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Fünftes Kapitel.

Warum die Pensionsmädchen die Frau Forstmeister nett finden. – Eng und klein wie in einer Puppenstube! – »Folgen wollen, nicht müssen!« – Ein neues Leben. – Huberta meint zu ersticken und lernt einsehen, daß nicht jedermann Polizeidiener sein kann. – Das Röteli wird geduldet.

 

In der Südstraße zu St., in der das Pensionat von Fräulein Lina Schindler sich befand, war den ganzen Tag eine große Aufregung. Vor vierzehn Tagen war Fräulein Schindlers Schwester, die Frau Forstmeister Hagen, eingezogen. Sie hatte mit ihrem lieben, freundlichen Wesen sofort die Herzen aller Pensionäre gewonnen.

»Sie streicht die Butterbrote bedeutend dicker, als es vorher der Fall war,« sagte Marie Huttenlocher, eine Müllerstochter vom Lande, die immer einen ganz besonders großen Hunger hatte.

»Sie hat etwas Feines trotz ihrem einfachen Anzug,« sagte Marie Luise von Gundlach, bei der das Wort »fein« oder »vornehm« in ihren Urteilen obenan stand.

»Sie ist wie ein Mütterlein – mir hat sie einen Kuß gegeben, weil ich so Heimweh hatte,« sagte Klärchen Schulze, eine Pastorstochter, die sich noch gar nicht im Stadtleben zurechtfinden konnte.

»Bis jetzt gefällt sie mir auch,« urteilte Amalie Zeller, die hinter einer Strafaufgabe saß. »Aber im voraus jemanden loben ist allemal nichts, und gebt acht, 's ist halt künftig nur eine Aufpasserin weiter! Sie hat mich vorhin schon so merkwürdig angesehen, weil ich vorne meine Bluse mit einer Nadel zugesteckt hatte, und man kann doch nicht jeden abgerissenen Knopf sofort wieder annähen!«

»Das tust du wahrhaftig nicht! Aber diese Schwester ist eigentlich viel netter und freundlicher als Fräulein Schindler,« bemerkten ein paar andere Mädchen.

Worauf Rosemarie von Bergen begeistert sagte: »Einfach goldig ist sie, ich fange schon an für sie zu schwärmen!«

»Natürrlich, schwärrmen; Rrosemarie fängt schon wiederr an zu schwärrmen,« spottete in gutmütiger Weise ein ziemlich großes, ganz dunkeläugiges Mädchen mit schwarzen Haaren und fremder Mundart. Es war Zoe Robesko, eine junge Rumänin, der die deutsche Art, sofort begeistert für irgendeine Person zu sein, gänzlich fern lag.

»Wie wohl ihre Kinder sein werden?«

Diese Frage war heute die wichtigste, denn Huberta und Annele wurden mit dem Fünf-Uhr-Zuge erwartet und sollten dann beim Nachtessen den Mädchen vorgestellt werden.

Frau Hilde hatte sich, so gut es ging, in den zwei Stuben oben im vierten Stock eingerichtet. Recht eng standen die lieben Möbel aus dem Forsthause, – die vom Wohnzimmer und das Klavier und der Schreibtisch aus der besseren Stube. In dem kleinen Gemach sollte fürder die Mutter mit Annele schlafen. Vorn am Fenster, durch einen schiebbaren Vorhang getrennt, war neben Mutters Arbeitstisch, der bis jetzt noch nicht oft benutzt worden war, ein kleiner Spielwinkel für Annele eingerichtet. Huberta mußte auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen. Hinter einer spanischen Wand verbarg sich ihr Waschtisch und Kleiderschrank.

Immer wieder ging Mutter durch die kleinen Räume, ordnete Hubertas Schulbücher auf ein Brett an der Wand und setzte Anneles Puppen frisch angezogen auf ihre Stühlchen. Daneben auf dem Kindertisch in dem kleinen Kochgeschirr waren Schokolädchen, Mandelplätzchen und Feigen zum Empfang eingerichtet. Eine große Schokoladentafel für ihre Älteste lag auf deren Lerntisch. Auf diesem stand auch ein blühender Primelstock, an den sich eine Spruchkarte anlehnte, die hieß: »Der Herr lasse dich das Gute wollen!«

Nun waren die Mädchen im Hause. Mutter hatte sie von der Bahn geholt und mit innigem Glücksgefühl an ihr Herz gedrückt.

