Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXII.
Euthanasia

Sir Athelstan Wilson hatte alles erreicht, was er von diesem Leben begehrte, und alles, was er sich wünschte für die Ewigkeit, die er als eine unbestimmte, undefinierbare und unwissenschaftliche Größe ansah. Und doch war er nicht befriedigt. Zwei Dinge verdarben ihm all sein Vergnügen. Die kleine, behende, bescheidene Mikrobe trotzte immer noch allen seinen Bemühungen, und auch sonst war eine Leere in seinem Leben. Morgens und abends mißte er die Gestalt und das süße Antlitz seines Kindes, und die kleinen Zärtlichkeiten, die alle Furchen und Runen, die Zeit und Sorgen gezogen, wenigstens in der Phantasie, wieder milde glätteten. Sodann verstand er auch nicht, warum sie geopfert werden sollte. Er hatte Antigone stets für verrückt gehalten, daß sie sich um einen Leichnam so viel Kummer gemacht.

»Warum bleiben denn diese Geistlichen nie bei ihrem eigenen Geschäft?« fragte er seine Frau. »Sie mischen sich immer in Familienangelegenheiten. Barbara würde jetzt bei uns zu Hause sein, wenn dein trefflicher Bruder nicht wäre.«

»Der Kanonikus ist gewiß nicht zu tadeln,« entgegnete sie. »Louis konnte man nicht mehr allein lassen, und unser Haus wäre auch kein Asyl für ihn.«

»Ich möchte ihn auch nicht bei mir haben!« sagte der Doktor. »Der junge Herr soll seinen wilden Hafer ernten, wo er ihn gesäet hat. Aber wenn dein mitleidiger Bruder Louis so zugetan ist, könnte er ihm auch ein Zimmer seines Pfarrhauses abtreten.«

»Er hat Louis und Barbara seine Gastfreundschaft bereits angeboten. Wenn sie von ihrer kurzen Reise zurück sind, bleiben sie beim Onkel, bis Louis' Gesundheit wiederhergestellt ist.«

»Das wird dann wohl ein langer Aufenthalt werden,« meinte der Doktor.

»Es wird ein schöner werden,« gab Lady Wilson zurück. »Gott sei Dank, haben meine Kinder in ihren Priestern die besten und treuesten Freunde gefunden.«

Wie man sieht, hatte Lady Wilson sowohl etwas Mutterliebe, wie etwas Mutterwitz. –

Lukas besuchte am Dienstag das Gefängnis nicht. Er war nach London gefahren, um sich vom Bischof definitiv in die Diözese aufnehmen zu lassen. Er hatte auch schon heimgeschrieben, um von seiner Heimatdiözese das exeat zu erhalten. Der Bischof war aber nicht zu Hause, worauf Lukas Vater Sheldon zu einem Spaziergang einlud, um ihm sein Herz auszuschütten. Der Freund überredete Lukas, bei den Wilsons vorzusprechen; aber sie waren fort, zu einem kurzen Besuch, wie die Hausfrau sagte. Und so befanden sich die zwei Freunde, der Kelte und der Sachse, wieder unter Soldaten und Kindern an den Ufern des Serpentine, wo Vater Sheldon einige Jahre vorher den schmerzenden Zahn seines Freundes ausziehen wollte, was ihm so schlecht gelungen war.

»Ich brauche Ihnen kaum zu sagen, Sheldon, daß ich zu einem bestimmten Zwecke nach London gefahren bin. Meine siebenjährige Probezeit ist um, und ich stehe im Begriff, mich für immer in die Diözese aufnehmen zu lassen.«

Vater Sheldon wandelte langsam und schweigend seines Weges.

