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Was ich Widmann verdanke

Als meinen Beitrag zur Feier des siebzigsten Geburtstages Widmanns hatte ich mir vorgenommen, ein Geständnis dessen, was ich alles Widmann zu verdanken habe, öffentlich auszusprechen. Nicht seinetwegen – er bedurfte der öffentlichen Aussprache meines Dankes nicht, denn wenn er vergaß, was er für mich geleistet, so habe ich nicht vergessen, es ihm in Erinnerung zu rufen –, sondern um der Wahrheit willen und zur Vervollständigung des Charakterbildes Widmanns. Es gibt nicht bloß Schriften und Werke, es gibt auch Taten; und was Widmann zeitlebens für mich getan, redet so laut und deutlich zu seiner Ehre, wenn man es weiß, daß ich es nicht auf die Dauer ertrug, es einzig und allein zu wissen. Zu den übrigen Ehrenkränzen zur Widmann-Feier wollte ich also dieses Bekenntnis als meinen besondern Ehrenkranz hinzufügen.

Aus der Geburtstagsfeier ist nun eine Totenfeier geworden. Ich bin überzeugt, daß niemand, der mein Verhältnis zu Widmann kannte, von mir den Ausdruck meiner Gefühle bei diesem Anlaß erwartet; denn wer aus Erfahrung weiß, wie es tut, wenn man einen seiner Allernächsten durch den Tod verliert – und es sind ihrer leider nur zu viele, die das aus Erfahrung wissen –, der weiß auch, daß man in solchen Fällen nicht von seinen Gefühlen redet. Ich würde am liebsten ganz stumm und still meinem besten Freunde in sein Grab nachdanken, wenn ich nur dürfte. Allein ich darf nicht; ich muß Widmanns Gedächtnisbild, wie es die Welt kennt, mit einigen seiner schönsten, liebenswertesten Zügen, die nur ich kenne, vervollständigen; und so lege ich denn schlicht und einfach, ohne den Text meines Bekenntnisses zu ändern, den Ehrenkranz, den ich auf seinen Geburtstagstisch gezielt hatte, hiemit auf sein Grab.

Der Jugendfreund

Widmann und ich sind zum ersten Male zusammengetroffen im Frühling 1860; er als ein achtzehnjähriger Primaner des Basler Pädagogiums, ich als ein fünfzehnjähriger Schüler der Basler Gewerbeschule; vorher wußten wir kaum von der Existenz des andern. Denn ob wir schon beide Liestal unsere Heimat nannten, Widmann seit seinem dritten Lebensjahre ununterbrochen in Liestal lebte, ich in Liestal geboren bin und dort meine nächsten Verwandten hatte, so waren wir uns deshalb gänzlich unbekannt geblieben, weil ich schon als vierjähriges Kind nach Bern und später nach Basel zu wohnen kam. Widmann ist durch sämtliche Klassen der Liestaler Schulen gegangen, ich nicht einen einzigen Tag.

Nun aber, im Frühling 1860, trafen wir dadurch zusammen, daß wir, täglich von Liestal nach Basel mit der Eisenbahn zur Schule fahrend, nicht nur den Hin- und Herweg gemeinsam machten, sondern überdies noch im nämlichen Hause zu Basel nebst mehreren andern Schulkameraden zu Mittag aßen. Übrigens schlossen wir uns keineswegs sogleich aneinander an; zunächst traten vielmehr die Gegensätze in Kraft. Widmann war damals schon in Basler Universitätskreisen und auch bei seinen Altersgenossen um seiner außerordentlichen Geistesgaben willen beliebt und berühmt. Es galt als eine Ehre, mit Widmann befreundet zu sein; seine geistreichen Aussprüche machten die Runde; seine sämtlichen Lehrer zeichneten ihn aus als einen beispiellos begabten, genialen Menschen; bei Professor Wackernagel gewann er die seltene, von jedem sehnlich begehrte beste Nummer für den deutschen Aufsatz so regelmäßig, als wäre er darauf abonniert; Jacob Burckhardt, der große berühmte Jacob Burckhardt, war in Widmanns Geist und Poesie geradezu verliebt; für ihn war damals schon und blieb zeitlebens Widmann nicht bloß ein begabter Dichter, sondern der Dichter. Der nämlichen Beliebtheit und Berühmtheit erfreute sich Widmann in den Pfarrhäusern des Kantons Baselland und bei den zahlreichen, erlesenen fremden Gästen seines Elternhauses, des Pfarrhauses in Liestal. Kurz, weit und breit herum verkündete alles, was zur Kunst oder zur höhern Bildung und Intelligenz gehörte, den Ruhm des genialen jungen Joseph Viktor Widmann.