»Gottlob, daß ich euch wieder habe, – ach gottlob!« Dann waren sie zusammen in der Straßenbahn nach der Südstraße gefahren, wo Tante Lina sie freundlich empfing und den Wunsch aussprach, sie möchten sich möglichst bald hier heimisch fühlen.

Ein entsetzter Blick traf aber auch hier sofort das vergitterte Kästchen, das Huberta krampfhaft in der Hand hielt, und in dem Röteli die Reise mitgemacht hatte. Das Tierchen zerrte und riß an dem Drahtgitter, und Huberta hatte Mühe, das Kistchen zu halten. Aus verschiedenen geöffneten Türspalten lugten blonde und braune Mädchenköpfe neugierig hervor.

»Sie haben etwas Lebendiges mitgebracht, denkt euch, in einem Käfig, – das wird lustig,« flüsterten sich die Mädchen zu. Und in der Schulstube, wo sie ihre Aufgaben machen sollten, entstand darüber sofort ein großer Jubel. Weniger groß über diese Überraschung war Tante Linas Freude. Noch ehe die Mädchen Hüte und Mäntel abgelegt, fragte sie: »Was habt ihr denn, ums Himmelswillen, da drinnen? Ich will nicht hoffen, daß es etwas ist, das die Hausordnung stört?«

Ängstlich suchte Huberta das scheue Tier mit begütigenden Worten zu beschwichtigen. Die Mutter aber beeilte sich zu sagen, daß es nur ein Eichhörnchen, ein recht wohlerzogenes, sei, das sein eigenes Ställchen habe, und von dem gewiß nicht die geringste Belästigung zu befürchten sein werde. Etwas leiser sagte sie, zu der Schwester gewendet: »Die Kinder lieben es so sehr, und es ist das einzige Tierlein, das ihnen von ihrer kleinen Sammlung im Forsthause geblieben, und das ich ihnen erlaubte mit hierher zu nehmen.«

Die Tante schüttelte bedenklich den Kopf, schwieg aber hernach, und es wurde im Wohnzimmer darauf von den hungrigen Kindern gern Kaffee getrunken und Kuchen gegessen.

»Nett ist's, Mämmeli, wie in einer Puppenstube,« sagte Annele vergnügt und nahm jauchzend sofort ihre langentbehrte Rosenrot auf den Arm, die ihr ordentlich die Ärmchen entgegenstreckte. Auch die uralte Puppe Lila, das Wickelkind, und der Puppenjunge Hugo wurden herzlich begrüßt. Dann naschte die Kleine von den guten Sachen und war selig und vergnügt mit ihren Puppenkindern. Huberta aber fand sich nicht so rasch in das, was sich ihren Augen bot, und unwillkürlich war ihr Erstes, daß sie sagte: »Ach, Mämmeli, da kann man ja kaum gehen zwischen den vielen Sachen hindurch! Und soll ich wirklich nicht mehr in einem Bett, sondern immer auf dem Sofa hier schlafen? Und haben wir denn gar keinen Gang, und gar keine kleine Küche wenigstens?« Sie fragte dies ordentlich ängstlich, als sie den Kopf zur Türe hinausstreckte und nur Schrank an Schrank in einem ganz schmalen Raume sah.

»Nein, mein Kind, so was gibt's nicht leicht in der Stadt, und vollends nicht in einem Haus mit Pensionären, wo man jedes Winkelchen ausnützen muß,« sagte die Mutter. »Nun gilt's halt, daß wir uns an das Neue gewöhnen, und daß wir froh sind, hier sein zu dürfen. Kleine Räume haben auch wieder ihr Gutes,« fügte sie begütigend hinzu.

Huberta sagte nichts mehr, das Mämmeli hatte ja auch so lieb und herzig für alles gesorgt, was nötig war, und der Primelstock erweckte ihren hellen Jubel.

»Blumen, o wie schön!« rief sie. »Und weißt du, Mämmeli, ich laß mir von Jörg noch recht viel Ableger aus unserm alten Garten schicken, und Robi besorgt uns gewiß auch welche. Du glaubst gar nicht, was für prachtvolle Blumen es auf Schloß Rieneck gibt! Die Pflanzen wir dann ein und stellen sie hier auf das Gesimse, und dem Röteli sein Kästchen stellen wir mitten unter Grün und Tannenbäumchen ... Jaso, hier gibt's aber nirgends einen Platz,« sagte sie gleich wieder enttäuscht und ließ ihren Blick vergeblich umherschweifen.