»Ich bin zur Ueberzeugung gekommen,« fuhr Lukas fort, »daß mein Wirkungskreis hier in England liegt. Alles deutet darauf hin. Ich habe schon bisher so weit Erfolg gehabt und zweifle nicht, daß eine noch größere und erfolgreichere Laufbahn vor mir liegt.«

»Haben Sie sich die Sache auch recht überlegt?«

»Gewiß! Seit meinem letzten Besuch in Irland ist mir mein Entschluß besonders klar geworden.«

»Hm! Ich würde Ihnen zur Rückkehr nach Irland raten.«

»Was?« rief Lukas stehen bleibend und ärgerlich seinen Freund betrachtend.

»Ich würde Ihnen raten, in die Heimat zurückzukehren, sobald Sie dazu in der Lage sind,« erwiderte Vater Sheldon ruhig. »Sie wären da besser am Platze, als hier.«

»Ich verstehe Sie nicht, Sheldon. Wollen Sie damit sagen, daß ich mich hier als untauglich erwiesen habe?«

»Nein!« entgegnete Vater Sheldon langsam. »Aber ich meine, Sie würden auf Ihrer Heimaterde besser ausschreiten, als hier.«

»Sie sprechen wie jemand, der die Verhältnisse nicht kennt. Wenn ich jetzt zurückkehrte, müßte ich wieder ganz von vorn beginnen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ja, sehen Sie, in Irland ist alles in eherne Formen gegossen. Man weiß nichts von einer Aenderung und daher auch von keinem Fortschritt. Man beurteilt alles nur nach dem Alter. Wenn Sie eine Flasche Wein kaufen, die erste Frage lautet: Wie alt ist er? Wenn Sie ein Pferd kaufen: wie alt? Alles ist alt und schwach und verfallen. Ein Mann kann in England oder Amerika noch so berühmt und hervorragend sein, er sinkt sofort zu einer Null herunter, sobald er den irischen Boden betritt. Niemand fragt: Was können Sie leisten? Oder: Was haben Sie geleistet? Sondern: Wie alt sind Sie? Wie lange haben Sie schon in der Seelsorge gestanden? Resultat: Nach ein paar krampfhaften Anstrengungen fällt man in eine Lethargie, von der es kein Erwachen mehr gibt. Man wird alt, aber nicht vom Alter, sondern aus Verzweiflung.«

»Das ist freilich traurig. Aber Sie haben ja doch Ihre Arbeit, oder nicht?«

»Allerdings, aber eine ganz ungeeignete. Jeden runden Mann steckt man in ein Quadratloch und jeden eckigen in ein rundes Loch. So habe ich einen guten Freund – Sie sollten mal hinübergehen und ihn besuchen –«

»Nein, nein, danke! Ich halte zwar mein Leben nicht für der Güter höchstes, aber ich will es auch nicht aus bloßer Neugier wegwerfen.«

»Sie scherzen. Man wird für Sie schon in der Kathedrale beten, wenn Sie in unmittelbarer Lebensgefahr sind. Doch was ich sagen wollte: diesen hervorragenden Mann, der sich in Heidelberg akademische Grade erwarb und ein großer deutscher Gelehrter ist, hat man auf einen Sandstreifen verbannt, drunten am Meere, und das schimpft er nun eine Pfarrei. Ich versichere Sie, er würde jeder Diözese oder Kirche in England die größte Ehre machen.«

»Sehr schlimm! Haben Sie sich schon an den Bischof hier gewendet?«

»Nein, noch nicht! Aber daran wird's nicht fehlen. Ich brauche nicht viel. Ich bin auch nicht ehrgeizig. Aber drunten in Sussex weiß ich einen kleinen Ort, wo man einen ständigen Geistlichen dringend nötig hat. Ich werde dem Bischof vorschlagen, mir zu erlauben, dort einen Posten zu errichten. Natürlich ist das Einkommen erbärmlich, aber ich kann mir mit meiner Feder schon den Unterhalt verdienen.«

»Haben Sie diesen sinnreichen Weg, Krummes gerade zu machen, denn schon versucht?«

»Nein, noch nicht! Aber ich weiß, daß sich Doktor Drysdale bare hundert Pfund jährlich mit seiner Feder erschreibt.«