In schroffem Gegensatz dazu stand das Verhältnis des jungen Widmann zu den Einheimischen, sowohl zu dem Basler Bürgertum, soweit es von ihm Notiz nahm, als zu den Liestalern. Da herrschte eitel Hohn und Abneigung. Das ehemalige Mißverständnis ist begreiflich und entschuldbar, und Widmann war später der erste, es zu begreifen und zu entschuldigen; er war zeitlebens seiner Heimat herzlich zugetan, und Liestal darf sich ohne Rückhalt seines Widmann freuen und rühmen. Um das anfängliche Mißverständnis zu verstehen, muß man wissen, daß Widmann erst in Bern derjenige geworden ist, den die Welt gekannt hat; einst war er ein anderer. Der nachmalige begeisterte Schweizerpatriot war damals nicht bloß durch sein Blut ein Fremder, sondern auch durch seine Gesinnung; er bespöttelte Schweizer Art, Schweizer Sitte und Schweizer Sprache; er, der spätere eifrige Radikaldemokrat, verachtete ursprünglich hochmütig das Volk; der rüstige Bergsteiger und Ruderer, der sich auf seine Muskeln und seine Beine etwas zugute tat, war in seiner Jugend ein schwaches, verzärteltes, hüstelndes Wesen, von welchem man nicht erwartete, daß es das Mannesalter erreichen werde. Dazu kamen noch die Absonderlichkeiten seiner Erscheinung, die herausfordernde Genietracht und ähnliches dergleichen. Auch sein Dichten gereichte ihm in diesen Kreisen eher zum Spott als zum Ruhm; ein einheimischer Kommilitone fuhr den Studenten Widmann einmal grob an, er wäre jetzt nachgerade als Student zu alt, um das kindische, läppische Dichten noch fortzusetzen; ähnlich wie der schweizerische Bundespräsident, als er vernahm, daß ich ein poetisches Buch geschrieben, bedauernd ausrief: »Schade: ich hatte ihn bisher für einen so vernünftigen Menschen gehalten!« Und daß man mir nicht etwa deshalb das Schweizer Volk verunglimpfe! Das Schweizer Volk schätzt, liebt und ehrt seine Dichter, nachdem sie etwas Rechtes geleistet haben; aber es hat ein Grauen vor dem Dichterstand und vor den Dichtergebärden. Möge es nie anders werden! Denn wenn es jemals anders wird, werden wir nie mehr einen großen Dichter, sondern dafür eine ehrgeizige, streberische Bande von nichtsnutzigen Geniefexen erhalten.

Joseph Viktor Widmann

Joseph Viktor Widmann, »der Freund« 1842-1911

Ich nun als Basellandschäftler von Eltern und Großeltern her, der in Liestal eine Unmenge ungeahnter Verwandter oder Freunde meiner Eltern und Großeltern hatte, dem aus jedem Gäßchen oder Lädelein ein unbekanntes Männlein oder ein uraltes, ebenso unbekanntes Mütterlein freundlich entgegenkam, um mich mit dem herzlichen Gruß zu überraschen, sie seien mit mir verwandt, fühlte mich dem fremden und sonderlichen Widmann gegenüber anfänglich ganz als Einheimischer. Obschon ich nämlich meiner Heimat bisher ferngeblieben war, oder vielleicht gerade deshalb, war ich von Herzen Liestaler, denn ich hatte in der Ferne das Heimweh nach Liestal kennengelernt. Und da ich mich als Einheimischen fühlte, teilte ich bis zu einem gewissen Grade auch das Befremden vor Widmanns Eigentümlichkeiten; einzig der Umstand, daß er der Bruder seiner Schwester war, machte mir seine Eigenarten erträglich und seinen Umgang wünschbar. Im übrigen war ich damals ein gesunder, kräftiger, einfältiger Bub, der von sich selber nichts wußte, als daß er gerne zeichnete, und dem man Gutmütigkeit nachsagte.