Platz zu irgend etwas Neuem gab's wirklich fast nirgends mehr, aber die Mutter meinte: »Wir lassen das Kistchen oben mit Ösen versehen und hängen es an die Fensterwand. Da hat das Röteli Lust und Sonne, und weißt du, Bertele, auf das Tischchen darunter stellen wir einige Blumenstöcke und lassen dann etwas Efeu hinaufranken, da kann die ganze Sache herzig werden.«

Huberta schüttelte sich vor Wonne. Nachdem nun die Kinder sich von der Reise hergerichtet und dem Eichhorn etwas zu fressen gegeben hatten, sagte die Mutter: »Nun müssen wir aber hinunter zu Tante Lina, die euch mit den Mädchen bekannt machen wird.«

Da sagte Huberta, schon wieder verstimmt: »Mämmeli, mir ist's gräßlich angst. Ich habe wohl bemerkt, wie sie zu allen Spalten herausguckten, wenigstens hundert waren's.«

Die Mutter lachte und sagte: »Sagen wir lieber gleich tausend! Nein, nein, ein Dutzend waren's vielleicht, und ich sag dir, es sind sehr nette Mädchen darunter.«

Das Annele hüpfte und meinte: »Ich fürcht' mich nicht, das ist lustig, unter so viel Kinder zu kommen.«

Tante Lina saß in ihrem hübschen Empfangszimmer mit dem großen Schreibtisch, den Glasschränken voll Büchern und den weißen Figuren darauf. Sie hatte ein langes Aufschreibebuch vor sich liegen, und als ihre Schwester eintrat, machte sie eben einen dicken Strich und sagte: »So, Hilde, nun habe ich alles richtig gebucht und abgeschlossen, und du kannst von heute an die ganze Verrechnung übernehmen. Selbstverständlich bitte ich dich, das Buch so zu führen, wie ich es gewohnt bin.«

Dann gab sie den Nichten die Hand, sagte, daß sie von morgen an auch eine Anstaltsschürze zu tragen hätten, strich Huberta mit der Hand über ihre stets widerwilligen dunkeln Löcklein und ging dann voraus in den Saal, in dem die Mädchen ihre Freistunde hatten. Beim Eintritt der Vorsteherin standen alle auf, einige etwas rascher als die andern, und einstimmig sagten sie: »Guten Abend, Fräulein Schindler.«

»Guten Abend, Kinder,« war die Antwort. Und dann wurden Huberta und Annele an der Hand gefaßt und als ihre Nichten den neuen Hausgenossinnen vorgestellt. Dann gingen die beiden Damen absichtlich hinaus.

Huberta, der es zu Hause nie an Keckheit gefehlt hatte, wäre jetzt der Mutter am liebsten nachgelaufen, aber schon hatten ein Paar Mädchen sich Anneles bemächtigt und sich zu ihr heruntergebeugt und gesagt: »O wie nett, daß auch einmal eine ganz Kleine kommt!« ... »Wie alt bist du denn?« ... »Bist du gerne hierher gegangen?« ... »Hast du auch Puppen mitgebracht?«

Das Annele antwortete auf alle diese Fragen sofort munter und frisch und schien sich gar nicht unbehaglich zu fühlen und gewann im Nu aller Herzen.

Huberta stand zuerst ein wenig allein. Da näherten sich ihr ein paar junge Mädchen, teils in ihrem Alter, teils etwas älter, und gaben ihr die Hand. Die eine sagte: »Du bist gewiß auch nicht gern in eine Pension gekommen? Uns allen war anfangs bange; aber jetzt ist es doch auch manchmal ganz nett hier – nicht wahr?«

Es war Klärchen Schulze, die so sprach, und Huberta nickte ihr dankbar zu, denn so war es ja. Marie Luise von Gundlach fragte, ob es wahr sei, daß sie oft auf Schloß Rieneck verkehrt habe. Die Rienecks seien entfernte Verwandte von Bekannten von ihr. Rosemarie von Bergen führte Huberta an den großen Tisch, an dem die Mädchen Handarbeiten machten, zeichneten oder lasen, und erklärte ihr ein bißchen die Tageseinteilung. Zoe Robesko, die Rumänin, die sich zuerst zurückgehalten, kam nun auch heran und fragte in ihrem gebrochenen Deutsch, in dem das R so merkwürdig rollte: »Was ist wohl gewesen in das Kiste, was Sie hatte getrragen durrch das Gang?«

