Hermann Stegemann
Die Krafft von Illzach
Hermann Stegemann

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Herbstwinde schoren die Stoppeln noch einmal. Die Kartoffelfeuer rauchten. Über dem großen Belchen stand der Himmel in einem satten dunklen Blau, wenn abends die Sonne sank. In den Rebgärten gilbte das Laub.

Die Unterpräfektur von Dornkirch besaß einen Turm, der war von der alten Stadtmauer übrig geblieben und mit dem Gebäude verbunden worden. Eine hölzerne Altane hing daran. Hier hatte zur Zeit, da die Armagnaken des elften Ludwig die Freigrafschaft und die Herrschaften Mömpelgard und Pfirt und die freien Städte und habsburgischen Pfandländer im Elsaß überschwemmten, der Wächter gestanden und gen Westen ins wellige Tal gespäht, ob Rauch aufsteige von brennenden Dörfern.

Fest angeklammert lag Dornkirch auf dem Hügelrand, der steil ins Tal stieß. Die Kirche stand am weitesten vorn, hoch über der Ill, die unten ihren Bogen schlug. Ein Kloster hockte im Schutz stehen gebliebener Stadtmauerreste und diente als Gymnasium. Das Amtsgericht war in einem Barockhaus untergebracht, wo einst eine Eintagsgeliebte Ludwigs XV. ihre Abfindung verzehrt hatte. Heute noch roch's darin nach Puder und Essenzen.

Claudine liebte es, auf den Turm zu steigen. Sie sah dann die Bodenwellen eine hinter der andern durch das Tal streichen, im Norden das Massiv des Belchens gewaltig am Horizont stehen, die Züge laufen, die aus Frankreich kamen, und die schwarzen Schiffe zwischen den grünen Dämmen des Rhein-Rhonekanals von Pferden gezogen langsam dahinschwimmen.

252 In der Amtskutsche, die mit zwei Pferden bespannt, den Kreisdirektor über Land trug, war sie noch nie gefahren.

Wenn sie den Wagen aus der Häusergruppe der Vorstadt unten am Fluß hinausschießen und auf der weißen Straße flink in ein Seitental enteilen sah, blieb sie regungslos stehen. Zuweilen sah ihr Mann herauf, erkannte die schwarze Gestalt vor der frischgetünchten Wand und grüßte. Sie dankte nur mit einem kurzen Neigen des Kopfes, obwohl sie wußte, daß er das auf diese Entfernung nicht sehen konnte. Noch nie hatte sie die Hand zum Gegengruß erhoben.

Heute blickte sie nach Klaus Krafft aus. Er hatte ihr geschrieben, daß er sie besuchen werde, und sie gebeten, ihn bei Konrad anzumelden.

Da das Billett nichts Besonderes enthielt, reichte sie es schweigend über den Tisch.

»Ah, ich freue mich sehr,« hatte ihr Mann gesagt, »aber ich kann den Hinzinger Ortstermin nicht mehr verschieben. Wir müssen das Dorf endlich von der Typhusplage säubern und ihm besseres Wasser verschaffen. Aber Klaus bleibt gewiß gern bis morgen. Ich komme leider erst spät abends zurück.«

Es war das erste Mal, seit sie wieder im Lande waren, daß Klaus sie besuchte, und er kam, um mit ihrem Manne über eine wichtige Angelegenheit zu sprechen. Der aber ging seinem Termin nach. Papa hätte alles stehen und liegen lassen und wäre zuerst für den Gast da gewesen. Sie sagte nichts, nur ihr Blick wurde trotzig und dunkel.

Nun wartete sie auf den Bruder. Im Erdgeschoß des schwergebauten Sandsteinhauses war es schon kühl und dämmrig. Die Schritte der Beamten hallten in den Korridoren. Die Wohnung im ersten Stock lag ausgestorben. Langsam war Claudine die Wendel emporgestiegen. Ganz Dornkirch schlief, lag wie verwunschen im kältenden Nordwind. Welke Blätter schossen von den 253 Lindenbäumen auf den Marktplatz und strichen in gelben Rudeln über das Kopfsteinpflaster.

Im Elsaß und doch nicht daheim! Es fror die einsame Frau auf dem Auslug. Sie preßte sich gegen die Mauer und blickte über die Felder.

Klaus hatte geschrieben, er komme vielleicht mit Kieners Wagen von Aslach her. Der Basel-Paris Expreß war vor einer Viertelstunde durchgefahren. Einen Augenblick hatte das Tal von seinem dröhnenden Lauf widergehallt. Jetzt lag's wieder wie zum Absterben still unter dem kalten Wind und der hellen Sonne.

Claudine stand wie am Pranger auf der schmalen Holzlaube dicht an die Tür gedrückt. Kalte, schneidende Luft um sie her.

