Carl Ludwig Schleich
Besonnte Vergangenheit
Carl Ludwig Schleich

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Schule und erste Abenteuer

Es ist sonderbar, und für meine Leser ein Glück, daß ich von meinen ersten Schulstudien so gut wie gar keine Erinnerung mehr bewahrt habe. Ich weiß nur noch von einem Eintritt in eine Spielschule, und daß ich unter großer häuslicher Aufregung, ausgestattet mit einem karierten und gegürteten Kittel, um das Leibchen eine sehr schöne perlenbestickte Tasche gehängt, durch »unsere Berta« in irgendein muffiges Lokal gebracht wurde, von dem ein Liniensystem von Bänken in meinem Gedächtnis haften geblieben ist wie ein Gradierwerk, in das wir kleinen stullenbewaffneten Opferlämmer der Bildung eingepfercht wurden. Da gab's große Bildertafeln, Kartenstöcke, Sätze von mit Bildmosaiken beklebten Würfeln und eine Faust voll grauen knetbaren Kittes, aus dem wir Schweinchen und kleine Tassen formen mußten. Ich ging ganz gern zu der freundlichen Lehrerin und zu meinen kleinen Spielgenossen, und ich glaube, wir waren alle sehr artig. Hier schon frühe griff ein Mysterium in mein Geschick. Da traf mich das Ereignis eines verlorengegangenen Tages, um den ein großer Detektivmechanismus mobilgemacht wurde, und doch sollte das Verbrechen dieses mir offenbar gestohlenen oder somnambulisch verhehlten Tages bis auf den heutigen Tag nicht aufgeklärt werden. Alle behaupteten, als ich eines Morgens in unsere Spielschule kam, ich hätte tags zuvor gefehlt; Lehrerin, Mitschüler, Klassenbedienerin. Nur ich und meine Begleiterin konnten beschwören, daß ich, wie stets ausgerüstet, im Schullokal angetreten, dann aber auf 24 Stunden für alle, auch zur großen Aufregung meiner Eltern, aus dem Leben eliminiert worden sei. Ich selbst weiß nur, daß ich ahnungslos an dem Verlöschen eines Tagesbewußtseins tags darauf mit mir völlig unverständlichen Fragen wie: »Karlchen! wo warst du denn?« überstürmt wurde. Ein für ewig versunkener Tag, den mir Gott noch schuldig ist. Ich schrieb das erste große Fragezeichen in mein Buch der Rechenschaftsberichte meines Lebens. Ach, wie viele solcher Runen-Genossen hat mir das Leben noch in meine Erinnerung eingraviert!

Sehr bald folgte dieser Spiel- und Klippschule der Eintritt in die Vorschule des berühmten Stettiner Marienstiftsgymnasiums. Hier wurde die Geschichte schon ernster, und es gab wirkliche Dressuren. So weiß ich noch vom »alten Stahr«, einem griesgrämlichen, von Schnupftabak förmlich wolkenhaft umhüllten kleinen schwarzen Manne, dem ich einst aus seiner nahegelegenen Wohnung die vergessene deckellose Zigarrenkiste voll Schnupftabak (darunter tat er es nicht, sie war seine Tagesdosis) holen mußte und aus der er dann über Katheder und Klassenboden den schwarzen Staub versprühte und wegknipste. Dabei schien er nichts anderes als »Richtung« mit uns zu exerzieren, denn unaufhörlich sauste ein von ihm eigens zu diesem Zwecke mit schlankem Rohr verlängerter Kartenstock zwischen die parademäßig gerichteten Kolonnen der Schüler von der ersten bis zur letzten Bank. Wehe! wenn einer nicht genau Schulter hinter Schulter »Vordermann« hielt, unweigerlich hätte die in die Lücken niederklatschende Bohnenstange Kopf oder Rumpf gepeitscht. Die »Stahrs« waren übrigens auch eine sehr berühmte Stettiner Familie, ihr entstammte der bekannte Goetheforscher Adolf Stahr und zwei romanschreibende Schwestern, damals noch eine rare Spezies. Dann kam da aber ab und zu noch ein kleiner, aber sehr freundlicher und gütiger Mann, die Violine im Arm, den Bogen in der Hand, ein kleines Samtkäppchen auf dem Kopf, zu uns und sang uns vor und fiedelte und ließ uns kleine Liedchen zweistimmig piepsen. Es war Carl Löwe, der Genius. Mit der ungeheuren, so nie wieder in uns lebendigen Objektivität der Kinder nahmen wir diese eigentlich jetzt für meine Verehrung dieses Einzigen unerhörten historischen Momente ganz kühl und wie selbstverständlich hin. Ich weiß nur noch, daß der große Meister mir ab und zu im Takt auf den Kopf tippte mit seinem Violinbogen, und fürchte, daß das meinem nicht allzu stark ausgeprägten Rhythmusgefühle galt (die Synkopen haben mir alle Zeit im Ensemblespiel einige Not bereitet). Ich weiß noch, daß mir diese Stunden viel Spaß machten und daß ich meine Mitschüler anstiftete, die eingeübten zweistimmigen Liedchen auch auf dem Nachhauseweg über den Dom- und Paradeplatz laut erschallen zu lassen.