Und die andern schrieen alle: »Ach ja, bitte, bitte! Was für ein Tier hast du mitgebracht?«

Da wurde Huberta munter und erzählte den Genossinnen, daß es ein Eichhörnchen – ihr Röteli – sei, ohne das sie einfach nicht gereist wäre, das habe sie Mutter erklärt, und das sie auch hier behalten wolle. Es sei ja doch das Einzige noch, das ihr von all ihren Tierfreunden geblieben sei. Nun scharten sich alle Mädchen, groß und klein, um Huberta und wollten wissen, was für Tiere sie gehabt, wie sie geheißen, und wo sie wohl seien, und Huberta erzählte mit glühenden Wangen, und das Herz ging ihr auf beim Schildern von all ihren Lieblingen. Als sie mitten drin war, kam Mademoiselle Camille Boulanger, die französische Lehrerin, und nachher Miß White, die Engländerin, denen die zwei Ankömmlinge auch vorgestellt wurden, und die sich dann auch mit ihren Arbeiten dazusetzten. Nun durfte auf einmal nicht mehr Deutsch gesprochen werden, und da Huberta nur wenige Worte von den fremden Sprachen konnte, so war sie plötzlich wie aufs Trockene gesetzt. Wohl begrüßten sie die beiden Damen auch recht herzlich. Miß White sagte: » How do you do?«

Das hieß: »Wie geht es dir?« – Und Mademoiselle Camille, die wußte, daß Huberta noch nicht Französisch konnte, zwang sich sogar zu Deutsch und fragte: »Ick 'offe, Sie werden sehr schnell verstehen lernen das Französisch! Allons, wir wollen gleick damit anfang! Was 'eißt 'ier: die Tisch? Wisse Sie das?«

Huberta wußte es leider nicht.

»Oder das Stuhl? Oder die Mädchen?«

Huberta wußte alles nicht und schämte sich sehr. Gerade diese Wörter und noch verschiedene andere hatte die alte Frau Gräfin auf Rieneck versucht ihr beizubringen. Aber es war ihr langweilig gewesen, und sie hatte es nicht behalten. Ach, wie langweilig war überhaupt das Sprachenlernen! Vor dem war ihr am meisten angst. Aber das sah sie wohl ein, hier mußte es eben sein, und sie sprach die Wörter, die Mademoiselle Camille ihr mehreremal vorsagte, geduldig nach. Miß White meinte: »Ich glaube, mit dem Englischen uollen uir lieber noch ein bißchen uarten, ueil zwei Sprachen auf einmal zu viel sind.«

Das Annele hatte sich um all das, was da drüben gesprochen wurde, noch keine Sorgen zu machen, und sie und ein paar Kleine, die aber immerhin etliche Jahre älter waren als sie, spielten vergnügt in einer Ecke mit ihren Puppen. Das Annele hatte auch schnell alle ihre Kinder dazu heruntergeholt.

Um halb acht Uhr ging's zum Nachtessen, das an zwei langen Tischen eingenommen wurde, an deren einem Ende Fräulein Schindler saß, an dem andern die Frau Forstmeister, wie sie auch von den Mädchen genannt wurde. Die Lehrerinnen wechselten je nach der Sprache, die an dem betreffenden Tisch gesprochen werden sollte, mit ihren Plätzen ab. Huberta und Annele durften heute noch bei der Mutter sitzen, was ein gutes Gefühl war, und da sie noch keine Aufgaben zu machen hatten, durften sie auch nach der Mahlzeit sich von den Damen verabschieden und mit der Mutter hinaufgehen. Die meisten der Mädchen sagten schon recht freundlich »Gute Nacht!«. Marie Luise von Gundlach drängte sich noch geschwind zu Huberta und flüsterte ihr ins Ohr: »Paß nur recht auf, was du heute nacht träumst! Das, was man an einem neuen Orte, wo man zuerst schläft, träumt, geht in Erfüllung.«

