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Die irdische und die geistige Geliebte

Erste wärmende Frühlingslüfte, wenigstens ein Hauch davon, hatten Goethe und Lili schon in den ersten Märztagen ins Freie gelockt. Nur von einem Stallpagen begleitet, waren sie hinausgeritten, in der Richtung nach Homburg, und hatten dort, während die Pferde grasten, auf ausgebreiteten Tüchern, im Walds gelagert, ein mitgebrachtes Frühstück unter Lachen und Scherzen verzehrend.

Hie und da quollen aus dickem Moose Reste antiker Steintrümmer hervor, mancherlei Säulenstümpfe und Tafeln mit zerborstenen Inschriften und ornamentgeschmückte Gebälkteile.

Goethe stand auf und schlenderte zwischen ihnen umher, hie und da sich niederbeugend, um Buchstaben und Jahreszahlen zu entziffern. Lili plauderte derweile in ihrer gewohnten Leutseligkeit mit dem jungen Burschen und ließ sich von dessen Elternhaus erzählen.

»Es mag wenige Jahre her sein«, berichtete Goethe zurückkehrend, »da traf ich hier ein junges Weib, das einen Knaben an der Brust nährte, ein gar liebliches Bild, das mich in der Seele ergriff. Ich ließ mich mit ihr ins Gespräch ein und sie führte mich noch weiter waldeinwärts zu ihrer Hütte, wo sie mich durch einen Trunk frischen Wassers labte. Der Knabe schlummerte ein. Ich saß bei ihm und bewachte seinen Schlaf, während die Frau zum Quell herniedergestiegen war. Mir kamen allerlei Gedanken und ich habe sie später in Versen festgehalten. Vor allem aber bewegte mich der Wunsch, selbst einmal solch holden Knaben als meinen eigenen Sohn auf dem Arm zu wiegen ...«

Lili errötete und blickte schweigend in ihren Schoß. Sie sah ungemein lieblich aus. Goethe ließ sich wieder an ihrer Seite nieder, während der Stallpage zu den Pferden gegangen war und sie zum Heimritt fertigmachte.

Flüsternd beugte der Dichter die Lippen zu Lilis Ohr, das heiß erglühte. Sie antwortete nicht, aber in ihren Augen lag ein stummes und doch zärtliches Flehen. Er nahm ihre Hand und drückte auf die Fingerspitzen einen leisen innigen Kuß. Dann half er ihr aufstehen und hob sie mit zarter Stützung fürsorglich in den Sattel.

Er selbst schwang sich rüstig nach. Schnaufend setzten sich die Pferde in Trab, eng Seite an Seite, während der Stallbursche einige Schritte hinterher trabte.

Herber Lenzgeruch lag in der Luft, wie eine Ahnung von kommendem Werden. Mittag war vorüber, doch immer noch wandte die Sonne ihre ganze Kraft an, den Winter vergessen zu machen. In der Höhe tönendes Lerchengezwitscher. Der Himmel wolkenlos.

Das rhythmische Wippen im Sattel wiegte das Hirn des jungen Dichters in leises Träumen. Und warm fühlte er die Nähe des geliebten Wesens, das im gleichen Takte neben ihm über die Ebene flog.

Ach, daß diese Stunde Ewigkeit besäße! keimte in ihm der Wunsch. Ihn berauschte das Entzückend-Damenhafte, das in diesem noch halb-kindlichen Geschöpf lebte und so apart, so eigenartig sich in ihr regte. Dieses instinkthafte Sich-in-Obacht-nehmen, diese Keuschheit und Beherrschtheit, die, ein wenig der Furcht verwandt, doch darum nur um so rührender, ihr ganzes Wesen durchdrang! Wie in stillem Glück, ganz unschuldig sich hingebend, sie an seiner Seite ritt, ihre süße stille Liebe im Herzen – zum Entzücken!

Da zeigte sich in der Ferne das Kräuseln einer Staubwolke, die allmählich näher kam. Reiter wurden in ihr sichtbar, wohl fünf oder sechs. Schon zeichneten sich Bewegungen und Umrisse ab.

Lilis helles Auge durchdrang die Weite.

»Kommen da nicht meine Verwandten, Onkel d'Orville und die Gontard, und noch ein paar andere?« warf sie hin. »Ja, sie sind es!« rief sie laut und gab ihrem Pferd die Sporen.

Goethe fühlte jählings sein Herz erkalten. Unwillkürlich hielt er sein Pferd zurück und ließ Lili vorreiten. Diese Begegnung wirkte wie schmerzhafte Abkühlung auf ihn.

Man sollte fast glauben, sie freut sich! zischelte etwas in ihm. Und sein Antlitz versteinte sich.

Gemessen ritt er heran und tauschte Begrüßungen aus. Fast klangen sie von der Gegenseite freundschaftlicher als von seiner. Aber er konnte und wollte nicht heucheln.

Das laute familiäre Gekreisch – wie unsympathisch es ihm in den Ohren klang! Dies Gehabe, dies Getue, – wie überflüssig, wie unecht!

O Gott, und nun drehten sie gar um – und ritten gleichfalls wieder nach Hause! Als ob sie nichts anderes zu tun und vorgehabt hätten, als Lili zu treffen und wieder einzuheimsen – in den Schoß der großen Familie! Lili selbst schien jetzt gleichfalls den Verwandtentrubel als störend zu empfinden, sie suchte Goethe leise zu sich heranzuwinken. Der aber tat so, als ob er es nicht bemerkte. Sein Herz war voll Bitternis.

