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»Wer Gottes Fahrt gewagt ...«

Sie haben ein Kind begraben, ein kleines.

Ich stand hinter einer Zypresse und sah zu, wie sie das weiße schmale Särglein in sein Erdenbett hinunter taten. Und ich hörte, wie der Vikar sagte, es habe sein Leben auf zehn Monate und dreiundzwanzig Tage gebracht. Da hoben alle die Weiber sachte zu schluchzen an. Eine war dabei, die schluchzte nicht. Sie hielt das weiße Taschentüchlein sauber zusammengefaltet in den Händen und sah mit einem eigentümlich stillen, zusammengerafften Gesicht vor sich hin. Einmal, da schüttelte sie den Kopf, fast unmerklich, sah einen Augenblick hinunter zur Erde, auf die feuchten, braunen Schollen, die vor ihren Füßen lagen, dann stand sie wieder, wie vorher. Das war, als der Vikar sagte, es sei eine schwere Schickung, denn dieses Kind sei das fünfte, das die Eltern hier begraben. Immer wieder sei eins geboren und vor Jahresfrist gestorben, es sei jedesmal das einzige Kind, das sie hergeben müssen. Mir gab das leise Kopfschütteln ein Rätsel auf, ich hätte sehen mögen, was hinter diesem geschlossenen Gesicht vor sich ging. Sie war doch die Mutter, es mußte ihr doch fast das Herz zerbrechen, so dazustehen. Wenn sie doch hätte weinen wollen. Ich hatte es schon öfter mit angesehen und gehört: sie pflegen sonst auf dem Dorf laut zu klagen und zu schluchzen, wenn sie an den Gräbern stehen, und die Namen ihrer Lieben auszurufen und ihnen allerlei zu sagen, das sie vielleicht den Lebenden nie recht gesagt haben. Das war mir oft peinlich gewesen, wenn sie ihr Leid so von sich schrieen, ich meinte, es müßte dann fast zu Ende sein bis sie durch das Kirchhofstor wieder ins Leben hinaus gingen; sie hätten gar nichts Stilles mehr, das sie für sich behielten.

Aber jetzt hätte ich fast noch lieber einen solchen Ausbruch erlebt. Er kam auch, der Ausbruch nämlich. Es war, als ob es die andern Weiber für ihre Pflicht hielten, wacker zu schluchzen, daß doch dem armen Würmlein die Totenklage nicht abgehe.

Es waren auch ein paar Männer da; und einer von ihnen weinte halt- und hilflos, als er seine drei Erdschollen in das Gräblein warf. Das sei der Vater, hörte ich. Da trat sein Weib neben ihn, das seither entfernt bei den Weibern gestanden hatte. »Komm, Wilhelm, mer ganget'« sagte sie. Sie legte einen Augenblick ihre sonnverbrannte, hartgeschaffte Hand auf den Ärmel seines schwarzen Sonntagsrocks. Da ging er neben ihr her und ich sah noch von hinten, wie es ihn schüttelte. Es war nicht nach dem bäuerlichen Zeremoniell, daß sie mit dem Mann ging. Die Weiber hatten allerlei über sie zu verhandeln. Sie sei eine Fremde und nicht aus dem Ort, das hörte ich noch. Dann verloren sich allmählich die Schritte und es wurde still auf dem Kirchhof, still bis auf das Vögelsingen in den alten Linden und auf das Fallen der Erdschollen, mit denen der Totengräber das weiße Särglein zudeckte.

Als es Abend wurde, ging ich noch einmal in den stillen Garten. Er lag auf einer kleinen Anhöhe hinter dem Dorf, und wenn man über die alte, verwitterte Mauer blickte, dann ging das Auge weit hin über eine liebliche Gegend mit bewaldeten Bergen, freundlichen Dörfern und einem Flüßchen, das jetzt in dem Licht der sinkenden Sonne aufglänzte. Das Haus, in dem mir eine Stube zur Sommerfrische vermietet war, lag nahe dabei, und wenn die Kinder, die die Blumen auf den Gräbern zu begießen pflegten, sich wieder verlaufen hatten, dann saß ich gerne eine Weile dort oben und kam mir in guter Gesellschaft vor mit allen den Schlafenden rings umher.

Es war kurz vor dem völligen Dunkelwerden, da hörte ich Schritte den kiesigen Hauptweg heraufkommen und sich dann nach den Kindergräbern hin verlieren. Es war das Weib, das mir seit dem Nachmittag immer wieder in die Gedanken gekommen war, die Mutter. Sie war schon wieder im Arbeitsgewand, nur eine breite, schwarze Kattunschürze und ein schwarzes Halstuch zeigten ihre Trauer an.

Draußen vor der Kirchhofstür stand ein zweirädriger Karren voll frischgemähten Grases. Den hatte sie dort abgestellt. Nun stand sie an dem kleinen Hügel, auf dem ein paar sehr farbige Kränze, Lebensbaum mit Papierblumen, lagen. Sie bückte sich und strich mit der Hand über die ziegelroten Rosen, dann setzte sie sich auf das Gräblein und es war mir, als wolle sie es umfassen, denn sie hob die Arme gegen das Kopfende des Hügels. Aber sie ließ sie wieder sinken.

»O Wilhelmle,« sagte sie, »o Büble, du bist vielem los. Du – du hasch guat.« Und dann sah ich ein paar Tränen über ihre Wangen herablaufen, die sie mit dem Handrücken wegwischte. Sie hatte mich nicht gesehen, aber als ich mich jetzt von meinem Mauersitz erhob, wandte sie sich nach mir um und grüßte stille zu mir herüber.

