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XXIV.

Des Lebens goldene Schlüsselein

Eines schönen Sommertages, als sie dicht am wallenden Schleiertuch der Wellen lagerten, sagte Aldebaran: »Else, mir müssen uns einmal die kleinen Schatzkästlein, die der Feurige auf seinem einsamen Stern zimmerte, in denen das Edelsteinchen der eingefangenen Sonnenfädchen geborgen lag wie eine Perle in der geschlossenen Auster, etwas genauer ansehen. Denk', welch eine wundersame Kraft hier gefesselt lag in diesen Splitterchen der Sonne! Hat sie nicht alles gemacht, die große Mutter, Licht, Leben, Odem und Form, und rang sie nicht die Planeten ihrem Feuerherzen ab, so daß sie jetzt um sie herumlaufen wie die Küchlein um eure Henne? Was kann ihr Zauberstab alles hervorlocken aus der Luft: Das Reich der Wanderwolken, die segnenden und vernichtenden Gewalten der Winde, die wilde Macht der Wasserströme, das Gewitter! Was aus der Erde: Die Jahreszeiten mit allen Gaben! Was alles in der Menschenbrust und seinem Geiste! Ja, das war eine Quelle zu unendlichen Wundern, die da der milde Göttersohn vergrub und einspannte in seine zauberischen Feuerrädchen, die ja bald nach seiner Gefangenschaft in ihrer Helle schon an zu rumoren fingen. Du erinnerst dich, daß gleich in der ersten Nacht die Kügelchen aus Sonnenfädchen, Kieselkalk, Kohlenstaub und Tränen sich schon verdoppelten. Wie konnte das geschehen?

Mein Mädelchen! Wenn du das recht begreifst, hast du ein unvergeßlich Bild vom Werdegang des Seins und einen Schlüssel zu vielen Geheimnissen des Lebens. Drum gib recht acht!

Wie sahen die Schatzkästlein des ersten Lebens aus? Ein einfach Kügelchen. Du sollst es ganz leibhaftig sehen!« Aldebaran nahm einen getrockneten Halm, der völlig hohl war, tauchte ihn an der Spitze in das Meerwasser, hielt ihn der Sonne entgegen wie ein Fernrohr und schaute hinein. Dann reichte er ihn Else zum Hindurchblicken und fuhr fort:

»Ich halte dir diesen Ring, den ich vom Finger ziehe, vor dein Auge:

Blick' hindurch durch Ring und Rohr –
Kleine Wunder, kommt hervor!
Laßt euch schauen, laßt euch malen,
Wundersklaven, Sonnenstrahlen!

Siehst du, Elselein, in der Lichtscheibe den kleinen Kreis, der unaufhörlich sich um sich selber dreht? Siehst du in seinem Innern den dichteren, um vieles kleineren Fleck wie einen winzigen Rundkern in einer Kirsche? Schau' her, ich zeichne dir das alles auf.«

Und wieder benutzte er den fein polierten feuchten Sand wie eine große Tafel, und gehorsam ward Schaum und Welle zu Schwamm und Eimer, die Aldebarans Zeichenblätter mit zarter Hand einzeln und nacheinander schon so oft in die große Meermappe zurückgezogen und verwahrt hatten. Das, was er jetzt zeichnete, hatte solche Form:

»Das, Elselein, ist eine Sonnenzelle! Ihr Leib ist fein geädert, in ihrem Kern siehst du das Körbchen der gefangenen Fäden, das aufgerollte Triebrad, die gespannte Feder für die ganze geheimnisvolle, kleinste Uhr des Lebens. Links neben ihr siehst du noch Körnchen, abgesprungene Splitterchen vom goldenen Rest des Strahlenbündelchens, die du noch schätzen wirst. Denn es sind Saatkörnchen vieles Künftigen.

Wer da ein Deckelchen lüpfen könnte über dem Körbchen, dessen Geflecht du gerade noch erkennst, der könnte Wunder erleben, wie dann die kleinen Sonnenbüschel hervorbrechen und ihre Schöpferärmchen rühren würden. Solche Wunderkugeln legte also der Feurige zusammen. Da ruhten zwei dicht aneinander, etwa so:

und rieben sich gegenseitig die Wändchen wund. Wie das geschah, da hatten die klugen Kernchen schon einen Plan, dessen Ausführung ich dir in Bildern zeigen kann. Sie teilten sich in jedem Kern in zwei Hälften und zogen an den Polen ihr fesselndes Körbchen zu einer dünnen Spindel aus, indem sie tobten und pochten an den weichen Wänden ihres Gefängnisses.