In diese Periode, es war eigentlich noch nicht an der Zeit, mit meinem Junggesellenleben zu brechen – fällt auch mein fester Entschluß zur Ehe. »Diese oder keine!« beschloß ich, als ich eines Wintermorgens einem allerliebsten kleinen Mädchen, in weiß- und blaukarierten havelockähnlichen dichten Kragenmantel gehüllt, mit kleinem Pelzkäppi auf dem reizenden, schleiergeschützten Köpfchen, weißbehandschuht, in arger Verlegenheit unter der Apothekentür an der Ecke der Grünen Schanze und den Linden stehend, ihre in den Schnee gepurzelten Schulbücher fein säuberlich aufhob und abgestäubt in die große Federtasche zurückexpedierte, genau so in Reih und Glied, wie es die kleine Pedantin, die sie übrigens geblieben ist, verlangte. Sie hatte nur ein Löschblatt verloren im Schnee, ich aber mein Herz. Denn ich empfahl mich, sie zärtlich über die tränenfeuchten Wangen streichelnd, mit dem festen Vorsatz, sie zu meiner Braut zu ernennen und später zu meiner Frau zu machen. Was sollte ich da viel überlegen, etwas Reizenderes konnte die Welt ja gar nicht bieten. Ich muß gestehen, daß mir meine hier bewiesene Konsequenz – denn dies kleine liebe Mädchen ist noch heute meine hoch über alles gestellte Frau, der gute Genius meines Lebens – bis zu diesem Tage um so gewaltiger imponiert, als ich mich sonst nicht erinnern kann, in irgendeiner Sache überhaupt jemals konsequent gewesen zu sein. Hier aber »Hab' ich nicht bereut, alle Zeit, alle Zeit!« Es war für mich in der Tat bis in meine Zeit der Reife, wahrend der Pensionszeit in Stralsund, den Studienjahren sooft ich nach Stettin zurückkam, eine ausgemachte Sache, daß ich Hedwig Oelschlaeger, die Tochter des Eisenbahndirektors Rudolf Oelschlaeger, eines entfernten Vetters meines Vaters und ihrer bildschönen Mutter Ria, die ungeheuer musikalisch war und die entzückendste Schwiegermutter der Welt wurde, einmal heiraten würde. Wie die eigentliche Hauptperson dieses Romans, das Mägdelein, der Backfisch und die erblühte Schönheit Stettins sich zu dieser Frage in den verschiedensten Phasen unseres Wiedersehns stellte, darf ich leider nicht berichten. Sie war schließlich die Klügere und gab nach.

Dann kam der Krieg 1866, und ich wohnte zum ersten Male einer Massenerregung bei, welche den Auszug der Streiter fürs Vaterland dreimal in meiner Lebenszeit, 1866, 1870 und 1914, voll höchster Begeisterung begleitete. Ach! hätte man auch das drittemal dies Jauchzen, diese Wonne, diesen Blumentaumel des siegreichen Einzuges erleben dürfen, wie ich ihn 1866 und 1871 mitanschauen konnte. Für alle Ewigkeit riß hier wohl das Jahr 1918 dem deutschen Herzen und der deutschen Geschichte eine Lücke, die kein Ozean von Tränen oder Blut, nur Trauerflor um Trauerflor wieder ausfüllen kann. Mich hat der Zusammenbruch Deutschlands so tief bekümmert, daß ich diese letzte Periode hier nicht besprechen kann.

Noch sehe ich beide Male die Königsgrenadiere, taumelnd fast vor den sie pressenden, sich an sie hängenden Kindern und Frauen, Sträußen auf Helmen, Ledergurten, Flintenläufen, Tornistern, Säbeln, Trommeln, Instrumenten, die Schulzenstraße sich heraufwälzen, Feuer im Blick, die Wangen rot vor Stolz und Glück! Voran beide Male der dicke »Orlin«, der Kapellmeister, der Liebling der ganzen Stadt, förmlich in Girlanden eingepackt, dicke Kränze wie Reifen um ein lebend Faß geschlungen, so daß der kleine Taktstock nur wie eine schmale Magnetnadel auf und nieder pendelte. Zweimal nur sah ich die Massen vor Wonne weinen und Freunde und Fremde sich jauchzend in die Arme sinken. 1866! 1871!