So stand ich zu Widmann im Frühjahr 1860. Ein Jahr darauf (ich war unterdessen der geworden, der ich später war und der ich heute bin) schloß der geniale, geistreiche, gepriesene Dichter Widmann, der neunzehnjährige Elitestudent, mit dem gänzlich unbekannten, von seinen Lehrern geringgeschätzten und gescholtenen sechzehnjährigen Gymnasiasten ein inniges Freundschaftsbündnis fürs Leben; mit Abstreifung seiner bisherigen Freunde und Kameraden. Widmann, ein weibliches Temperament (ich sage es mit Überlegung und weiß, was ich sage: ein weibliches Temperament) und eine geborene Apostelnatur, dem nicht bloß freudige, opferwillige Hingabe und neidlose Anerkennung, sondern auch freiwillige, demütige Unterordnung Bedürfnis war, hat in seinem spätem Leben sein Herz und seine Kraft noch für manchen andern begeistert eingesetzt; doch einen Gottfried Keller zu rühmen und einen Brahms zu preisen war nicht eben schwierig und blieb nicht ihm allein vorbehalten; auch in dem edlen Bestreben, ein Talent aus dem Dunkeln ans Licht zu ziehen, hat er glücklicherweise Gesinnungsgenossen; hingegen das hat ihm noch nie ein Mensch vorgemacht und wird ihm schwerlich ein Mensch nachmachen: in einem einfältigen Schulbuben, der gar nichts galt und noch gar nichts konnte, dasjenige zu erkennen, was erst zwanzig Jahre später ein zweiter und erst fünfzig Jahre später eine Vielheit erblickte. Ich kann mich nicht mit meinem Dank hiefür begnügen, ich muß einer solchen erstaunlichen Leistung zugleich meine Bewunderung zollen. Und nicht minder einer zweiten erstaunlichen Leistung: in seinem Glauben, der sich vor dem Verstände nicht rechtfertigen ließ, zeitlebens unerschütterlich beharrt zu haben, aller Welt zum Trotz und allem Anschein zuwider.

Ich sagte »ein weibliches Temperament« und »eine Apostelnatur«: er wollte und mußte vor allem an einen Menschen glauben; im Glauben suchte er seinen Lebenszweck und fand er sein Lebensglück; darum war sein Glaube auch so glühend, so innig und so fest. Auf sein eigenes Wirken und Schaffen stützte sich sein Bewußtsein erst in seinen spätem Jahren, zaudernd, beinahe widerwillig.

Und auch dann noch war ihm immer wohler, wenn er andere preisen durfte, als wenn er selber gepriesen wurde. In unserm Fall nun wurde sein Glaube bald vor schwere Proben gestellt, die er alle glänzend bestand. Wenige Monate nämlich, nachdem wir unsern ewigen Freundschaftsbund geschlossen, entdeckte mich ein Maler. Glück und Glanz und Ruhm tauchten an meinem Horizont auf; jedermann, der mir wohl wollte, jubelte für mich. Einen halben Tag lang sah ich sehnsüchtig nach dem goldenen, glückverheißenden Horizont, dann entschied ich anders. Der Verzicht erschien unbegreiflich, töricht, wahnsinnig. Einzig Widmanns Glaube begriff: ich durfte nicht Künstler sein, weil ich etwas anderes werden mußte.

Eine zweite Probe: Unser Freundschaftsbund war unter der stillschweigenden Voraussetzung geschehen, daß wir einander teilweise ergänzten; er der Dichter, ich der Denker. Im Jahre 1863 mußte ich ihn mit dem Geständnis überraschen, daß ich meine Zukunft der Poesie verschworen hätte. Ich gestand es nicht ohne Bangen, entsetzte Abmahnungen und Warnungen voraussehend, denn die Poesie war mir ja bisher ein wildfremdes Ding gewesen. Doch siehe da: er begriff meinen Entschluß mit freudiger Zustimmung, indem er es ruhig für selbstverständlich erklärte, daß ich überall, wo ich wollte, meinen Mann stellen werde. Und wirklich schwor er von Stund an blindgläubig auf die künftigen poetischen Werke eines Jungen, der noch nicht mein auf dein zu reimen wußte, eines Menschen, der noch ein Vierteljahrhundert nachher, um sein erstes Gedicht zu machen, ein Reimlexikon benutzen mußte! Nun waren ja jetzt Widmann und ich gewissermaßen Kollegen in der Dichtkunst; allein was er Poesie nannte und ich Poesie nannte, wuchs auf ganz verschiedenen Stengeln; und obgleich er der ältere und erfahrenere war und schon seit vielen Jahren Verse aus dem Ärmel schüttelte, ist weder ihm jemals eingefallen, mir einen Rat in poetischen Angelegenheiten zu erteilen, noch mir jemals eingefallen, einen Rat von ihm zu begehren. Ich zog es vor, ganz selbständig in allen erdenklichen und unerdenklichen Irrtümern herumzuzappeln, und er ließ mich gläubig und vertrauensvoll zappeln.