»Nun, möglich,« entgegnete Vater Sheldon achselzuckend, »aber ich denke, Sie müssen vor allem des Bischofs Entscheidung abwarten. Kennen Sie übrigens Halleck?«

»Sehr gut! Ein gescheiter Mensch! Er ist der einzige, den ich von meiner Gemeinde Sonntags fürchte.«

»Wirklich? Dann brauchen Sie vor ihm ferner keine Furcht mehr zu haben.«

»Wie? Geht er ins Ausland?«

»Nein! Aber er hat sich jetzt selber eine Religion zurechtgemacht, wie alle richtigen Engländer. Er nennt sich einen ›Eklektiker‹.«

»Bei Gott! Das wußte ich noch nicht. Ich erinnere mich nur, wie Drysdale davon sprach, was er mit den Leuten anfangen wollte, die, wie er es nannte, Latitudinaristen waren.«

»Nun, und wie entschied er sich?«

»Er wollte sie nicht zu den Sakramenten zulassen. Sehr hart, dachte ich mir. Ich wußte nicht, daß er Halleck im Auge hatte. Woran litt Halleck Schiffbruch?«

»An nichts Besonderem. Er ließ nur sein Ankertau schlippen und strandete.«

»Das ist ja schrecklich! Ich muß ihn aufsuchen, den Armen, und ihn wieder zu gewinnen suchen. Ich sagte Drysdale immer, seine kalten Predigten würden Unheil anstiften. Er wollte aber nicht begreifen, daß wir mit der Zeit Schritt halten müssen und alles zu verfolgen haben, was sie uns zu sagen hat. Man kann doch von einem Mann wie Halleck nicht erwarten, daß er stillsitzt, während ein altmodischer Prediger erstens, zweitens, drittens, viertens, fünftens und sechstens macht. Aber es ist so schwer, alte Petrefakten von diesen Dingen zu überzeugen, die ihnen ein Axiom scheinen.«

»Ganz gewiß! Aber Halleck ging weiter. Ein Artikel im ›Athenaeum‹ verriet ihn. Es war etwas über das Buch Thoth.«

Lukas wurde abwechselnd weiß und rot. Es war ein fürchterlicher Schlag für eine Seele, die, wenn irgend etwas, über alle Maßen ihren alten Grundsätzen und Ueberzeugungen getreu war. Der Gedanke, daß er, Lukas Delmege, infolge falscher Auffassung der modernen Kultur, die ihm die Eitelkeit eingegeben, das Werkzeug sein sollte, den Glauben eines hervorragenden und hochbegabten Konvertiten Schiffbruch leiden zu lassen, war zu schrecklich. Er konnte sich kein größeres Unglück denken. Er wußte wohl, was Vater Sheldon sagen wollte; und der alte Spruch von den »Lügenpropheten« fiel ihm schwer auf die Seele. Er sah die Folgen für seine Person wohl voraus. Aber er war zu hochherzig, sie zu beachten. Er dachte nur daran, daß er mitgeholfen hatte, das Heil einer Seele zu gefährden, wenn nicht vollständig zu vernichten. Die zwei Freunde wandelten eine Zeitlang schweigend auf und ab. Dann stöhnte Lukas laut auf; aber seine Erregung niederzwingend, sagte er demütig:

»Lassen Sie uns zurückkehren! Ich muß den Abendzug nach Aylesburgh noch erreichen.«

Ein sehr milder, gewissenhafter Priester betrat am nächsten Morgen das Grafschaftsgefängnis. In Zelle 21, auf dem ersten Korridor, fand er seinen Gefangenen.

»Ein recht schlimmer Fall,« sagte der Gefängniswärter. Es war die alte, alte Geschichte. Auf der einen Seite der stolze, verweichlichte Imperialist, der eben von der Wollust der Hauptstadt gekommen war, auf der andern Seite der starknervige scythische Gladiator, den der Schlachtenrauch geschwärzt und die Feuertaufe hart gemacht hatte. Und das alles für England, und England wußte es nicht. Wie konnte es auch? Und wie konnte dieser Schwächling ahnen, daß er sich den Tod heraufbeschwor von einer im Tiefsten gekränkten Seele, als er die Reihen musterte und diesen tapfern, reinlichen Mann ein »schmutziges irisches Schwein« schimpfte.