Die beiden Spindeln zerrissen:

Dabei splitterten Stäubchen ihrer aufgerollten Goldfedern ab. Nun teilten sich die Spindeltöpfchen alle noch einmal und zogen ihre Fesseln immer dünner aus und wurden Schleudern, die warfen sich drehend und rollend gegen die Stelle, mit der sich zwei solcher Anfangenenzellen aneinanderdrückten, und begannen die Berührungslinie, die dünne Wand, mit der sich die kleinen Bausteine des Feurigen aneinanderpreßten, zu bombardieren und hämmerten sie entzwei.

Da umarmten sich zwei Brudersternchen in der Lücke und wanderten eins ins Haus des anderen.

Hier verschmolzen sie zu neuen Kernen, indes die Spindeln rissen und die Wände der Zellen sich wieder verschlossen.

Nun waren es wieder zwei Kreischen wie zuvor, aber sie hatten ihre Spannungskräfte getauscht und gemengt. Das gab ihnen eine neue Schwingungsrichtung. Alle Knäuelchen wurden zu zwei neuen größeren Bündeln.

Die machten nun dasselbe Kunststückchen der Spindelung und Abschnürung, zogen jetzt aber die Hülle mit in ihren Aufrollungsreigen,

bis sie in ihrem tollen Wirbelreigen auch diese schmäler und enger machten, und endlich zerrissen. Da waren vier Kügelchen aus zweien geworden

und jedes von den vieren konnte nun das gleiche Spiel beginnen von Spindelbildung, Kerntausch und Abschnürung, so daß dann aus den vieren 8, 16, 32, 64 wurden und so fort:

Die wuchsen sich jedes zu seiner vollen ursprünglichen Größe aus, weil sie es verstanden, neue Sonnenstrahlen in ihr Netz zu fangen. Sie machten es dem Feurigen nach und fingen sich aus den sie umspielenden Sonnenfädchen Brüder, die sie im Kampfe mit ihrer Hülle unterstützen sollten. Aber auch die Hülle wuchs, nahm neuen Kieselkalk in ihre Kammern, und so ging und geht das Spiel von Kernkreiseln, Spindeln, Strahlentausch, Teilung von da bis in alle Ewigkeit!

Damit du mich ganz verstehst, Else, wiederhole ich in meinen Bildern noch einmal das alles in diesen Zeichnungen, die zusammengezogen sind:

Aneinanderlegung, Kerntausch, deren Verschmelzung, Teilung.

Wenn du das alles auch wieder vergessen solltest – es ist nicht gar so wichtig – das eine nur behalte, daß Kern zum Kern wandern kann und das Wunder der Teilung anregt. Ein solches Sonnenknäuel ist wie ein Zauberschlüssel; er dringt ins Schloß des Gefangenen und schließt die Federn auf, mit denen sich des neuen Lebens goldene Räder drehen. Das Leben schläft in winzigstem Gemach wie eingepreßter Sonne verzauberter Geist, dann kommt der Kuß des freien, schwärmenden Wanderkernes, und alle Fesseln springen, und befreite Sonne baut alle Hütten, Burgen und Gemächer lieblichsten Lebens. Fällt dir da nicht euer schönes Märchen vom Dornröschen ein, das für uns Geister einen Strahl der Deutung auf das Geheimnis allen Lebens wirft? Des Ritters Kuß ist der goldene Schlüssel der kleinen Sonnenkerne, er reißt die Hemmung fort, er hebt den Stein, und des Lebens Spindel webt des Lebendigen tausendfältige Teppiche. Es schwirrt die Luft von Schwärmen solcher goldenen Zauberstäbchen, in allen Wassern rauschen ungesehene Milliarden ihrer Ebenbilder, und Erde, Pflanzen, Tier und Mensch sind Träger solcher Leben erweckender Scheibchen und geheimer Dietriche. Ein solches Schlüsselkörbchen voller ungeduldig rasselnden Wunderhebeln ist überall, und überall auf Erden sind Schlösserchen, die aufspringen wollen für die Millionen winziger Baumeister des Lebens im Dienst der Sonne!

Nun will ich dich noch weiter führen in die Labyrinthe der Geheimnisse, du mußt noch vieles sehen, um das Leben recht zu deuten. Scheint dir es nicht grausam, daß dort die Möwe nach Silberfischen schießt und sieh', – schon einen in den Fängen hält, um ihn dort auf dem Stein zu verschlingen? Dünkt es dich nicht widerlich, daß alles auf Raub geht und Vernichtung? Zermalmt nicht Leben immerfort das Leben, um zu leben? Sind Pflanzen, Tier und Mensch nicht Räuber, die sich zerreißen und zerstücken? Ja, Elselein! So scheint's! Doch mit unserer Formel vom goldenen Lebensschlüsselein schließ' ich auch dir dies furchtbare Wunder auf! Dann liest du's anders in dem Buch der Welt.