Am schwierigsten für ihn war die dritte Probe: die Geduldsprobe. Mit glühender Sehnsucht etwas zu erwarten, was immer nicht kommen will, und nicht begreifen zu können, warum es nicht kommen will, das ist wahrlich schwer auszuhalten. Widmann hat es schwer ausgehalten, aber er hat es siegreich ausgehalten. Ein langes Jahrzehnt hindurch tönt in seinen Briefen ewig die schmerzliche Mahnung, endlich mit einem Werk hervorzutreten; rührend und ergreifend liest es sich, wie er in einer schlimmen Stunde, als ihm der Arzt seinen nahen Tod glaubte voraussagen zu müssen, nicht etwa um seine eigenen Zukunftswerke trauerte, die ihm der Tod vereiteln würde, sondern um die Werke eines andern, die er nun nicht mehr erleben sollte.

Was für mich eine solche Freundschaft eines solchen Mannes bedeutete, brauche ich gewiß nicht zu erklären; ihr Wert für mich kann unmöglich überschätzt werden. Wohl entbehrte ich auch sonst nicht der Liebe: ich erfreute mich treuer, liebevoller Eltern und Verwandter, vor allem eines feinfühligen, erratenden, mich in Freud und Leid begleitenden Mutterherzens, außerdem noch einiger guter Genien meiner Jugend, die nicht zu nennen meinem Dankgefühl schwer wird; allein die Jugend hat viel Liebe nötig, weil sie viel leidet, und ein Jüngling bedarf unbedingt eines Freundes. Warum, brauche ich nicht zu sagen, denn der Wert der Freundschaft ist nicht mein Geheimnis. Möglich, daß ich auch ohne Widmanns Freundschaft meinen Weg gefunden hätte; allein er wäre schmerzlicher, dunkler und einsamer gewesen. Die schwere Entwicklungsmelancholie, die mich wie so manchen andern Jüngling heimsuchte, konnte zwar auch er mir nicht ersparen, auch nicht das qualvolle Ringen um die Erkenntnis, was denn eigentlich die Natur mit mir wollte; allein wie ein Morgenstern, wie Lerchenjubel grüßte mich durch alle Düsternis immerfort Widmanns froher gläubiger Hoffnungsruf: »Getrost! es wird einmal Tag werden! Glückauf! ich weiß es, ich spüre es: du wirst schließlich siegen.« Hauptsächlich weil ich immer diese hoffnungsfreudige Siegeszuversicht aus dem Munde meines Freundes ertönen hörte, habe ich mich trotz meiner fortwährenden Weltabgeschiedenheit niemals einsam gefühlt; man braucht ja überhaupt für sein Herz nur wenige Menschen, vorausgesetzt, daß es die rechten sind.