»Noch einmal,« knirschte das Schwein, »und er ist beim Teufel.«

»Halt dein Maul, Grobian,« flüsterte ihm sein Kamerad zu, »und laß den Teufel und seinen Knurrhahn laufen!«

Zu spät. Denn der Knurrhahn knurrte: »Einen Schritt zurück, damit ich Ihren Tornister untersuche!«

Dann war eine Patrone geräuschlos in das Gewehr geglitten.

»Und dann,« erzählte der Gefangene, »trat er vor mich hin und lachte mir ins Gesicht. Da wirbelte etwas in meinem Kopf, mein Finger berührte den Drücker, und er lag tot am Boden. Das ist alles.«

Da ist keine Verteidigung möglich, dachte Lukas. Keine. Und in ein paar Wochen wurde das Urteil gefällt. Tod um Tod.

»Ich habe nur eine Bitte, Mylord,« hatte der Gefangene gesagt. »Geben Sie mir einen Priester und lassen Sie mich in einer halben Stunde aufhängen.«

Entsetzlich! Das wäre ja gegen allen Gebrauch. Das würde eine schreckliche Grausamkeit sein. Vier Wochen muß wenigstens gewartet werden. Vier Wochen teuflischer Qual, – die Qual, einen entsetzlichen, unvermeidlichen Schrecken sich täglich und stündlich näher vor Augen treten zu sehen, ohne Hoffnung auf Entrinnen, ohne Linderung. Vier Wochen langsamen Todes, gegen den die Grausamkeiten der Sioux oder Comanchen das reinste Mitleid waren! Denn während die Messer im Fleische des Opfers staken und die Tomahawks über seinem Kopfe dahinfuhren, war sein Blut in Wallung vor Zorn und Stolz; und wie in der Hitze des Gefechtes die Leute die Stiche und Schmerzen der Wunden nicht fühlen, so beachten sie unter physischer Tortur auch Qualen und Tod nicht. Aber ach! dieses Erwachen am Morgen von den Träumen der Kindheit – von mit Gänseblümchen übersäten Wiesen, lachenden Strömen und strahlendem Sonnenscheine zur weißen Tünche der verfluchten Zelle und dem schrecklichen Gespenste des letzten Morgens, der wieder einen Tag näher herangerückt ist; ach! und die letzten Stunden des Bewußtseins, die ihn keinen einzigen Augenblick von dem beständigen Schrecken, der ihn verfolgt, ablenken; und o! die Gegenwart dieser stummen Wärter, die immer wachen und wachen, damit das arme Opfer der Rache des Gesetzes ja nicht entgehe; und dann der Ueberfluß an Nahrung, die man dem Verurteilten anbietet und die ungegessen wieder weggetragen wird, als ob Nahrung die brennenden Räder eines von schrecklichen Vorahnungen entzündeten Hirns auslöschen könnte; und das kalte, berechnete Mitleid, während sich die Maschen um den Verurteilten enger zusammenziehen; und schließlich, das schreckliche Drama am verhängnisvollen Morgen selbst, gegen das die Schrecken der römischen Arena nur Bühnenvorstellungen sind, so kalt, listig und unerbittlich würgt die Hand des Menschen die unsterbliche Seele aus ihrer Hülle heraus! Und dann der unsagbare Hohn, diese schreckliche innere Tragödie noch »schmerzlosen Tod« zu nennen! O! Das ist selbst für diese wohlerzogene und hochgebildete Gesellschaft, die von der Liebe Christi nichts weiß und sich noch weniger um sie bekümmert, zu schrecklich!