Da wagte ich's und redete sie an. Sie hatte etwas so Vornehmes in ihrer gefaßten Art; es fiel mir nicht leicht, so gern ich sonst mit den Leuten einen kleinen Schwatz tat. Sie hatte schon wieder das stille, geschlossene Gesicht; es hatte tiefe Furchen und war schmal und knochig; nur die Augen darin waren eigentlich schön zu nennen, so von einem ernsten, tiefen Blau. Das sah ich, als sie mich ansah und sagte: »Ja, was halt Gottswill ist.« Denn ich hatte irgend ein Wort gesagt, fast scheu, daß sie viel durchgemacht habe oder so etwas.

Sie stand auf und wandte sich zum Gehen. »I muß heim,« sagte sie. »'s Vieh braucht sei' Sach wie sonst, dees hot äll' Tag Honger.« Aber es war mir, als müsse ich irgend eine Gemeinschaft mit diesem Weib haben, als müsse ich noch etwas davon wissen, wie dieses Frauengemüt das Leben trage. So sagte ich, nur um etwas zu reden: »Wo ist denn Ihr Mann, daß Sie noch so spät Gras holen?« Sie zuckte ein wenig, so um die Mundwinkel herum, und ich hörte, wie sie tief Atem holte. »Der hot an –« es kam wie ein Schrei herauf, obgleich sie kaum die Stimme brauchte; sie brach ab und sagte: »I kann's net so sage, i kann net dervo schwätze.«

Dann, als ob sie meinem Gesicht ansehe, daß ich nicht aus Neugierde mich an sie drängte, daß ich gern irgend einen Teil an ihr gehabt hätte, besann sie sich und sagte: »Wisset Se, wenn i afange wött, des wär, wie wenn mer am Bach dronta d'Fall' aufzieht ond 's ganz Wasser schießt nonter, da gibt's kei Halta meh'. Mer muaß halt still sei. Mer muaß halt emmer denke: dees ischt d'r aufg'lade, dees ischt dein Päckle. 's ischt a Pack, kei Päckle,« setzte sie, fast mit einem Anflug von traurigem Humor, hinzu. Und dann, wir schritten schon selbander den breiten Weg hinunter, dem Ausgang zu: »'s ischt no guat, 's wird au amol Feierobed.«

Dann bückte sie sich und hob den Karren auf und ich sah, daß es ihr schwer fiel, sich zu bücken und daß sie schon wieder ihrem Weibesschicksal entgegenging, und ich blieb unter dem dunklen Tor stehen, bis ich keinen Ton mehr von dem Räderknarren hörte und bis der Meßner kam, um die späte Betglocke zu läuten.

Mir war das Herz so voll, ich mußte ihn nach ihr fragen. Er schob sich die Kappe zurück und wühlte mit der Hand in seinem Bart herum. Da sei nicht viel zu sagen. Einem geht es so, dem andern so.

Der Mann, ja, das sei wahr, der habe es mit dem Durst. Wenn er zuviel habe, dann verhaue er das Weib. Sonst sei er nicht unrecht. Sie sei halt fremd im Flecken, sie tue, wie wenn sie aus einem andern Teig sei, als die andern Weiber. Er habe sie nehmen müssen und sie ihn. Die Väter seien einander Geld schuldig gewesen, da habe man die Kinder zusammengetan, daß die Sache wieder ins Gleiche komme.

Das, ja das mit den Kindern, das sei freilich – freilich.

Das Dorle sei halt zärtlich (zart) und die Kinder seien auch zärtlich auf die Welt gekommen. Sie habe daheim hinsitzen wollen und die Kinder aufpäppeln. Aber das habe der Mann nicht gelitten. »Die Sach« brauche auch seine Pfleg. Das können bloß die Herrenfrauen, daheim hinsitzen.

Sonst sei der Mann nicht unrecht. Bei dem Wilhelmle, da habe er selber am dritten Tag den Doktor geholt und an der Leich! da habe es ihn ganz geschüttelt, so habe er geheult. Das andere, das seien Mädle gewesen, da habe es ihn nicht so arg mitgenommen, aber bei dem Buben da.

Das Weib, das sei eine, die nicht viel sage um einen Kreuzer. »Aus der bringen sieben Gäul nichts heraus, wenn sie nicht will.« Damit schlug er das knarrende Tor zu und drehte den riesenhaften Schlüssel im Schloß um. Und dann ging er mit schweren Schritten, denn er war auch zugleich Totengräber und hatte Lehm an den hohen Stiefeln von einem neuen Grab, das er aufgeworfen hatte, die Staffeln hinunter, die seitwärts zu seinem Häuschen führten. An mir aber zog durch das abendliche Dunkel hin die Schar der Mühseligen vorüber, die auf der weiten Erde »einen Pack, nicht nur ein Päckle« trug, wie das Weib gesagt hatte.

Sie wußten nicht von einander, ein jedes von ihnen war allein. Sie sahen gerade aus mit ernsten, tiefen Augen, und sie legten die Finger auf die Lippen: »Man muß halt still sein. Man muß halt denken, das ist dir aufgeladen.« Und hie und da sagte eins: »'s ist gut, daß einmal Feierabend wird.« Dann faßten sie die Last fester an und gingen wieder weiter.

Aus weiter, weiter Ferne herüber trug die Nacht halb verwehte Klänge. Aus einem Feldlager kamen sie, und der sie aussandte, war ein Kreuzfahrer und sang:

Doch ob das Herz auch klagt,
Ausharr ich unverzagt.
Wer Gottes Fahrt gewagt,
Trägt still sein Kreuz.

 


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