Das Gerücht meiner Jugendfreundschaft mit Widmann ist weit herumgekommen, und es hat sich daraus die Meinung entwickelt, wir hätten unsere ganze Jugend oder wenigstens den größten Teil unserer Jugend gemeinschaftlich verlebt. Diese Meinung ist begreiflich, aber sie ist irrtümlich. Wir haben im ganzen Leben nicht mehr als drei Jahre miteinander in der nämlichen Stadt gewohnt; zwei Jahre zusammen in Liestal von 1860 bis 1862, und später ein Jahr in Bern von 1879 bis 1880. Sonst wohnten wir örtlich getrennt und verkehrten bloß brieflich und besuchsweise. Von den genannten drei Jahren ist überdies noch das erste und das letzte als unbedeutend abzuziehen; das erste, weil wir damals (1860 bis 1861) noch nicht befreundet waren, das letzte (1879 bis 1880), weil zwar die Freundschaft noch bestand (sie bestand ja zeitlebens), aber nicht mehr die Ideengemeinschaft und der Gedankenaustausch. So bleibt ein einziges Jahr vollen, ungeschmälerten freundschaftlichen Zusammenlebens und Zusammendenkens (1861 bis 1862). Eine kurze Zeit, nach dem Kalender gemessen, aber eine inhaltvolle und durch und durch hohe Zeit; jeder Tag ein Ereignis und keine Stunde, die nicht mit reiner, edler Stimmung beseelt gewesen wäre. Das läßt sich nicht beschreiben, man müßte es erzählen. Oft, wenn ich an jene Zeit zurückdenke, beschleicht mich die Frage, ob wir beide, wenn man den Menschenwert nicht nach Leistungen, sondern nach dem Innern mißt, nicht damals vielleicht mehr wert waren, als jemals in der Folge. Die Frage zu beantworten, vermesse ich mich freilich nicht, doch wenn ich im Geist und Herzen den Namen Widmann vernehme, so erscheint immer das Bild Widmanns aus dem Jahre 1861 vor meinen Augen, selten ein späteres.

Der Helfer

Im Jahre 1879 kehrte ich, von der Pietätspflicht gemahnt, aus der Fremde in die Heimat zurück, hinter mir, in der Erinnerung, ein Trüppchen glücklicher, sorgenfreier Jahre, vor mir die ungewisse Zukunft, in mir Mut und Siegeszuversicht. Zunächst galt es, in der Heimat irgendwo ein Pöstlein zu finden, um sein Leben zu fristen. Sofort sprang Widmann herbei und verschaffte mir das Plätzlein. Wir hatten uns zwar beide verändert und fanden uns geistig nicht mehr ineinander zurecht, allein das tat den alten Freundschaftsgefühlen keinen Abbruch. Ich hatte in der Fremde ein Werk geschaffen und mir für den Druck des Werkes ein kleines Sümmchen zusammengespart, damit ich der verstimmenden Verlegersorgen überhoben sei. Ich überschätzte oder unterschätzte die Verleger, ich konnte selbst um Geld keinen Verleger finden. Da war es wieder Widmann, der mir beisprang; zwar gelang es ihm nicht, in Deutschland einen Verleger zur Annahme zu bewegen, immerhin, es fand sich schließlich jemand, der aus Gnaden das Manuskript und das Geld annahm. Gut; das Büchlein erschien also, aber es blieb im Buchhandel liegen, und die Kritik schwieg es tot. Da vertrieb es Widmann, wie man ein Manuskript vertreibt, indem er es von sich aus durch die Post an seine Bekannten schickte. Mein Glück wollte es, daß unter seinen Bekannten Gottfried Keller war und daß Gottfried Keller sich in außerordentlich zustimmender Weise über das Buch in einem Briefe an Widmann äußerte. Wenn ich diese Zustimmung nicht erhalten hätte, würde ich wahrscheinlich das Dichten aufgegeben haben, denn alle andern Stimmen lauteten absprechend, und wenn einem alle Welt auf Grund eines vorliegenden Werkes das Dichtertalent abspricht, so kann man wohl stutzig werden. Ohne Widmann aber hätte Keller von meinem Buche nichts gewußt.