Es war eine glückliche Ablenkung für Lukas, daß er ganz damit beschäftigt war, die letzten Tage dieses Unglücklichen zu lindern; denn seine eigene riesige Torheit hätte ihn sonst halb wahnsinnig gemacht. Ja! Halleck war abgefallen, und der feine Eklektizismus Amiel Lefevrils konnte die Scham oder das Entsetzen nicht mildern. Die positive göttliche Wahrheit des katholischen Glaubens hatte Lukas noch nie so stark empfunden als jetzt, wo er erfahren mußte, wie gefährlich das Spielen mit den unaussprechlichen Geheimnissen des Glaubens war. »Eine Seele, die durch deine falsche Leitung verloren ging!« Dieser Gedanke war zu schrecklich für Lukas. Das traurige Amt, einen Verbrecher auf den Tod vorbereiten zu müssen, kam ihm wie eine Erleichterung vor. Aber wie gequält Lukas während dieses düsteren Monats war, das bezeugt sein Tagebuch.

»18. August. – Für Halleck Messe gelesen. Der Arme ist ins Ausland gegangen. Keine Spur. Besuchte Donnelly. Hält sich gut aufrecht, sagt er, nur am Morgen nicht, wenn er erwacht und der fürchterliche Schrecken auf sein Bewußtsein fällt! Bereut sehr, der arme Kerl. Sprach mit dem Kanonikus über die Todesstrafe vom theologischen Standpunkte. Wo und wann wurde die Gesellschaft mit dem höchsten Rechte ausgestattet, das menschliche Leben zu vernichten? Er konnte nur mit der alten Formel: › Commencez, Messieurs les assassins!‹ antworten.

20. August. – Brief von Sheldon. Wilsons gehen ins Ausland. Brief von Vater Martin. Großer Aerger zu Hause bei dem Gedanken, daß ich meine Heimatdiözese aufgeben will. Besuchte den armen Donnelly. Die guten Nonnen brachten zwei Stunden bei ihm zu. Er ist jetzt sehr getröstet. ›Vater, wenn ich nur mein Blut in Wallung brächte, dann wäre alles gut.‹ Würde es schaden, wenn ich mit den armen Kerlen einen Streit anfinge und mich mit ihnen herumschlüge? Wenn sie mich eines Tages hinausführen und züchtigen wollten, es würde mich rasend machen und ich würde dann noch an etwas anderes zu denken haben als an das Fallbeil. Machte einen kurzen Besuch bei den Lefevrils. Gehe jetzt selten hin. Sie können meine schreckliche Besorgnis um Halleck nicht verstehen. ›Er hat keine Aenderung durchgemacht‹, sagen sie, ›er ist noch immer, wie er war‹. Der Teufel selbst bringt diesen Begriff vom eigenen Urteil nicht aus diesen Leuten heraus. Warum sollte er aber auch? Es ist ja sein Haupttrumpf.

21. August. – Sonntag. Messe im Kloster. Predigte bei der Missa cantata. Der Kanonikus war sehr lieb und nachsichtig gegen mich wegen der Geschichte mit Halleck. Er sagte mir tatsächlich auch zum erstenmale ein liebes Wort über meine Predigt, an der ich nichts besonderes fand. Warum geizen denn die alten Herrn so mit ihrem Lob für die jungen? Gute Worte sind ja billig; und Gott allein weiß, welch ein glänzendes Beruhigungsmittel ein gutes Wort ist. Ich bringe den armen Donnelly nicht aus meinen Gedanken. Sein Gesicht verfolgt mich überall. Die verzerrten Züge, der starre Blick, der kalte, klebrige Schweiß auf der Stirne und an den Händen. Wie gut, wenn sie ihn schon vor vierzehn Tagen gehängt hätten! Aber nochmals vierzehn Tage – zwanzigtausend Minuten der Angst, und jede Minute eine Hölle! Ich kann des Nachts nicht mehr schlafen. Donnelly und Halleck verfolgen mich. Was ist da schlimmer – die verlorene Seele oder der erwürgte Körper?