Im Anfang fielen des wilden Gottessohnes geformte Einzelblüten in das Meer. Denk' an des Feurigen Spielwarenfabrik, die der Geist des Alls zerschlug zusammt dem Stern. Von Alls zerschlug zusammt dem Stern. Von Sternenwiesen fiel die Saat auf dieser Erde Flutengürtel. Nur auf dieser Erde Flutengürtel. Nur wenig Veste ragte aus dem Wasser. Beseeltes gab es also im Beginn des Lebens nur in dieser winzigen Form unserer Sonnenkügelchen im Schleierkleid von Kohlenkieselflimmern.

Das waren des Meeres Erstgeborene.

Durch dieses kleine Rohr im Schein der Sonne und emporgezaubert durch meines Fingerringes Stein, sahst du soeben einen solchen Sprossen des Millionen Jahre alten Urstammes der Geschöpfe: dies winzig Lebewesen ›Zelle‹, das sich bewegen kann, indem es ungeformte Beinchen ausstreckt. Sieh' es noch einmal an!

Es kriecht dahin, getrieben von dem Räderwerk des Kerns, der ja ihr Feuerseelchen trägt. Leib und Idee eng aneinander eingeschlossen im kleinsten Raum. Das Sonnenflöckchen erzwingt sich Bewegung. In unaufhörlichem Bemühen drückt es dem Klümpchen Erdenstaub Form und Gestaltung auf. Denn Sonne hat formende Gewalt in ihren kleinsten Knäueln und Splitterchen!

In dieser kleinen Räder Mühlenwerk macht sie des eigenen Mörtels Kräfte frei, sie löst und bindet die Kristalle aus Kiesel-, Kohle-, Kalkgefieder und läßt ihre Säfte ätzen, wenn andere Erdenstäubchen in ihres Leibes weiche Masse sich einpressen. Sie baut ihr eigen Haus mit diesen fremden Eindringlingen und schafft sich ihr Skelett mit allem Schönheitswillen ihrer Schöpfermacht. So bildet sich ein formlos Kügelchen schon um zu einem Wunderstern aus einer viel durchlöcherten Kalkschale, durch deren winzige Öffnungen ihres weichen Leibes Fädenärmchen ausstrahlen.

Der Stoff ist spröde und ungefügig. Je verschiedener das Baumaterial, das unser Sonnenkügelchen in sich verarbeitet, desto vielgestaltiger wird auch ihr Leib. Denn die Kristalle der verschiedenen, im Meeressand gemengten Felsenstäubchen aus der Erde Panzerkleid haben ja verschiedene Richtungen ihrer Spaltbarkeit, und die fernsten Bausteinchen eine unbeschreiblich mannigfache Form. So ist die bildende Idee immer abhängig vom Material, mit dem sie zu rechnen und zu schalten hat. Je feiner der Stoff, an dem sie ihre göttliche Abkunft offenbart, um so reiner in ihrem Schönheitswillen tritt sie hervor! Wo sie mit Wassertröpfchen arbeitet, da formt sie Heere schöner Wolken und die phantastischen Schleier der Nebel, im Schneeflöckchen richtet sie um winzige Gerüste feinster Sonnenstäubchen ihre sechseckigen Wunderspindeln, mit Luft und Wasser formt sie Schaum und Brandung, und im Kristalle wallt ihr farbenglühendes Gewand, im Regenbogen ihr buntes Seidenband. Hier in den ersten zitternden Gallerten des Lebens lagert sie die Kieselspangen um die Kalkflimmer, so schön, wie nur je ein gelernter Goldschmied zu Kreuzen, Körben, Ketten, Panzerstückchen und Spitzengeweben aus silbernen Fäden. Schau' dir doch einmal diese Pracht in unserem Wunderröhrchen an!« Und wieder begann das Spiel mit Rohr und Zauberring, und Aldebaran zeigte Else Aug' in Auge leuchtender die umstehenden Bilder, die er schon einmal auf die glitzernde Eistafel gezeichnet hatte.