Die Wonne war 1866 um so gewaltiger, als kurz vorher eine furchtbar verheerende Choleraepidemie wie ganz Deutschland, so auch Pommern durchwütete. Entsetzlich viele Menschen starben in Stettin, viele Verwandte fielen zum Opfer. Es war unheimlich für uns Kinder, die Versammlungen der Ärzte in meines Vaters großem Sprechzimmer zu belauschen. Dieses bedrückte Raunen der mutigen Kämpfer gegen den rasend gewordenen Tod! Nur Onkel Wißmann, Vaters besonderer Freund, war nicht aus der Laune zu bringen. Der geistvolle Mann, ein berühmter Übersetzer des Aristophanes, sehr lustig und durch und durch musikalisch, setzte sich ans Klavier und begleitete sich kunst- und solopfeifend, lange Arien spielend, wie stets bei besonderen Gelegenheiten. Es konnte aber doch nicht ausbleiben, daß die Kollegen ihn etwa fragten: »Wie geht es dem oder der?« Dann warf er weiterspielend, mit dem Pfeifen kurz pausierend, den Kopf herum und stieß sein: »Kommt durch!« oder »Schon tot!« unter Arpeggien hervor.

Eines Tages kam Vater tief bekümmert heim: seine Schwester Lotte war tot; Wrentsch, unser Tischler und Faktotum im Hause, und sein bester Freund und Kollege Schultze ebenfalls. Alle drei an einem Vormittag innerhalb weniger Stunden dahingerafft von der Seuche! Ich könnte die ganze Symptomatologie der Cholera nach den drastischen Schilderungen der scheußlichen Erkrankungsform noch heute nacherzählen, wie sie mein Vater meiner Mutter berichtet hat. Ich will nur als Kuriosum erzählen, daß er immer wieder behauptete, wenn die Patienten begönnen, plötzlich eine Art hysterischen Heißhungers auf irgend etwas »Eingemachtes« zu bekommen, so kämen sie durch. »Der alte Grischow hat wieder plötzlich geschmorte Preiselbeeren verlangt und 3 Liter davon verschlungen. Kommt sicher durch! Kanzow ein Fäßchen Blaubeeren verputzt. Kommt durch!« Natürlich bot man dazumal allen Erkrankten unaufhörlich gedünstete Preiselbeeren und Blaubeeren an.

Die Cholera war auch die Veranlassung, daß ich das erste und einzige Mal entsetzliche Prügel bekam. Ich hatte einen Straßenfreund Wilhelm Dinse, Sohn der Waschfrau Dinse von »Nebenan«, der einzige, der meine literarischen Ambitionen von damals zu würdigen wußte. Denn ich las ihm und seiner Mutter »veritable Dichtungen!« (daß ich doch noch etwas davon besäße!) vor. So hatten wir auch gemeinsam so eine Art Tragödie entworfen, die wir der biederen Priesterin der Seifen und Laugen gewidmet hatten und vorzulesen gedachten. Nun aber entzog sich unsere Protektorin dieser Prüfung durch den Tod. Sie starb plötzlich an Cholera. Wir berieten und sahen den Grund nicht ein, warum die Tote nicht doch noch hören solle, was ihr das Leben verweigert hatte. Wir beschlossen also, die Schauermär ihr an ihrem Totenbette doch noch zu versetzen. So saßen wir vor der weiß geschmückten Leiche, in geteilten Rollen aus einem Schreibhefte laut deklamierend, als die Tür aufsprang und herein, entsetzt, lautlos, mit fliegenden Haaren, mein – Vater stürmte, mich bei dem Kragen packte und die Treppen hier herunter, bei uns nebenan nach oben riß und meine Mutter rief. Man entblößte mich, Mutter hielt und Vater ließ den Rohrstock sausen mit einer Grausamkeit, die ich ihm nie zugetraut hätte, zumal ich noch heute der Meinung bin, daß die Strafe für eine so edle Handlung wie diese brave Vertragstreue auch einer Toten gegenüber eher Belohnung als Peinigung verdient hätte!