Da ritt er nun in dem Haufen gleichgültiger und höchst unerwünschter Leute und war wie aus allen Himmeln gerissen. Plötzlich, in jähem Impuls, drückte er seinem Roß die Sporen in die Weichen und jagte in wildem Galopp davon.

Kaum daß er sich noch flüchtig umdrehte und eilends hinwarf: ihn rufe ein dringendes Geschäft nach Hause! Wie ein Verfolgter stob er von dannen. Und glaubte mit jedem Meilenstein zu fühlen, wie ihm innerlich leichter wurde.

Lili tat ihm ja leid! Gewiß, er konnte sich nichts Herrlicheres denken, als mit ihr in dauernder Liebe vereint zu sein. Aber wenn er sich eine Alltagsehe ausmalte, gesegnet von dieser Verwandtschaft, so faßte ihn ein Grausen. Er fühlte, so klar wie noch nie, daß Einmengungen von dieser Seite an seinen innersten Lebensnerv herangingen; daß sie das Beste in ihm zu zerstören drohten: und daß dieses alles – das Herz drehte sich ihm um! – mit Lili durch ein götzenhaftes Gesetz, das der »Verwandtschaftsbande«, verflochten war. Entweder mußte es gelingen, das Gesetz umzustoßen und Lili aus diesen unwürdigen Fesselungen zu befreien – – oder –! Er mochte diesen Gedanken nicht zu Ende denken! Er fühlte, wie spitze Stacheln ihm ins Herz drangen und es blutig rissen!

Unheimlich umschwirrten ihn die Gedanken, während er eilends dahinstob, manchmal dem Pferd, daß es schmerzlich aufwieherte, die scharfen Sporen gebend.

In der Stadt angelangt, führte er den Mietsgaul zu den Runkelschen Stallungen, denen er entnommen war, zurück, beglich seine Schuldigkeit und begab sich heimwärts.

 

Fest riegelte er sich in seiner Stube ein, gleich als müsse er sich in Sicherheit bringen.

Dann stürzte er sich auf die Papiere, die auf seinem Schreibtisch lagen. Blätterte unruhig in diesem Durcheinander von Gedichten, Entwürfen, angefangenen Briefen. Versenkte sich eine Weile mit besonderem Eifer in das Stella-Manuskript und schob es dann doch wieder beiseite. Zuviel, was zwischen Lili und ihm in der Schwebe war, klang darin an. In seiner gegenwärtigen Stimmung fühlte er hier Hemmungen, über die er nicht hinwegkommen konnte.

Ganz frei mußte er sich machen. Alles offen heraussagen und unbesehen hinwühlen dürfen, was ihn im Innersten bewegte. Doch so konnte er nur zu Einer sprechen, die in seltsamster Weise den Weg zu ihm gefunden hatte. Zu ihr – die aus weiter Ferne an ihn schrieb – die er nie im Leben gesehen hatte – und die er doch geistig eng an seiner Seite fühlte. Weil gegenüber allem Schwanken und Schwirren, das ihn in der Wirklichkeit bedrängte, hier Gleichheit, Verstehen, Gefühlsnähe zu ihm sprach.

Halb verdeckt von anderem, lag dort ein Schattenriß, den sie kürzlich ihm geschickt hatte. Er zog ihn hervor und versenkte sich in diesen Anblick fraulich sanfter Züge. Mit Ergriffenheit betrachtete er das Bild, mit einem innigen Gefühl: diese reine sinnende Stirn, diese süße Festigkeit der Nase, diese lieben Lippen, dieses selbstgewisse Kinn, den unerhörten Adel des in sich zusammengeschlossenen Ganzen! Er wußte jetzt auch, wer sie war: Auguste Gräfin zu Stolberg, die Schwester seiner beiden Freunde. Sie hatte Hannover verlassen und war bereits wieder heimgereist, weit weg nach Kopenhagen in Dänemark. Das mochte wohl wirklich, wie er geahnt hatte, so was wie ein Thule für ihn bedeuten ...

Seltsam, höchst seltsam, wie er dieser Auguste Stolberg – Gustgen nannte er sie vertraulich – sich im Innersten verwandt fühlte! Wie eine ihm vom Schicksal Gesandte deuchte sie ihn, ohne deren geistige Berührung er nicht zu leben vermochte. Da lag ein kürzlich begonnener Brief vor ihm und es drängte ihn, weiteres hinzuzufügen. Aber wie sollte er es anstellen, von den Widersprüchen zu erzählen, von denen er sich hin und her geschaukelt fand? Und aus deren Wirrsal er kaum sich herauszuwinden vermochte?!

Aufs Geratewohl nahm er die Feder und schrieb: »Was soll ich Ihnen sagen, da ich Ihnen meinen gegenwärtigen Zustand nicht ganz sagen kann, da Sie mich nicht kennen! Liebe! Liebe! Bleiben Sie mir hold – ich wollt', ich könnt auf Ihrer Hand ruhen, in Ihren Augen rasten. Großer Gott, was ist das Herz des Menschen!«

Weiter kam er nicht. Er fühlte, wie ihm die dicken Tropfen über die Wangen rollten.

Lange saß er, während die Dämmerung herniederschlich, und rang mit sich und seiner Seele.


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