicht wahr? Und Kraft ist Geld – für mich, für jeden an meinem Platz!... Ich – verzeihen Sie, wenn ich etwas sage, was Ihnen vielleicht gemein erscheint – aber ich!... ich werde ein Halbgott sein, sobald ich Geld habe! Meine Kräfte werden sich verzehnfachen, mein Herz wird Sonne und Mond sein, und noch im Schlaf werde ich mich als einen Acker fühlen, in dem die Saat aufgeht, und als einen Baum, der Früchte trägt...«

Amalie konnte nicht anders, als den kleinen Teufel ihr gegenüber bewundern, dem grelle Flämmchen aus den Augen, über den Rand des Kneifers züngelten und dessen Bart zu knistern schien, wenn er hastig daran zog.

Und sie fragte:

»Haben Sie schon einen Anfang gemacht... reich zu werden?«

Er tat ihr leid, sie wußte nicht, warum, es war keine Ursache vorhanden, aber er tat ihr leid, sie fühlte ein schmerzhaftes Mitleid in allen Nerven.

»Ich habe begonnen«, antwortete er mit Bestimmtheit. »Ich stehe in Verbindung mit einer chemischen Fabrik. Im Rheinland. Ich will in die chemische Industrie. Chemie ist ja mein Fach. In acht Wochen, denke ich, bin ich soweit.«

Sie sagte, fast unterwürfig: »Sicher, Herr Doktor!«

Ob er ihr heute erlauben würde, von Arthur zu sprechen? Manchmal schwieg er hartnäckig, wenn sie von diesen Dingen anfing: Arthur, der Fremdenlegion, dem Auswärtigen Amt, das deutsche Fremdenlegionäre befreien konnte, und allerhand Geldgeschichten, die sich darum drehten, daß sie nach Marokko fahren wollte, um bei Arthur zu leben oder um ihn loszukaufen – schwieg er, nicht aus Bosheit, wie er ihr versichert hatte, nur, weil er dann von seinen eigenen Plänen erfüllt und erregt war... »Der alte Manasse«, sagte sie plötzlich, »will mir kein Geld geben. Er will mir einfach kein Geld geben.«

Trimpopp schoß eine lange Flamme über den Kneifer.

»Natürlich«, nickte er.

Sie fuhr fort:

»Und mein Vater – Sie wissen ja. Er wird immer frömmer und quält Mama und mich, daß wir in die Kirche gehen sollen. Er sagt, sonst melde er lieber gleich Konkurs an. Der Zusammenhang ist mir nicht ganz klar, aber es scheint, daß er den Himmel fürchtet.«

»Wahrscheinlich«, nickte Trimpopp.

Es war eine schlimme Zeit. Für alle. Trimpopp war kleinmütig geworden.

»Geld«, stöhnte Amalie lächelnd. »Geld! Geld!...«

Es wurde Frühling, und Trimpopp durfte mit Amalie Tennis spielen. Sie hatte ihre Bekannten durch den diskreten, aber ebenso wachsamen wie wehrhaften Schutz, den sie Trimpopp angedeihen ließ, gezwungen, ihn ohne Spott in ihrem Kreis zu dulden, ja, sie ging noch weiter. Sie wehrte sich kaum gegen den Verdacht, daß sie eines Tages das medizinische Studium aufgäbe und Trimpopp schnell entschlossen die Hand reichte. Man sagte es ihr, und sie antwortete mit ihrem verwirrend hellen Blick: »Wer weiß? Ihm oder einem andern – Fräulein Doktor werdet ihr mich jedenfalls nicht zu nennen kriegen.«