Inzwischen war mein Plätzlein mit Widmanns Platz in die Luft geflogen. Widmann erhielt zum Ersatz die Feuilletonredaktion des Berner »Bund«. Sein erstes war natürlich, mich zur Mitarbeit am »Bund« einzuladen. Aber so etwas nährt einen Menschen nicht. Widmann verschaffte mir eine Interimsstelle an einem Zürcher Privatinstitut. Es ist eine Eigenschaft von Interimsstellen, bald aufzuhören. Sie hörte also bald auf, und ich suchte allerorten nach einer dauernden Anstellung. Doch niemand brauchte, noch wollte mich. Da strengte sich wiederum Widmann für mich an und gab mit Fleiß und Überredung nicht nach, bis er mir endlich eine dauerhafte Stellung errungen hatte. Hiemit war ich für die nächsten Jahre der Sorge überhoben. Dann gab ich meinem Büchlein eine Fortsetzung. Wiederum schwieg die Kritik das Büchlein tot. Da schrieb Widmann einen begeisterten Aufsatz darüber für deutsche Zeitungen. Es ist nicht seine Schuld, daß der Aufsatz abgelehnt wurde. Jetzt schrieb ers in den »Bund« und erwirkte dadurch, daß wenigstens in der Schweiz hie und da einer meinen Namen kennenlernte. Daneben empfahl er es unermüdlich mündlich seinen Bekannten und Gästen. Brahms zum Beispiel lernte mich auf diese Weise kennen. Lehrer an einem Progymnasium zu sein, war weder mein Vergnügen noch mein eigentlicher Lebensberuf. Ich vertauschte daher nach fünf Jahren meine Stelle mit einer Stelle als Redaktor einer Basler Zeitung, wo ich zufrieden war. Allein nach einem Jahre flog die Zeitung in die Luft und ich auf das Pflaster. Nun stand es bedenklich; ich mußte ein paar Jahre mühsam unten durch. In diesen problematischen Jahren waren die Artikel für Widmanns »Bund« meine Haupteinnahmequelle; ich kann fast sagen, meine einzige Einnahmequelle, bis später auch die »Neue Zürcher Zeitung« mich ebenfalls zu gelegentlicher Mitarbeit einlud. Ein Lichtblick, obschon ein trügerischer: es gelang Widmann, Nietzsche für mich zu interessieren. Nietzsche sprang wirklich mit schönem liebenswürdigem Eifer frisch und herzhaft für mich ein; es ist nicht seine Schuld, wenn seine Empfehlungen an die Verleger nicht Gehör fanden; und im folgenden Jahr war Nietzsches Geist umnachtet.

Im Jahre 1890 erfolgte dann durch meine Berufung an die Feuilletonredaktion der »Neuen Zürcher Zeitung« ein Umschwung in meinem äußern Schicksal; ich war fortan der Sorgen überhoben. Nicht aber ein Umschwung im Schicksal meiner Bücher. Ich mochte veröffentlichen, was ich wollte, immer wurde alles in Deutschland totgeschwiegen; während ich in der Schweiz allmählich zu einigem Ansehen gelangte, jetzt nicht mehr einzig durch Widmann, denn auch meine Stellung an der »Neuen Zürcher Zeitung« half mit, aber doch noch immer hauptsächlich durch Widmann. Ich halte darauf, auch bei dieser Gelegenheit die Wahrheit deutlich auszusprechen, daß mich die Schweiz mit Gunst und Achtung beehrt hat, als in Deutschland noch kaum einige Vereinzelte meinen Namen kannten. Und so ging es Jahr für Jahr weiter. Bis plötzlich wie mit einem Blitzschlag sich alles änderte. Und wem verdanke ich die Änderung? Es ist nicht schwer zu erraten: natürlich wieder Widmann. Widmann hatte nämlich mittlerweile in der Wiener »Neuen Freien Presse« Fuß gefaßt, so daß er jetzt seine Besprechungen meiner Bücher dort anbringen konnte. Gewöhnlich gingen sie zwar auch dort ziemlich spurlos vorüber, aber ein glücklicher Zufall wollte es, daß Weingartner eine dieser Besprechungen zu Gesicht bekam, darauf hin eines meiner Bücher sich verschaffte, Feuer fing und dann in seiner tapfern, mutigen Weise öffentlich sein Urteil über mich aussprach. Weingartners Stimme konnte man nicht überhören, es half kein Totmunkeln mehr, und mit dem Augenblick, da das Publikum mein Dasein vernahm, waren meine Werke geborgen. Daß aber der Musiker selber von diesem Dichter etwas vernahm, verdanke ich, wie gemeldet, Widmann.

Um alles kurz zusammenzufassen: ohne Widmanns Hilfe hätte ich vielleicht niemals einen Verleger, niemals einen Beurteiler gefunden, hätte wahrscheinlich das Dichten aufgegeben und wäre irgendwo als Lehrer oder Journalist verkümmert. Ich sage ›vielleicht‹ und ›wahrscheinlich‹ . Was ich aber jetzt hinzufüge, ist nicht ›vielleicht‹ und ›wahrscheinlich‹, sondern ganz gewiß: Ohne Widmanns beharrlichen Eifer wäre ich noch heute für Deutschland ein gänzlich Unbekannter.

Das alles also verdanke ich Widmann. Und jetzt drängt es mich, abzuschließen, um mich in stiller Wehmut in die Erinnerung an den Widmann meiner Schuljahre zu versenken, dem ich noch viel mehr verdanke als das alles.


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