Nun saß die Mutter mit ihren Kindern, nach denen sie sich so sehr gesehnt hatte, wieder einmal beisammen. Freilich, ihr Bub, der fehlte. Sie saßen um den runden Tisch aus dem Eßzimmer des Forsthauses. Die gewohnte Lampe hatte die Mutter angezündet, obgleich man hier nur drehen durfte, um elektrisches Licht zu haben. Aber heute sollte alles möglichst so wie einst sein, und nun erzählte und plauderte ein jedes darauf los. Denn wie viel hatte man in der kurzen Zeit der Trennung schon erlebt! Von der Großmutter war auch ein langer Brief gekommen, den das Mämmeli ihnen vorlas, und in dem sie ihre Reise und ihre Ankunft bei Onkel Jakob schilderte.

»Schön ist's in meiner lieben einstigen Heimat am Vierwaldstätter See, und der Onkel ist, glaube ich, recht froh, nun seine alte Schwester bei sich zu haben,« schrieb sie. »Aber trotzdem bin ich hier noch nicht wieder daheim, und mein Herz sehnt sich nach Euch – besonders des Abends, wo ich nicht mehr an die Betten der Kinder kommen und mit ihnen beten kann. Es war eine glückliche Zeit, wie wir alle zusammen einen Weg wandeln durften. Aber gelt, liebe Hilde, auf dem neuen Weg, den ein jedes von uns nun geführt wird, wollen wir daran festhalten, daß der treue Hirte auch da uns vorangeht, und daß es am leichtesten für ein jedes sein wird, wenn wir Tag für Tag ihm folgen wollen, nicht müssen

Das Mämmeli legte den Brief, als sie ihn gelesen hatte, beiseite und sagte: »Das ist ein guter Schluß, den wollen wir uns recht gründlich merken.«

Dann aber waren die Kinder recht müde und freuten sich auch, in ihre neuen Betten zu kommen, wobei Huberta das Sofalager gar nicht so übel fand. Vorher aber vermißte sie gewaltig die Hilfe der Jungfer beim Ausziehen, und sie war nun so daran gewöhnt, daß sie die Röcke einfach fallen ließ und ihre andern Kleidungsstücke recht unordentlich auf einen Stuhl warf. Das Mämmeli sagte erstaunt: »Ei, ei!« hob alles auf und ordnete es. Heute wollte sie nicht mehr tadeln, aber Huberta empfand doch den stillen Vorwurf. Ach, herrlich war doch das Verwöhntwerden gewesen!

Und nun kam das neue Leben. Um halb acht Uhr wurde unten im Speisesaal gefrühstückt. Marie Luise drängte sich gleich an Huberta heran und fragte eifrig: »Was hast du geträumt?« Aber Huberta wußte wirklich von nichts zu erzählen, sie hatte wohl gar zu fest geschlafen, und Marie Luise sagte ganz enttäuscht und fast vorwurfsvoll: »Dumm ist's, – man träumt doch was!«

Die Kinder hatten gleich den andern große, weiße Schürzen mit roten Punkten erhalten, was hübsch einheitlich und freundlich aussah und die Pensionäre zwischen den Externen – den Mädchen, die aus der Stadt zum Lernen kamen, – leicht erkenntlich machte. Das Annele kam sofort in die unterste Klasse, da gab es keinen Anstand; sie freundete sich auch schon am ersten Vormittag gleich mit all den kleinen Mädelchen an und verkündete strahlend der Mutter, sie habe schon »sieben beste Freundinnen«.

Huberta hatte zunächst eine Prüfung durchzumachen, und da stellte sich heraus, daß sie in allen Fächern noch recht zurück sei, daß man aber trotzdem wegen ihrer guten Anlagen versuchen wolle, sie in die Klasse ihrer Altersgenossinnen einzureihen, in der Hoffnung, daß sie sich durch Fleiß mit der Zeit heraufarbeiten werde. Sie wurde zwischen Marie Huttenlocher und Rosemarie gesetzt; zu beiden Mädchen empfand sie von Anfang an Zuneigung. Aber ganz und gar nicht gewohnt war das die Freiheit liebende Kind an den stundenlangen Zwang. Früher, in der Dorfschule und dann bei den Privatstunden daheim oder im Schloß, war's mit ein paar Stunden täglichem Lernen abgetan. Und nun hier dieses Festsitzenmüssen von morgens acht bis zwölf Uhr und des Nachmittags wieder! Und dann noch die Aufgaben, und schließlich, was das allerärgste war, die fremden Sprachen!