Freilich war uns bei strengster Strafe verboten, in jenen Choleratagen überhaupt auf die Straße zu gehen, nun gar in die Wohnung einer daran Verstorbenen. Von diesem Standpunkt aus hatte wieder mein Vater recht. Meine Mutter vermittelte. Ich höre sie noch mitleidig intervenieren: »Aber Karl, nun ist's wohl genug!«

Von hier an verlief mein Leben so absolut bewußt, und ich habe alle seine vielgestaltigen Momente mit einer solchen Verläßlichkeit in der Erinnerung, daß ich mich getrauen würde, Tag für Tag in ziemlich kompletter Folge zu schildern, doch halte ich mich absichtlich nicht an eine streng chronologische Folge, sondern greife nur die Ereignisse und Situationen heraus, von denen ich annehmen darf, daß sie auch Fernerstehende einigermaßen zu interessieren geeignet sind. Wenn Goethe recht hat mit seinem schönen Satz, daß Gedächtnis Sache des Herzens sei, so muß ich ein eindrucksvolles Herz besessen haben, denn meine nächsten Verwandten haben viel von gemeinsamen Erinnerungen längst vergessen und gedenken ihrer erst wieder, wenn ich sie z. B. auf den »Küstertagen« (Zusammenkünften aller der Familie meiner Mutter Zugehöriger) vor den zahlreichen Onkels, Tanten, Vettern und Basen wieder herauskramte. Wie oft habe ich da mein Gedächtnis mit erstauntem »Richtig! ja so war es!« rühmen hören. Mir will aber scheinen, als sei bei unserm Erinnern an Erlebtes der Grad der Dankbarkeit, deren wir fähig sind, stark mit beteiligt.

Zwei Diener hat das Gedächtnis:
Die Hoffnung und die Dankbarkeit,
Ihr Stein und ihr Vermächtnis
Vergolden alle Zeit.

Wahrlich, zur Dankbarkeit hatte ich alle Veranlassung in den sonnigen Tagen meiner Jugend, die überstrahlt wurde von der Liebe meiner Mutter und der Schönheit ihrer Heimat auf der Insel Wollin, von der ich jetzt erzählen will. Traurig um den Sohn, der nicht das Gefühl gehabt hat in seiner Kindheit, daß seine Mutter das beste Wesen der Welt sei. Nichts ist verhängnisvoller, als eine böse Mutter gehabt zu haben. Unsere ganze Gemütstiefe wird gefärbt durch die mütterliche Wesensart. Das ist besonders wichtig für den Mann, der meiner Meinung nach dem ganzen weiblichen Geschlecht so gegenübersteht zeit seines Lebens, wie er im tiefsten Innern von seiner Mutter Weiblichkeit, Wissen und Durchschauen gewonnen hat. Man steht in der Art der Mutter die ganze Weiblichkeit im Guten wie im Schlechten. Wer einmal die ganze Tiefe der Mutterliebe segnend über sich empfunden hat, wird auch (trotz alledem!) niemals über ein Weib ganz schlecht denken können, wie umgekehrt die Erlebnisse mit einer schlimmen Mutter stets einen unauslöschbaren Verdacht gegen das Weib als solches hinterlassen werden. Hier steckt sicher der Grund zu der Weiberfeindschaft (Misogynie) eines Schopenhauer, Nietzsche, Strindberg und Weininger, und hier die Kraft Goethes, Frauencharaktere durchgehends zwingend wahrer und hinreißender schildern zu können als männlich echte (vielleicht mit der alleinigen Ausnahme des Götz und des Mephisto). Das trat denn später auch in den tausendundein-nächtigen Gesprächen zwischen Strindberg und mir über die Frau zutage, in denen ich stets den einem Riesen gegenüber undankbaren Part des Heinrich Frauenlob zu vertreten hatte. Übrigens gab Strindberg zu, daß er die Verachtung und die stetige Verdächtigung des Weibes an sich aus den offenbaren Schlechtigkeiten (Verleitung zur Lüge, innere Unwahrhaftigkeit) seiner Mutter in sein weiches Kinderherz eingesogen habe. Der Unglückliche! Bei seinen Erzählungen, oft viel gravierender noch als die herzzerreißenden Anklagen in dem »Sohn einer Magd«, rannen mir oft Schauer der Dankbarkeit gegen meine gute alte Mutter über den Rücken, von der ich nichts als Liebes weiß, die an nichts dachte als an unser Glück, auch selbst, wenn sie der Gram fast zu Boden drückte. Sie war 18 Jahre glücklich an der Seite meines Vaters, dann kam das Schicksal und warf ihr das einzige höchste Glück, die Liebe ihres unendlich hochgestellten Gatten, vor die Füße.


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