22. August. – Zwischen dem Kanonikus und mir gab's eine erregte Debatte über den armen Kerl. Gestern Abend nach dem Tee legte ich ihm einfach die Frage vor: Welches Recht hat die Gesellschaft – wenn sie überhaupt das Recht hat, menschliches Leben zu vernichten, was ich entschieden verneine – solche Qualen auf einen Verurteilten zu häufen und ihn dann in einen schrecklichen und schauderhaften Tod zu stürzen? Warum wählt sie denn nicht – ich denke, es ist eine sie – eine barmherzige Todesart, den sokratischen Schierlingsbecher oder das Chloroform? Wer gab der Gesellschaft das Recht ebensowohl zu quälen wie zu töten?

Brief vom Bischof. Etwas zweideutig. Viele ›wenn‹ und ›aber‹. Wer weiß? Vielleicht gehe ich nach allem doch noch nach Irland zurück. Infandum!

24. August. – Las heute im hl. Thomas. O weh! Mir war als ob ich Sägemehl esse nach der Lektüre von Mill und Stewart. Nun – und da stehe ich wieder da, immer fragend, immer im Zweifel. Von dem alten Herrn in Seathorpe kam ein Brief mit der Anfrage, ob ich seinen Vorschlag schon in Erwägung gezogen habe. Gewiß, mein lieber, alter Freund, aber andere Leute ziehen eben auch in Erwägung. Schrieb heute an Donnellys Pfarrer in Irland, ›Hätte ich seinen Rat befolgt, wäre ich heute nicht hier.‹ Sic damnatus!

25. August. – Brief von Olivette Lefevril mit einer Einlage von Halleck, worin er von seinen Plänen für die Zukunft spricht. Fühlt sich augenscheinlich bei seinem schrecklichen Abfall nicht recht wohl und wirft allen Tadel auf mich!!! ›Es ist ganz klar‹, sagt er, ›daß viele römisch-katholische Geistliche ebenso denken wie ich. Es waren auch in der Tat die Predigten unseres guten Freundes Delmege, die meinen Gedanken die neue Richtung gaben.‹ Welche gemeine Lüge! Der Mann war stets ein Freidenker und verbarg es auch kaum. Ich fordere Jedermann heraus, eine einzige Stelle aus meinen Predigten anzuführen, die nicht orthodox wäre!

27. August. – Sah gestern noch einmal alle meine Predigten durch. Kein Wort ist darin, das selbst die mißgünstigste Einbildungskraft als Apologie oder auch nur als den schwächsten Schatten einer Entschuldigung für Häresie in irgend einer Form auslegen könnte. Gerade die Häresie habe ich stets gehaßt und verabscheut. Aber diese Heuchler suchen ja immer die Schuld für ihren Abfall auf andere zu schieben. Selbst der gute Kardinal sagte: ›England gab seinen Glauben nicht auf; er wurde ihm geraubt.‹ Unsinn! Der arme Donnelly ist jetzt ruhiger, außer am Morgen. Jawohl; man gewöhnt sich an alles in der Welt!

29. August. – Immer wieder gräbt der alte Herr die höllische Frage von neuem aus. Er scheint mit einer wahren Wollust an den schrecklichen bevorstehenden Tod des armen Donnelly zu denken. Ich zweifle daran, ob hierzulande je das Christentum gepredigt wurde!

›Es geht dem Ende zu!‹ sagte der alte Gefängnisaufseher heute und rieb sich die Hände, als ob er nachher Whist spielen wolle. ›Er hält sich wacker, der arme Kerl!‹ Casabianca klagt und murrt, daß seine Nerven vom Lärm der Zimmerleute am Schaffott irritiert werden! Ist das nicht gräßlich? Ich glaube, ich kann nimmer schlafen. Heute Abend blieb ich nach dem Segen allein in der Kirche, um für den armen Donnelly zu beten. Allein mit IHM. Plötzlich faßte mich ein Schauder an und ich floh.