Trimpopp wurde zwar kein guter Spieler, aber dadurch, daß Amalie ihn immer zum Partner nahm und für ihr eigenes Spiel erzog, befestigte sie sein Selbstvertrauen und bewies den andern seine Nützlichkeit auf dem Tennisplatz. Der kleine Doktor wurde Tipptopps Partner. Sie machte ihm vor, wie er sich zu benehmen hatte, und in der Tat wuchs er langsam aus den Gelenken, lernte er gehn und stehn, ohne sich mühsam und feierlich an den Ecken vorbeizudrücken, von denen die Welt voll war, und das Bewußtsein, reich und dadurch leicht zu werden, ja wahrscheinlich noch reicher, noch mächtiger als seine neuen Bekannten, verlieh ihm eine gewisse gediegene Überlegenheit, die Amalie, ewig beifallsfreudig, mit Blumen bewarf und die manchmal sogar recht vorteilhaft vom allzu lebhaften Leichtsinn seiner Umgebung abstach.

So gingen die beiden in Wochen und Monaten nebeneinander und standen einander leidenschaftlich beobachtend gegenüber: Manchmal überraschte der eine in den Augen des andern einen Blick, vor dem beide erschraken. Dann schlossen sie einen kurzen Waffenstillstand – und begannen von neuem.

Trimpoppchen, Trimpoppchen! dachte sie. Du meinst, wir paßten jetzt schon besser zusammen, wie? Und fühlst dich langsam in den würdigen Bräutigam Tipp-topps hineingewachsen?... Nur weißt du nicht, ob das mit meinem Willen oder gegen meine Absicht vor sich geht – nicht wahr? Das möchtest du zu gern erfahren!... In gewissen Augenblicken erhabener Verwirrung fragst du dich sogar, ob ich mir überhaupt Gedanken darüber mache. Vielleicht gewöhne ich mich nur an dich, wirst du mir unentbehrlich, ohne daß ich es merke. Wie? Ist es nicht so? Einmal redest du dir das ein, dann wieder das andre. Es ist tragisch, daß du dir immerfort etwas einreden mußt. Du hypnotisierst dich in alle Stimmungen und siehst nie etwas, absolut nichts. Du bist ein lieber, kleiner Maulwurf. Rutschst mit dem kleinen verschwärmten Glorienschein durchs Dunkel unermeßlicher Träume... Trimpoppchen! Oft fürchte ich allerdings, du könntest plötzlich explodieren, aber das ist wohl nur das Gran Neurasthenie in dir. Der Dampf pfeift dir aus allen Poren, du bist, Gott sei Dank, mit Sicherheitsventilen bedeckt, daher kommt es nie zur Explosion... Uff! Wie du mich wieder mit deinen X-Strahlen durchleuchtest... Aber ja, glotz doch nicht so, ich bin dein aufrichtiger Freund! Ich könnte viel für dich tun. Dir helfen, eine Frau zu entführen, unter Greuel- und Schandtaten – bei meiner besten Freundin würde ich für dich werben mit Engelszungen...

Amalie, spricht der andere jetzt Tag und Nacht zu sich selbst: dich will ich. Um jeden Preis. Früh oder spät. Ich kann warten. Tu unterdessen, was dir beliebt.

– Was meinst du, Trimpoppchen, was ich im Schild führe? Warum ich nicht mehr von Marokko spreche? Der Name Arthur nicht mehr über meine Lippen kommt? Nun?

– Oh, ich weiß, du bist imstand, mich zu heiraten, um sofort mit dem Geld deines Vaters durchzubrennen. Aber erstens... Zweitens habe ich Zeit. Ich kann warten.

– Es wird in diesem äußersten Fall nicht schnell gehn ... bis ich Geld in die Hand bekomme, ich versteh dich schon, mein Freund. Du hast recht, hundertfach recht, alle deine Chancen bei mir auszunutzen, alle.

– Und dann gibt es Zufälle, Amalie, Unglücksfälle, die für andere Glücksfälle sind. In Marokko ist es heiß, es wird viel geschossen und gestochen.

– Die gibt es, Trimpopp. Leider. Jeden Tag kann es geschehen sein. Und deshalb, deshalb, Trimpopp, deshalb muß ich mich beeilen!