Sie hatte mit den paar deutschen Beamtenfrauen nichts gemein. Sprache, Sitte, Interessen, alles anders. Sie hatte auch keine Kinder, die ihrem Leben Inhalt gegeben hätten. Von den Elsässern wurde sie scheu von der Seite angesehen, denn sie galt als Renegatin und war zu stolz, ihnen zu zeigen, daß sie es weniger war als mancher, der den Preußenfresser herauskehrte. Von den Deutschen wurde sie nicht für zuverlässig, vielleicht nicht einmal für voll genommen, denn ein bißchen Erobererhochmut stak auch im Geringsten.

Und ihr Mann?

Er schien beides nicht zu beachten, nicht zu fühlen. Kein Besucher fand ihre Tür. Nur Assessor Doesgen zog wöchentlich einmal die Klingel.

Claudine wußte, daß er sie anbetete. Es stand in seinen kecken schwarzen Augen, die so schulbubenhaft schielen konnten, wenn sie ihn kühl anblickte und seine Huldigungen in die Grenzen wies. Er hatte als Freiwilliger den Krieg mitgemacht und war erst vor drei Monaten aus Nancy zurückgekommen, wo er zu den Okkupationstruppen gehört hatte. Wenn er Claudine ganz nahe zu kommen versuchte, begann er französisch zu sprechen, ein fließendes, tadelloses Französisch, nur ein klein 254 wenig gesungen, wie die Rheinländer zu sprechen pflegen. Aber sie blieb kühl und unnahbar.

Ein Glöckchen läutete im Zwiebeltürmchen der Waisenhauskapelle, die sich wohlig ins Tal duckte, und sandte den kläglichen Schall zur Stadt empor. Früher war das Gebäude, neben dem die Kapelle stand, ein Siechenhaus für Aussätzige und Blatternkranke gewesen. Jetzt lag es, zu einem Waisenhaus ausgebaut, im grünen Tal.

Über der großen Spinnerei von Nicot und Wendel trieb eine Rauchwolke und verbarg Claudinen die Aussicht.

Plötzlich schoß die große schwarze Kutsche Kieners daraus hervor.

Da überkam die Frau auf einmal ein unbezwingliches Heimweh. Aus ihrer Vereinsamung wuchs es heraus, als sie den Wagen erblickte, in dem Klaus Krafft gefahren kam. Aber dieses Heimverlangen strebte nicht zu ihrem Bruder hin. Es war plötzlich ein anderer Wagen, ein anderer Insasse – mit einem Ruck richtete sie sich auf – nein, nein, Erinnerungen betrogen sie – sie liebte ihn nicht – hatte ihn nie geliebt!

Langsam stieg sie vom Turm.

Klaus Krafft richtete keine unzarte Frage an sie, und Claudine erzählte von sich aus nichts über ihre Ehe, ihr Verhältnis zu Konrad und ihr ganzes, einsames Leben.

Sie gingen gegen Abend, als der Wind sich gelegt hatte, durch die Gassen.

»War's immer so still und leer in unseren elsässischen Städtchen?« fragte Claudine plötzlich.

»Still war's immer, aber nicht so leblos still,« erwiderte er.

»Was machen die Kinder und Amélie?«

»Danke, es geht ihnen gut, und sonst – mein Gott, was sollen sie machen!«

Er hob die Schultern.

»Ihr bleibt also in St. Niklausen?« fragte sie nach einer Pause.

255 »St. Niklausen oder Straßburg – ich weiß noch nicht,« klang's gleichgültig.

»Willst du nicht nach Frankreich zurückkehren? Wieder Dienst nehmen?«

Sie gingen um die Kirche herum. Eine Tannengruppe stand hier als dunkle Kulisse. Scharlachfarben brannte die untergehende Sonne durch die schwarzen Bäume.

Klaus blieb stehen und blickte in die Tiefe. Dort floß die Ill wie von Blut durchzogen.

»Nein, Claudine, ich kehre nicht mehr nach Frankreich zurück. Ich bleibe hier. Ich habe nicht für Frankreich optiert. Ich bin nur noch Elsässer.«

»Und wenn sie das Elsaß zurückerobern, die Franzosen?« fragte sie, und ihre Lippen bebten.

»Dann, dann bin ich wieder« – er brach ab – »Sie werden es nicht können,« schloß er leise. »Nein, nicht können.«

Er starrte in das farbensprühende Tal.

Langsam gingen sie nach Hause.

Als Konrads Wagen mit dumpfem Rollen in den Hof fuhr, stand Claudine auf.

»Ich laß euch allein.«

Ihr Mann begegnete ihr auf dem Flur.

»Brr die Kälte, aber eine Luft wie Stahl,« rief er ihr entgegen.

Er hatte sich einen lebhaften, heiteren Ton angewöhnt, wenn er mit ihr sprach.

Da erblickte sie hinter ihm auf der Treppe Herrn Doesgen.

Konrad las im hellen Gaslicht das leise Erstaunen, das in ihre Züge trat.

»Wir haben noch zu arbeiten. Erlaube, daß Assessor Doesgen dich noch begrüßt.«

»Ich erlaube ihm sogar, mich zu unterhalten, bis Klaus dir die erste kurze Mitteilung über den Zweck seines Besuches gemacht hat. Hat die Arbeit der Kreisdirektion so lange Zeit?«

256 Sie lächelte. Kalt und klar, wie die Septembersonne, die heute geschienen hatte, stand dieses Lächeln in ihrem Antlitz.