30. August. – ›Noch ein paar Tage, Hochwürden, und alles ist vorüber. Hochwürden, möchten Sie mir nicht ein paar Worte des Trostes sagen, daß ich mich darüber vergesse? Wenn mich die Nonnen besuchen, ist mir noch stundenlang darnach ganz wohl.‹ Was der arme Kerl nur damit meinen mag? Der Kanonikus schnitt heute Abend die Sache wieder an. Die Gesellschaft muß das Gesetz ebensowohl als Abschreckungs- und Strafmittel, wie als Schutzmittel anwenden. Das leugnete ich in toto. Die Gesellschaft hat ein Recht, sich zu schützen – aber nicht mehr. Kann sie sich dadurch schützen, daß sie die Verbrecher einsperrt? Wenn ja, dann hat sie kein Recht zu morden. Und wenn sie das Recht besitzt, einem Menschen das Leben zu nehmen, dann sollte sie es in der schmerzlosesten und angenehmsten Weise ausüben. ›Aber das ist doch ein schmerzloser Tod!‹ Da hilft kein Reden mehr. Die Engländer haben keine Phantasie. Ein schmerzloser Tod! Ein Tod, der alle Schrecken der Hölle in sich vereinigt; ein Tod, gegen den alle Torturen des Mittelalters ein Kinderspiel waren. Ich bin nur begierig, ob ich an dem schrecklichen Morgen die Besinnung nicht verlieren werde. Ich habe schon daran gedacht, Drysdale zu bitten, er solle mich vertreten. Aber der arme Donnelly will es nicht haben. Ach, könnte ich nur Schlummer finden! Und Halleck hört in Chalons Messe und geht zur hl. Kommunion, wie die Zeitungen melden.

1. September. – Der Kanonikus bedeutet mir recht verständlich, daß man mich in der Diözese nicht brauche. He bien! Die ganze Welt liegt zur Wahl vor mir. Aber habe ich mir vielleicht auch zu Hause den Boden unter den Füßen weggenommen? Gesetzt den Fall, der Bischof schickte mir mein exeat, wie ich ihn darum bat – was fange ich dann an? Dann gehöre ich keiner Diözese mehr an. Ich fürchte, Donnelly wird den Verstand verlieren, und ich auch. Es ist etwas vom Blick des Irren in seinen Augen. Die Nonnen trösten ihn wunderbar mit der Leidensgeschichte unseres Herrn. ›Erzählen Sie mir davon‹, sagt er, ›und alles ist gut.‹ Ich versuche ihn mit der Versicherung zu trösten, daß wir alle den gleichen Weg gehen wie er. ›Sprechen Sie zu mir davon‹, antwortet er. Der arme Kerl! Und er hatte doch während des indischen Aufstandes furchtlos in den Schlund der Kanone geschaut, als die Sepoys den Zünder schon ans Pulver gelegt hatten.

2. September. – Las für den armen Donnelly Messe. Schaute alle meine früheren Predigten wieder nach. Ich erbot mich gestern abend, sie dem Kanonikus vorzulegen und ihn nachsehen zu lassen, ob etwas Unrichtiges in ihnen enthalten sei. »Nein, danke!« war seine Antwort. Brief von meinem geistlichen Freund in Seathorpe, der mich bittet, meinen Einfluß bei seinem Onkel geltend zu machen, damit er ihm einige Pfund vorstrecke, oder, wenn ich das vorziehe, ihm das Geld selbst zu leihen. Mit Donnelly stehts schlecht. Die Augen starren, die Hände zittern. Ißt nichts. Ich fürchte, in seinem Kopf wird wieder etwas brechen. Er erzählte mir heute früh, er habe in Indien einmal einen Sonnenstich erhalten. Das sagt viel.