– Ich habe Zeit. Ich kann warten.

Sie gehen nebeneinander und lauschen vergrübelt auf Frage und Antwort des stummen Dialogs.

– Trimpopp, eins kann ich nicht: tun, als ob ich dich liebe. Daß ich eine Vernunftehe mit dir einginge, eine Sympathieehe – ja! Aber ich küsse dich nicht in deinen Bart, wo dein Mund ist, und wenn die Welt zerspränge, wenn Arthur vor meinen Augen geschunden würde, wenn ... Ich kann nicht! Ich kann nicht! Alles, alles, ja lieber das, was man das letzte nennt – aber keine Zärtlichkeit... Verstehst du?

Sie sah ihn flehentlich an.

»Morgen«, sagte er, »kommt der Direktor der chemischen Fabrik zu mir.«

»Morgen schon? ...«

»Morgen«, wiederholte er trotzig.

An der Straßenecke hielt Amalie, wie von einer plötzlichen Ahnung erfaßt, vor der Depeschentafel einer Zeitung. Unter anderen Nachrichten lasen sie, daß eine Abteilung Fremdenlegionäre von den Kabylen in einen Hinterhalt gelockt und zum großen Teil niedergemacht worden sei.

»Das liest man jetzt alle paar Tage«, stotterte Trimpopp, als sie ihm mit einem Ruck ihr blasses Gesicht zuwandte.

Sie zog ihn fort:

»Hören Sie, Doktor, ich will Ihnen etwas sagen. Hören Sie gut zu! Wenn Arthur getötet wird, ohne daß ich ihn wiedergesehen habe, dann sehen wir einander auch nicht mehr ... nie! nie!«

»Ja«, murmelte er nach einer Weile ergeben. Sie gingen schweigend nebeneinander. Dann hielt sie mit verzerrtem Munde an und bat ihn, einen Wagen zu holen. Beim Einsteigen sagte er, während er ihren Arm stützte:

»Aber Amalie, was kann denn ich dafür, wenn er fällt?«

Und als sie saßen, antwortete sie müde:

»Natürlich. Nichts. Verzeihen Sie. Nichts. Aber es ist so.«

Das waren die letzten Worte, die Dr. Karl August Trimpopp mit Amalie Kleinschuh wechselte.

Statt des erwarteten Fabrikdirektors trat am anderen Morgen in Trimpopps Büro sein Vorgesetzter, und es begann zwischen den beiden ein immer heftiger werdendes Gespräch, dessen Lärm die Kollegen an die Tür lockte. Bevor der Geheimrat Trimpopps Zimmer verlassen hatte, war bereits im ganzen Stockwerk die Kunde verbreitet, daß gegen Trimpopp ein Disziplinarverfahren eingeleitet sei, weil er Amtsgeheimnisse an die Privatindustrie verraten habe.

Trimpopp, der fast unschuldig war und sich mit Recht als das Opfer einer halsbrecherischen Intrige fühlte, ging von Zimmer zu Zimmer, um die nötigen Erklärungen zu geben und sich von den andern den Mut steifen zu lassen. Aber überall waren die Herren plötzlich außerordentlich beschäftigt. Sie hielten ihm einen Rücken hin, der sichtlich wuchs, je mehr Trimpopp seine Bemühungen ausdehnte; andre, die er im Gang anhielt, ließen ihn achselzuckend stehen. Als er schließlich das Patentamt verließ, übersah der Portier seinen Gruß. Er war gerade von zwei Kollegen unterrichtet worden, die sich grinsend nach Trimpopp umdrehten. Er folgte ihnen über den großen Platz in das Kaffeehaus, setzte sich ihnen gegenüber und sah sie herausfordernd an, bis sie nach längeren, im Flüsterton gehaltenen Beratungen, welche Gegenmaßregeln hier am Platze seien, und nachdem sie auf vielsagende Blicke halblaut Schimpfworte nach Trimpopp geschnellt hatten, eine verächtliche Miene aufsetzten und geräuschvoll das Lokal verließen.