»Und immer erhielt sich Wesen um Wesen durch Aneinanderlegen und Kernentausch und Schlüsseleinarbeit, und je mehr Formen miteinander verschmolzen, um so vielgestaltiger wurden die Kleider der Wesen. Da wurde einst ihre Zahl so unendlich, daß sie das Meer durchsetzten wie Schlamm, und sie erstickten in dem Kampf um Feuergas, mit dem sie allein ihre Räder treiben konnten. Ihre Milliarden erstickter Leibchen fielen wie ein dichter Schnee nieder, aus dem nun die gefangenen Sonnenstrahlen in die Freiheit hervorbrachen. Da kam die Not, des Atemmangels schwere Faust, und lag auf allem Leben und drohte es zu erwürgen. Und siehe! Die Sonnenflöckchen neben den Kernen wußten Rat: jene verlorenen Splitterchen vom Federtausch und Kerngewühl lernten es, von einer Zwittergestalt des Feuergeistes zu leben, von seinem Bund mit Kohle, die sie ja reichlich in sich hatten, dem Kohlengas.

Da spaltete sich die Welt des Lebens in zwei große Lager: in solche, die mit Feuergas und solche, die mit Kohlengas atmen. Die Kohlengaskörnchen nahmen vom Meer die grüne Farbe und sind die Stammesgeschlechter aller Pflanzen geworden. Schau' hier eine solche kleine Pflanzenvenus, die schaumgeboren aus dem Meere stieg und einst die jungfräuliche Erde mit allem Frühlingsgrün und Blumenbunt, mit Waldeszier und allen Früchten schmücken sollte!« Dabei zeigte er ihr eine kleine grüne Alge.

»Die andern aber, die nun wieder Feuergas genug zu schöpfen hatten, wurden durch mannigfachen Wandel im Lauf der Zeiten Tier und Mensch.

Das aber ist auf beiden Seiten ein weiter Weg – von der kleinen grünen Alge, die du hier siehst, bis zum Eichenbaum, und von dem kleinen Wasserpolypen, den ich dir eben zu Gesicht brachte, bis zum Menschen – er führt durch Jahrmillionen! Aber einige der hervorragendsten seiner Wegstraßen wollen wir doch durchwandern, nur so kommen wir zum Verstehen der Mittel, deren sich Natur bediente, um zu der scheinbaren Gewalttätigkeit des gegenseitigen Zerstörens zu gelangen. Behalt' es gut: die Not hat eine Faust, die Formen erzwingt. Sie ist es, die die kleinen Polypen genötigt hat, sich in Kolonien zu vereinigen, zu großen Korallenstöcken, an denen Schiffe zerschellen, sie machte durch ihre Hemmungen immer neue, bildende Kräfte mobil, die also im Wesen der Zellenkraft gelegen sein müssen. Welches sind diese Baumeister, die immer neue Wege finden, sich den veränderten Bedingungen anzupassen?

Es sind unsere kleinen Zauberschlüsselchen – die Kerne. Wenn Urwesen ihre Sonnenknäuelchen austauschen, so tauschen sie auch ihre Fähigkeiten, die sie schon erworben haben. Im Anfang der Zellenvereinigung fällt Ernährung und jedes Erschließen neuer Bewegungs- und Bildungseinrichtungen, die ihr Menschen Befruchtung nennt, durchaus zusammen. Die Wesen öffnen, indem sie sich miteinander auch durch Nahrung verschmelzen, gegenseitig ihre Vorratskammern der Bildungen. In der durch ewigen Tausch vielfach begabter Kernsplitterchen und Knäuelflöckchen vorbereiteten Bildungsmasse sind die Keime zu allen Formen vorhanden. Tier und Pflanzenwesen haben sich durch alle Zeiten hindurch sich verzehrend gemischt und mit den Kernen übersät. Denn diese Wunderknäuel sterben nicht, sie werden niemals mitverdaut, sondern es sind Saatkörner, die auf alle Gebiete des Leibes gleichsam zur Reserve und Bildung erforderlicher Abänderungen ausgesät werden.