3. September. – Besuchte Donnelly. Sonderbar! Er ist jetzt ruhiger und kühler denn je seit seiner Verurteilung. Der Arme! Er machte mich zum alleinigen Erben. Denkmünzen von Luckno und Oudh, ein Stock, der von Schlangen umwunden ist, ein Götzenbild, das er aus einer birmanischen Pagode gestohlen hat, und ein Stein – ich glaube es ist ein Topas – der, wie er sagt, unter einem bestimmten Lichte gesehen, Flammen ausstrahlt usw. Welch seltsame Geschichte! Die Geschichte einer unsteten, überall herumwandernden Rasse, die ihr Land haßt, wenn sie darin wohnt, und sich nach ihm sehnt, wenn sie von ihm fern ist. Ich glaube kaum, daß ich heute Nacht ein Aug' werde schließen können … Heute Nachmittag konnte ich meinen Entschluß nicht mehr aufrecht erhalten und bat den Kanonikus, Donnelly beim letzten Gange zu begleiten. Ich kann es nun einmal nicht mit ansehen. ›Nein, danke!‹ gab er zur Antwort. Ich möchte gern wissen, mit welch' sonderbarem Bestandteil unser Herr den Lehm mischte, aus dem er diese guten Engländer erschuf.«

Hier bricht das Tagebuch ab und wird lange nicht mehr weitergeführt. Es schien, als ob Lukas nach einer schlaflosen Nacht krank und müde zu dem furchtbaren Morgen erwachte. Der gute Kanonikus sollte im Kloster die hl. Messe lesen und Lukas sollte geradewegs vom Gefängnis weg, nach der Hinrichtung, das hl. Meßopfer für den armen toten Krieger darbringen. Dieses Programm mußte abgeändert werden. Lukas nahm alle Kraft seiner Nerven für die schreckliche Kraftprobe zusammen; er ging ins Gefängnis, wo sich etwas Seltsames ereignete. Denn dem armen Verurteilten war für einen Augenblick die Gnade verliehen, sein schreckliches Los zu vergessen; er sah, daß das Entsetzen in Lukas' Antlitz schlimmer war als sein eigenes. Er bemerkte seine zitternden Hände, sein bleiches, in die Länge gezogenes Gesicht; und in dem Mitgefühl seiner Rasse vergaß er in der Besorgnis für seinen Priester auf sich selber. »Haben Sie Mut, Hochwürden,« sagte er, als sie seine Hände banden, »in einer Minute ist alles vorüber. Lassen Sie diese Protestanten,« flüsterte er, »nicht von Ihnen sagen, Sie seien zusammengebrochen.« Vergeblich! Voller Schrecken und an jedem Gliede zitternd schritt Lukas einher, während der arme Verurteilte die Litanei betete und zu gleicher Zeit den Priester zu trösten suchte. Betäubt und seiner nur halb bewußt stand er auf dem Schafotte und schauerte bei den kühlen, berechneten Vorbereitungen zur Hinrichtung; wie im Traume sah er die starren Blicke der Wärter und den Arzt, der seine Uhr in der Hand hielt, und die grausame Vorrichtung. Er wagte dem Verurteilten nicht mehr ins Gesicht zu schauen, der in diesem letzten Augenblicke festgeseilt wurde, während jeder Nerv und jede Fiber in Todesangst zuckte. Dann – ein schrecklicher Krach, ein ersticktes Stöhnen menschlicher Qual, und das Hinuntersausen des Körpers, als er in das Düster der Versenkung fiel. Lukas sah das straffe Seil, als es die stöhnende Seele aus dem Körper riß; dann zuckte es leicht wie ein Raubtier, das seine Beute festhält, und schwankte hin und her in der Entfernung eines Fußes, von wo er stand. Dann wankte Lukas wie ein Betrunkener vom Schafotte und ging dem Ausgange zu. Er hörte jemand sagen: »Nicht einen Ruck!«

Der Direktor folgte ihm rasch, um seine Gastfreundschaft anzubieten. Das darf nie vergessen werden.

»Es ging gut von statten, Sir! Ein ganz schmerzloser Tod! Sie sehen bleich aus. Wollen Sie ein Glas –.« Aber Lukas sank in Ohnmacht und fiel schwer auf das Ziegelpflaster hin.


 << zurück weiter >>