»Ich hasse diese gräßlichen Fremdsprachen!« entfuhr es Huberta oft leidenschaftlich. »Und ich mag, und ich will eben nicht in einem fort gezwungen werden zu etwas, was mir einfach zuwider ist!«

Da schüttelte das Mämmeli betrübt den Kopf und sagte: »Immer wieder das alte ›Ich will nicht!‹, mit dem du dir noch den Kopf einrennst, und schließlich mußt du doch, weil's nicht anders geht! Denk doch an das schöne Wort, das die Großmutter geschrieben: ›Folgen wollen, nicht müssen!‹«

Das Mämmeli hätte von sich selber erzählen können, daß es oft alle Kraft zusammennehmen mußte zum Wollen, denn auch für sie war das gänzlich veränderte Leben wahrhaftig nicht leicht. Von einem kleinen Haushalt weg, den sie gewohnt war, plötzlich einen so großen zu übernehmen, die schwierigen Rechnereien zu bewältigen, mit den Stadtdienstmädchen, die so ganz anders waren als Evekätterle, gut auszukommen und alles so zu machen, daß Schwester Lina mit ihr zufrieden war, das war auch keine Kleinigkeit. Dazu das Heimweh nach der alten Zeit und auch nach ihrem Buben, – das alles mußte ertragen und errungen sein.

Robi schrieb regelmäßig jede Woche einen Brief, und es war immer ein Fest, wenn dieser kam. Er berichtete nett und gewissenhaft, was sich alle Tage ereignete, aber das Mutterherz vermißte doch manches. So wohltuend es war, daß ihr Bub immer am Schluß des Briefes tausend Fragen stellte, wie es ihr und den Schwestern gehe, so auffallend war ihr, daß er gar nie von seinen eigenen Gefühlen schrieb, nur Tatsachen, und das sah seiner offenherzigen Art gar nicht gleich. Im letzten Brief hatte er angedeutet, daß der neue Herr Forstmeister, ein lediger Herr, einen Besuch aus dem Schlosse gemacht und gesagt habe, er lasse gar vieles im Forsthause verändern.

»... Denk' Dir nur, Mämmeli, er hat unser liebes altes Haus eine Baracke genannt und hat die grüne Tapete mit den Ährenbüscheln im Wohnzimmer und die liebe, herzige mit den Chinesen in unserm Kinderzimmer herunterreißen lassen! Jörg, der mich manchmal besucht, ist auch ganz entrüstet darüber, denn auch im Garten wurden die Buchsbaumeinfassungen, die Laube – Mutter, unsere Laube! – und unsere Stachelbeer- und Johannisbeerstöcke einfach weggerissen. O Mämmeli, mein Lebtag geh' ich nicht mehr dahin, wo jetzt alles anders ist!«

Hatten diese paar Sätze schon Frau Hildes Herz mächtig bewegt, so waren es noch mehr die Tränenspuren, die sichtlich daneben waren. Um so glücklicher machte sie darum eine erst heute eingetroffene Karte des Inhalts:

Mämmeli! Mämmeli!

Denk' Dir nur, wir machen eine Reise in die Schweiz, und ich darf mit! Und wo geht's hin? An den Vierwaldstätter See, und der Pate und die Patin haben mir erlaubt, die Großmutter zu besuchen, und vielleicht gehen sie auch selber mit. Gelt, so was! Wenn Du ihr was schicken willst, kann ich es gut mitnehmen. Siegi freut sich auch schrecklich auf die Reise und Herr Hausmann auch. Am meisten aber, und er kann es gar nicht mehr erwarten,

Euer sich gräßlich freuender
Robi.