Da holte Trimpopp das Kursbuch und stellte fest, daß der Kölner Nachtzug in drei Stunden abfuhr. Er aß mit der Familie Schwerin zu Abend, sprach mit Wichtigkeit von einer eiligen Geschäftsreise und entfernte sich, nicht ohne Amalie durch einige Zeilen benachrichtigt zu haben, daß er sich am folgenden Abend bei ihr melden werde. Mohammed, in diesem Fall sein Fabrikdirektor, sei nicht gekommen, und so müsse denn der Berg zu Mohammed...

Der Direktor der chemischen Fabrik, deren Schlote Trimpopp seit einer Stunde sich im Rhein spiegeln sah, hatte den eingemauerten Geldschrank entriegelt – die Tür ragte, eine gewaltige Panzerplatte, ins Zimmer. Da trat hinter dem Diener, der ihn anmelden sollte, Trimpopp herein.

Eine Wendung in der besagten Angelegenheit habe ihn hergeführt, eine persönliche Aussprache erscheine ihm dringend nötig, es ginge um seine Ehre und auch um die der Fabrik... Sie waren allein. »Was die Ehre der Fabrik angeht«, begann der kleine Herr mit dem blanken Kindergesicht, als der Diener die Tür hinter sich geschlossen hatte, mit dem Kindergesicht, das einem zwei stiere Augen zu nah entgegenstreckte, »so können Sie das ruhig mir überlassen.«

»Nein«, antwortete Trimpopp. Der Direktor, der im Begriff war, sich in seinen Schreibtischsessel niederzulassen, richtete sich auf.

»Ich bitte aber darum«, sagte er. Trimpopp wiederholte leise, aber bestimmt: »Nein.« Der andere stieß mit den Augen nach ihm und setzte sich.

»Was wünschen Sie?« Trimpopp wünschte, sofort in die Fabrik einzutreten, und zwar mit dem vereinbarten Gehalt von vierzehntausend Mark – Anfangsgehalt – und Gewinnbeteiligung. Wohlverstanden: sofort!

»So?« machte der andere und stützte die Arme auf den Schreibtisch: »So, so?« Ja-a! Dafür war es nun leider Zu spät. Vor einigen Wochen hätte er, wie Trimpopp wisse, mit beiden Händen zugegriffen. Das hieß: Da hätte Trimpopp nur die hingehaltenen Hände zu ergreifen brauchen. Vor – »warten Sie mal!« – vor fünf... vier... vor dreieinhalb Wochen – noch! Unterdessen waren sie in der Fabrik ohne ihn fertig geworden. Ganz ohne ihn.

»Gut.« Trimpopp scheuchte die zudringlichen Gummiaugen fort. Er verzichtete auf die Anstellung. Aber er verlange Abstandsgeld.

Abstandsgeld? Wofür?

Trimpopp hob den Kopf: »Dafür, daß Sie in meinem Büro, als ich während einer unserer Unterhandlungen abberufen wurde... nach dem zwanzigsten mißglückten Bestechungsversuch, mein Herr...!«

Der Direktor lächelte wohlwollend: »Mißglückt ist übertrieben. Sie haben mich über die Geschäfte, in die Sie hineinsahen, ganz brav auf dem laufenden gehalten, und wenn Sie auch kein Geld nahmen, so hatten Sie doch einen Vorvertrag mit uns in der Tasche – «

Trimpopp fuhr mit erhobener Stimme fort: »In meinem Schreibtisch gegriffen haben und die Patentschrift der badischen Fabrik an sich genommen haben und Ihrer Konkurrenz eine Erfindung gestohlen haben und... überdies... die kolossale Frechheit gehabt haben, das Präparat sofort als ihre eigene Erfindung zum Patent anzumelden und in den Zeitungen ankündigen zu lassen und, wie die Badenser aufschrien, zu antworten, das Patentamt müsse am besten wissen, ob eine Anmeldung der Badenser vorhanden und wie diese beschaffen sei – Dafür! Verstanden? Dafür! und dafür, daß Sie mich in Not und Schande bringen. Dafür!«

Der Direktor lachte, daß der Sessel unter ihm rückte.