Erinnere dich, als wir in den Eingeweiden jenes Knaben unser Schifflein steuerten – sahst du in den Wänden des Magens die kleinen weißen Blutkörperchen aufgehäuft, wie jene große Zahl von Kähnen dort, die deines Vaters Kalk verladen wollten? Sie harrten auch auf eine Fracht, und diese Fracht waren die alles vermögenden Kerne vieler Zellen aus Pflanzen- und Tiernahrung, die goldenen Schlüsselein des vielgestaltigen Lebens. Die tragen sie an die einzelnen Teppiche der Gewebe und säen, wo es not tut, ihre Lebenserwecker aus. Denn jede feste Zelle schläft und kann im Notfalle durch ein Schlüsselein geweckt werden, dann erneut sie sich, genau wie unsere Urzelle. So kann die Wunde heilen, weil Saatmännerchen die zerrissenen Zellen neu befruchten und sie zu neuen Bünden, gleichsam neuen Korallenstöckenbauten, veranlassen. Sie schließen ihnen des ergänzenden Lebens Tore auf. Wenn wir diese Qualle hier zerschneiden, so wächst jede Hälfte, ja jedes Viertel zu einer neuen Qualle aus. Was befähigt sie dazu? Die goldenen Reserveschlüsselein, die sie aus der Nahrung von allen nur möglichen kleinen zermalmten Wesen ausgesiebt hat. Nahrung ist nicht nur Heizung und Maschinendampf, sie ist auch Aufspeicherung von Tier- und Pflanzensaat für die Erzeugung verloren gegangener Teile. Durch jahrtausendlange Anpassung sind Unterschiede im Bau nur so zu deuten, daß die Faust der Not diese oder jene Lebensgewohnheiten und Bildungen verkümmern ließ und damit zugleich von Reservefähigkeiten das langbewahrte Schloß nahm. So kamen andere Möglichkeiten, die lange geschlummert hatten im Grunde geheimer Verstecke, zur endlichen Geltung. So kann Lungenatmung an die Stelle der Kiemenatmung treten, wenn Tiere gezwungen werden, an das Land zu gehen, weil in jedem Leibe die Möglichkeiten zu wechselnden Tätigkeiten unbeschränkt vorhanden sind, und zwar durch Jahrtausende langen Tausch von Kernen aller Lebensformen untereinander direkt und indirekt.

Die kleinen Wasserpolypen fressen Rädertierchen und kleinste lebende Häutchen, die das Meer durchschweben, Fische fressen die Polypen, die Fische werden von Vögeln ergriffen, die Vögel schießt der Jäger. So erhältst du durch unendlich langen Kreislauf Kerne, die einst den Korallen angehörten und, glaub es mir aufs Wort, mit diesen kalkbildenden Kernen bildest du deinen Knochen, wächst mit ihm und baust ihn wieder auf, wenn er bricht. Deine Haare, deine Nägel erzeugen sich neu, wenn du aus der Nahrung die Kerne bekommst, die gerade solche Mutterböden suchen und finden. Denn mit dem Kreislauf der Kerne geht der der besonders geformten Zellen und ihrer Bildung einher. Die Pflanzenkerne tun dir not, um viele der Zellen zu bilden, die richtige Säfte für dich produzieren. Du bist ein großer Polypenstock von Zellen, die alle ihre angepaßte Bestimmung haben, und der sich erneut durch aufgespeicherte Armeen unserer kleinen, goldenen Lebensschlüssel. Aber auch zu neuen Formen würde vieles erwachen, wenn durch Jahrtausende Mensch und Tier die Faust der Not auszuweichen zwänge. Euch könnten Schuppen werden, Flossen, Schwimmhaut und Flügel, wenn es die Not erheischt. Denn zu allen solchen Bildungen habt ihr die Anlage in euch, durch stetig wechselnde Nahrung mit euch verschmolzen! Um Mensch und Tier und Pflanzen diese ihre Anpassungsfähigkeit und ihre Ergänzungsfähigkeit unter allen Umständen zu sichern, dazu ist dieser Tausch der Kerne, dieses ewige Kartenwechseln, dieses Durchschütteln der Schlüsselbunde von Leib zu Leib unerläßlich nötig – das ist der tiefste Sinn der Ernährung, Else, und darum muß dir die gegenseitige Vernichtung in milderem Lichte erscheinen, im Glanze einer vorbedachten Bestimmung! Ihr alle steht im Dienst der allgemeinen und gesamten Idee des Lebens, das euch einst dafür wegen dieser Schaffung immer neuer Möglichkeiten zu höchsten Höhen erheben wird!

Wenn einst dein Leib zerfällt, Else, so gibst du deine Schlüsselein zurück an den Reigen kreisender Sonnenknäuel und hilfst mit den Zutaten deiner reinen Menschenseele alle die Lebenswesen heben und steigern, die deine Saat empfangen. Denn deine Seele, die diese Schlüsselein in den Gemächern deines Leibes regiert, ist eine ganz prächtige Haushälterin! Sorge jeder sich darum! Sie aber, die Seele selbst, dieser Hauch aus goldener Schale, die zu dir kam, als Gott die Spielwaren des Feurigen segnete, sie wird dann in andere Sphären berufen, wo sie ganz anderer Schlüsselein bedarf, um in das Tor ungeahnter Wunder vorzudringen!


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