Ja, so etwas! Die Mutter strahlte ordentlich über diese Nachricht. Huberta und Annele waren fast neidisch, daß der Röbeli es so gut hatte, und alle meinten: »Was wird nur auch die Großmutter dazu sagen!«

Es war inzwischen recht heiß in der Stadt geworden und in den Schulstuben erst recht. Huberta besonders litt sehr darunter, so etwas hatte sie ja noch nicht erlebt. Wenn im Forsthause über Mittag die Sonne gebrannt hatte, so war gleich daneben so viel kühler Schatten gewesen und herrliche, köstliche Tannenluft dabei. Hier glühte die Sonne den ganzen Tag; war es auch nicht unmittelbar, so strahlten die Nachbarhäuser und der Boden die Hitze wieder aus, und in dem kleinen Gärtchen hinter dem Haus lagen die dürftigen Sträucher weiß von Staub. Die paar Blumen sahen auch verkümmert aus, und durch die Häusermauern, die es rings umgaben, kam nirgends ein frischer Luftzug. Wohl wurde jeden Tag nach Tisch oder gegen Abend mit den Mädchen ein Spaziergang von einer Stunde gemacht; es reichte da auch manchmal bis an den Waldesrand oben an den grünen Hügeln, die die Stadt umgaben. Aber auch der war nicht so herrlich grün und frisch wie Hubertas Wald, und kann hatte man ein wenig hineingeguckt, so mußte man schon wieder zurück, um Aufgaben zu machen. Nicht einmal gehen durfte man, wie man wollte; zu zweien zu wandeln, war die strenge Weisung.

Im Pensionsleben selber fand Huberta besonders vieles, worüber sie nicht hinwegkam. Recht ehrlich hatte sie sich am Anfang mit allen Mädchen gut stellen wollen, und auch zum Lernen brachte sie einen guten Willen mit.

»Gelt, Mämmeli, ich bin eben einfach lieb und freundlich mit einer jeden, dann werden sie es auch mit mir sein?« sagte sie.

Das brachte das Annele zustande. Das war harmlos vergnügt, lernte, was es mußte, und freute sich über das, was es zu freuen gab. Aber das gelang Huberta eben nicht. Bald fand sie an jedem Mädchen Fehler heraus, und dann war ihr großer Fehler, daß sie nicht darüber schweigen konnte.

»Aber das darf man doch nicht!« sagte sie gleich am ersten Tage zu Marie Huttenlocher, der Müllerstochter, die, sowie Mademoiselle Camille oder ein Lehrer den Kopf drehte, sofort aus der Tasche heraus gute Sachen naschte. »Aber man tut's, dummes Ding,« sagte diese, worauf Huberta sie schon nicht mehr mochte. Ganz erstaunt hörte sie auch zu, welche Namen die Mädchen untereinander den Damen und den Lehrern gaben. Und als sie gar erst einmal merkte, daß Amalie Zeller heimlich von Klärchen Schulze Rechnungen abschrieb, da sagte sie dieser ins Gesicht, daß das betrogen sei.

Anfangs hatten die Mädchen die frische, lustige Huberta alle gern gehabt. Dazu kam noch, daß sie die Tochter der von allen schwärmerisch geliebten Frau Forstmeister war. Das Röteli trug das Seinige auch dazu bei; denn in den Garten brachte Huberta es manchmal hinab. Es saß dann auf ihrer Schulter, und sie hielt es an einem kleinen, dünnen Kettelein, das an seinem Halsband befestigt war.

»Goldig ist es einfach!« sagten die Mädchen, und die klugen schwarzen Äuglein des Tierchens und die Art, wie es dargereichte Haselnüsse oder gar ein Stückchen Zucker knusperte, erregte Entzücken. Aber Marie Luise von Gundlach, die es am ersten Tage zärtlich streicheln wollte, bekam sofort einen Biß von den scharfen Zähnchen in ihren Finger. Tante Lina hatte hierauf das strengste Verbot ergehen lassen, daß das Tier jemals in die Schulräume gebracht werden dürfe, sondern nur, weil es nun einmal da sei, in den Garten. Aber auch hier schien ihr die Sache nicht so recht geheuer und immerhin eine Gefahr für die lebhaften Mädchen. Etwas Lebendiges gehört eben nicht in eine Pension. Als sie jedoch etwas Ähnliches zu ihrer Schwester sagte und beifügte, sie hätte wohl besser das Tier bei den andern in Rieneck gelassen, da sagte Huberta in gar nicht artigem Tone: »Aber ich will eben mein Röteli behalten, und das laß ich mir von niemandem nehmen!«

Die heftige Art, in der dies gesagt wurde, ärgerte die Tante sehr, und es war viel von ihr, daß sie sich trotzdem drein ergab, dem Mädchen vorerst diese Freude zu lassen.


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