»O, wie ich lache!« meckerte er. »Herr, wie ich lache!«

Trimpopp wischte sich mit dem Taschentuch übers Gesicht. Ein Geschäftstrick, dachte er zwischen Ermattung und Zorn. Er stellte sich, als ob die Sache ihn nichts anginge... als ob er im Theater säße. Er saß aber nicht im Theater. Die Sache ging ihn an.

Er rief und versuchte zu lächeln: »Lachen Sie sich aus, Herr Direktor! Wenn Sie fertig sind, werden Sie mir recht geben.« Und er fügte schmeichlerisch hinzu: »Sie sind kein Straßenräuber.« Der andere warf die Arme in die Höhe. Das Lachen rollte den kleinen Bauch in der Weste wie eine Kugel: »Oh – Straßenräuber! Straßenräuber, hat er gesagt! Kein Straßenräuber. Herr! Herr!«

Schließlich seufzte er tief auf und ließ ermattet Kopf und Augen hängen. Dann schüttelte er sich einige Male, als renkte er die gesprengten Teile seiner Persönlichkeit gewaltsam ein, drehte den Kopf aus dem Kragen und warf weithin die Augen nach Trimpopp.

»Von Mensch zu Mensch, Herr Doktor! Ich bin in dem verfluchten Kampf mit den Badensern, die uns über den Kopf wachsen, zu weit gegangen. Ich bereue es tief, aber jetzt kann ich nicht mehr zurück. Ich muß die Gemeinheit bis auf den letzten Brocken hinunterschlucken. Es gäbe ein sicheres Mittel, die Fabrik umzuschmeißen, und das wäre, Sie jetzt oder in der nächsten Zeit und solange man sich an die Sache erinnert, anzustellen oder Ihnen Geld zu geben.«

Trimpopp kam ein rettender Gedanke: »Ich gehe mit dem Geld ins Ausland«, sagte er schnell.

Der Direktor zog die Augenbrauen hoch und dachte nach.

»Dann, Herr Doktor... in diesem Fall... könnte ich mich ehrenwörtlich verpflichten... Ihnen nach Erledigung der Angelegenheit... eine runde Summe auszuzahlen ... Ja, sprechen wir einmal darüber: eine große Summe.«

Trimpopp unterbrach ihn angstvoll: »Und jetzt? Damit ich bis dahin leben kann?«

Der andere hob die Hand wie eine Fliegenklappe.

»Einige hundert Mark aus meiner Tasche. Unter strengster Diskretion«, und er zuckte ungeduldig die Achseln, als Trimpopp aus tiefster Brust aufstöhnte.

Amalie, dachte er, nein, nein, nein, mit einigen hundert Mark war ihnen nicht geholfen. Und er wollte nur ins Ausland, wenn sie mitginge, sei es auch, um bis Arthur zu gelangen. Nur, wenn sie mitginge. Er brauchte einige tausend Mark – unbedingt.

»Ich brauche«, sagte er heftig, »unbedingt ein paartausend Mark«, und fuhr erschrocken zusammen. Denn der Direktor hatte mit beiden Händen auf den Tisch geschlagen und schrie, daß sein Kindergesicht rot wurde wie eine Rübe und die Augen aus den Höhlen zu platzen drohten: »Schluß! Sie kennen mein Angebot, sagen Sie ja oder nein. Im Patentamt ist man hinter Ihre Schliche gekommen. Sie leugnen. Ich leugne. Wenn Sie die Wahrheit sagen, sind Sie verloren. Niemand wird Ihnen glauben, daß Sie uns so weit und nicht weiter entgegengekommen sind. Der Vorvertrag – «

Trimpopp richtete sich mit knirschenden Zähnen auf. Der Schreck, der ihm in die Glieder gefahren war, hatte ihn wild gemacht. Die Fäuste gegen die Brust gedrückt – Aber schon sprach der andere mit milden Bewegungen und abgetönter Sprache auf ihn ein!

»Wir kämpfen beide um unsere Existenz, Sie und ich. Aber ich, begreifen Sie! ich, das sind nicht nur mein Gehalt, meine Familie, meine Dividenden, meine Freunde, das sind Millionen Mark Kapital, fünfzehnhundert Arbeiter, fünfzehnhundert Familien, fünfzehnhundertfaches Leben« – er breitete die Arme über sich aus –, »das kann ich nicht mit einem Schlage fällen. Wo ich es selbst gefährdet habe, muß ich es verteidigen – mit doppelter Kraft, mit der Kraft all dieser Existenzen... «

Trimpopp hatte sich vorwärts geschoben, bis er auf den Beinen stand. »Ich! Ich! Ich!«, stöhnte er, indem er mit ausgestreckten Armen auf den Direktor zuging, voll eines seltsamen, fast rührseligen Mitgefühls für den Mann, den er schlagen wollte.

»Ich bin auch tausend Existenzen und mehr... ich... ich... «

Plötzlich war irgendwo in der Nähe Amalie, die gellende Hilferufe ausstieß, der Direktor streckte die Hand nach einer Glocke aus, die über den Schreibtisch kollerte, Trimpopp riß ihn zu sich, sie rangen, wankten über den Teppich, fielen fast in den Geldschrank. Und da nahm Trimpopp alle Kraft zusammen, er ließ die Gurgel des andern los, umklammerte ihn, drückte zu, drückte zu, hob und zerrte und warf ihn kopfüber in den Geldschrank, wo er mit einem dumpfen Krach liegen blieb. Schnell schob Trimpopp die Beine nach, die noch heraushingen, zog die Tür und preßte sie ins Schloß. Riß die Schlüssel ab, verdrehte schnell die vier Letternscheiben.

Zitternd lehnte er gegen die eiserne Tür. Er ordnete langsam, nach rückwärts lauschend, seine Kleider, wollte, plötzlich auffahrend, um Hilfe rufen, starrte auf den Schlüsselbund, den er in der Hand hielt, steckte ihn rasch in die Tasche.

Erst am Fabrikhof begegneten ihm Leute. Sie beachteten ihn nicht, und als der Zug über die Rheinbrücke fuhr, zog er den Schlüsselbund und warf ihn mit wohlberechnetem Schwung durch das Eisengatter hinunter. Bald darauf war er auf belgischem Boden. Er irrte auf dem Bahnsteig, als ob er dringend etwas besorgen müßte, was ihm entfallen wäre, und ließ den Zug abfahren. Trat aus dem Bahnhof, unschlüssig, was er beginnen, wohin er weiterfahren sollte, nach Brüssel oder nach Paris.

Endlich bemerkte er einen Mann, der ihm gefolgt und in kurzer Entfernung von ihm stehengeblieben war, und er sah, wie der Fremde ihm zulächelte.

Trimpopp nickte hinüber. Ein Handlungsreisender, dachte er, der einen Zug überspringt und mit dem Musterkoffer ins Dorf geht.

Der Herr näherte sich ihm, und als er Trimpopp eine Weile freundlich betrachtet hatte, beugte er sich zu dessen Ohr: »Fremde-léschion?« fragte er scherzhaft.

Trimpopp sperrte alle Sinne auf... Übermut erfaßte ihn lichterloh wie ein Tumult von Himmel und Sonne. Araber in ihrem weißen Burnus, schwarze Frauen mit bunten Schleiern, blaues Meer, weite, weiß glitzernde Flächen: die Wüste... Tollheit, Kampf, tödliche Ermattung – Gott, welch eine Befreiung!... Gehorchen, nichts als gehorchen müssen, für den Ruhm, glorreich zu sterben oder auch einmal zu befehlen, und ein Stück Vieh sein, das sieht und schmeckt und riecht und marschiert, immer marschiert – in den Ruhm!...

Welch eine Erlösung!...

Er sah dem Fremden in die mißtrauisch abwartenden Augen und rief lachend: »Yes, Fremde-léschion, yes, Kamerad!«

5

Drei Jahre später flüchtete Kreuzer in einem marokkanischen Hafen auf einen deutschen Dampfer. Er hatte in voller Uniform eine Strecke von anderthalb Kilometern durchschwommen und mußte die Schiffstreppe hinaufgezogen werden.

Das erste Wort, das er sagte, nachdem er sich erholt hatte, war: »Whisky-Soda«, zugleich richtete er sich auf und reckte die Arme, als ob er aus einem tiefen, gesunden Schlaf erwachte. Darauf sah er sich um, verbeugte sich, in seiner Koje kauernd, vor jedem der Umstehenden, wobei er jedesmal deutlich »Kreuzer« sagte, und bat um Kleider. Sie dürften gut sein, fügte er hinzu, er sei solvent.

Ein Offizier erinnerte sich des Aufsehens, den sein Eintritt in die Fremdenlegion vor drei Jahren erregt hatte, eine Versicherung, die Kreuzer sich mit wachsendem Stolz mehrmals wiederholen ließ. Zwei andre Deutsche, fuhr der Offizier fort, seien doch damals gleichzeitig losgegangen.

Kreuzer nickte:

»Trimpopp und Manasse... Ich komme geradewegs – von ihnen.«

Er verzog das Gesicht, schloß die Augen und schüttelte sich: »Brr!« machte er, »brr!« Schlug die Augen auf, weit, ganz weit: »Dieser Manasse!« murmelte er ehrfürchtig und sah eine lange Weile vor sich hin.

»Großartig!« sagte er schließlich.

Kreuzer machte sorgfältig Toilette und erschien an Bord in den besten Kleidern, die in den Offiziersgarderoben zu finden gewesen waren. Ließ sich allen Fahrgästen der ersten Klasse vorstellen, griff nach allen Händen, küßte, drückte, schüttelte sie. In wenigen Stunden hatte er alle zu seinen Freunden gemacht. Dann besichtigte er das Schiff, von einem Ende zum anderen. Aber die vielen Stewards, die mit neugierigen Gesichtern seinen Weg kreuzten, brachten ihn auf einen Gedanken...

Er ließ sich zum Telegraphisten führen und schickte seinem Vater eine Depesche: »Bin unversehrt auf dem Wege nach Hause. Wie verhältst du dich dazu?« Mit ihm wartete das ganze Schiff auf Antwort. Als Kreuzer am Abend in den Speisesaal trat, stimmte die Musikkapelle die Wacht am Rhein an. Er benahm sich wie ein regierender Fürst, den sein Volk in Massen anruft. Ohne eine Miene zu verziehen, blieb er hochaufgerichtet stehn, bis das Stück zu Ende war. Dann verneigte er sich huldvoll und schritt, von drei Stewards geleitet, nach allen Seiten grüßend, mit wiegenden Kürassierschritten an seinen Platz. Hier blieb er stehn, blickte erst auf seinen Teller, darauf langsam in die Runde, rief dreimal »Hurra« und ließ sich mit einem Ruck auf den Sessel nieder. Während sie ringsum belustigt Beifall klatschten, wandte sich Kreuzer über die weißen Schultern an die blauen Augen seiner Nachbarin und seufzte, Tränen in den Augen: »Heimatklänge!«

Beim Nachtisch traf aus Deutschland die Antwort ein, die Kreuzer, nachdem er die Musik einen Tusch hatte blasen lassen, in dem seinem Vater eigentümlichen Tonfall verlas: »Kannscht komme!«

Daraufhin ließ er sich vom Zahlmeister Geld geben und beschenkte die Stewards. Mit dem Rest ging er ins Zwischendeck und warf es in den Gang zwischen die Betten. Er horchte, ob jemand vom Geräusch erwacht sei, aber nichts rührte sich. »Der reine Sankt Nikolaus!« flüsterte er einer großen blonden Frau ins Ohr, die ihn begleitet hatte, und dann nahm er ihren Kopf und küßte sie auf den Mund.

Aus schwerem Rausch, aus dem dicken Dunst des Spielzimmers, aus einem Knäuel von Herren im Gesellschaftsanzug und Offizieren, die er als Leichenträger und Kirchhofsbeamte ansprach, erhob sich die blutige Fata morgana, deren durchbohrende Pracht Kreuzer mit sich nach Hause brachte: die Verteidigung einer Felsenstadt am Fuß des Atlas durch die hundert deutschen Legionäre, die mit Waffen und Munition in das Innere des Landes desertiert waren, um dort aus eigener Kraft ein neues Vaterland, ein neues Deutschland, zu gründen, und die zehntägige Verteidigung in Hunger und Krankheit gegen die überlegenen Verfolger.

Sie brüllten wie die Heilsarmee... Alle Lieder, die sie auf der Schule gelernt hatten... Schrien »Mutter, Mutter«, die Namen von Frauen und Freunden, die Namen von deutschen Städten... »Harz«, »Rhein«, »Elbe«. Sie stolperten, legten sich auf die Seite oder ließen nur einfach den Kopf hängen, einer nach dem andern. Und jedesmal schrien die Überlebenden hurra, lauter als das Schweigen und die Kluft, die das Stück, das da wieder abgebröckelt war, gerissen hatte, stießen die Toten mit Fußtritten zur Seite, als ob sie Feinde wären, und füllten das Loch mit Flüchen und schwangen die schwarz-weiß-rote Fahne, die sie genäht hatten. Trimpopp fuhr umher wie eine Wildsau, aber sagte nichts, er war gefallen und hatte sich die Zunge abgebissen... Stand auf und spuckte sie durch die Schießscharte. Trimpoppchen!... Er grunzte wie hundert Säue. Da: Alle Truppen da draußen zusammengerückt, zum Sturm auf den Turm!... Die Araber rissen aus... »Und als ich«, schrie Kreuzer, »als ich ihnen nachsah, da wurde mir die Sache auf einmal zu dumm, und ich lief auch... Blieben nur noch Trimpopp und Manasse.«

Kreuzer erhob sich mühsam und rutschte an der Wand entlang, bis er in eine Ecke geriet. Hier richtete er sich auf, so hoch er konnte.

»Achtung!« schrie er. »Manasse greift mit der einen Hand Trimpopp – war gerade totgeschossen –, und ich steh' da unten und seh': Er schleift ihn auf eine Erhöhung, so einen Sockel in der Mitte des Turms, legt ihn vor seine Füße und hebt mit beiden Händen die Fahne... So stand er da, Manasse, so-oo! Beide Hände – hoch...« Und gleich pfiff Kreuzer durch die Zähne und ließ seine großen Arme aus der Höhe herunterpurzeln:

»Weg! Futsch!«

An seinen Platz zurückgekehrt, verlangte Kreuzer, daß sie alle zusammen das De profundis anstimmten. Aber keiner kannte es. So mußte er sich allein behelfen, und er begann heulend:

»De profundis clamavi ad te, domine«, und schwang das Glas über dem Kopf wie zu einem Trinklied.


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