Konrad fühlte sein Herz schneller schlagen. Ein feiner Spott sprach aus ihren Worten, mehr, es war eine Zurechtweisung gewesen.

Er tat, als hätte er nichts gemerkt.

»Selbstverständlich! Eigentlich geht ja der Dienst allem vor. Aber wir haben heute ohnehin schon Überstunden gemacht. Also bitte, Herr Assessor, meine Frau erlaubt, daß Sie nähertreten. Sonst tragen Sie uns noch den Schlaf weg.«

Er merkt nichts, merkt die Lehre nicht, die ich ihm gegeben habe, dachte Claudine, und mit einer koketten Liebenswürdigkeit, die nur den Zweck hatte, Konrad aufzupeitschen, streckte sie dem Assessor die Hand hin.

»Kommen Sie an den Kamin, ich habe heizen lassen und werde versuchen, Sie aufzutauen, bis die Herren sich gesprochen haben.«

Doesgen schlug die Absätze zusammen und küßte die schmale Hand mit vollen warmen Lippen.

Sie wollte sie ihm empört entziehen, aber ihr Mann stand noch dabei.

Da ließ sie jenem die Hand und fuhr nur nachher heimlich mit dem Taschentuch über die geküßte Stelle.

Konrad von Eggheim und Klaus Krafft von Illzach saßen sich im frostigen Zimmer des Kreisdirektors gegenüber.

»Also legen Sie ein Wort ein für Kiener! Wir können ihn doch nicht austreiben lassen!«

Konrad blickte seinen Schwager fest an.

»Ich darf nicht, und ich kann es noch weniger, weil Kiener mir durch meine Frau näher steht. Er hat für Frankreich optiert, er muß also auch die Konsequenzen daraus ziehen und sich nun ganz und ausschließlich in Frankreich niederlassen.«

»Aber das ist ja eine brutale Härte, eine 257 Ungerechtigkeit! Wir sind doch schließlich hier zu Hause,« blitzte Klaus auf, und zum ersten Mal sah Konrad ihn aus seiner Ruhe treten.

»Es ist eine Staatsnotwendigkeit: Bedenken Sie doch, wir können unmöglich das Elsaß als Teil des Deutschen Reiches betrachten und deutsch verwalten, die Bevölkerung in deutsche Anschauungen eingewöhnen, wenn es erlaubt bleibt, sich als Franzosen zu deklarieren und als Franzose im Lande zu bleiben.«

»Kiener weiß nicht, daß ich Ihre Vermittlung anrufe, Eggheim. Er ist ein Hartkopf, er will's bis zur Gewalt kommen lassen. Vor acht Tagen hat er sich nach Kleingilgen begeben und wartet dort auf die Gendarmen. Er sitzt zwischen seinen Maschinen in dem Direktionsgebäude und wartet.«

»Kleingilgen gehört zu meinem Kreis,« antwortete Konrad.

»Ah, um so besser, das wußte ich nicht. Dann werden Sie wenigstens für Aufschub und Fristverlängerung sorgen können.«

Eggheim erhob sich.

»Ich kann nur eins: so schonend wie möglich verfahren, wenn ich gezwungen werde, den Bestimmungen Nachdruck zu verleihen. Die Frist hat der Reichskanzler nach dem Frankfurter Traktat festgesetzt, und ich bin nur vollziehende Behörde.«

»Mit solchen Rücksichtslosigkeiten werden Sie das Elsaß nie versöhnen!«

»Mit Parteilichkeit noch weniger, Schwager Klaus!«

Sie waren zu Ende und ließen beide das Gespräch fallen.

»Wir wollen meine Frau erlösen gehen,« sagte Konrad, als der letzte Versuch, eine gleichgültige Unterhaltung anzuknüpfen, mißlungen war.

Claudine saß vor dem französischen Kamin, die Füße auf das Gitter gestemmt und ließ den Assessor seine Künste machen.

258 »Warum sprechen Sie eigentlich mit Vorliebe französisch,« fragte sie ihn.

»Weil ich in Ihrer Sprache zu Ihnen sprechen will, gnädige Frau,« erwiderte er und fuhr, von ihrem Schweigen ermuntert, in leiserem, zärtlichem Tone fort:

»Weil ich hoffe, daß Sie meinen Worten dann lieber die Tür öffnen zu Ihren Gedanken.«

Und als er das sagte, ergriff ihn ein Verlangen, diese stolze, kalte Frau, deren Vereinsamung ihm kein Geheimnis geblieben war, aus ihrer Erstarrung zu erlösen. Es war nicht mehr Leichtfertigkeit und auch nicht zur Ruhe gekommenes Eroberungsgelüst aus der Kriegszeit, sondern eine brünstige Leidenschaft, die plötzlich in ihm emporschlug.

Claudine saß und sann. So hatte Konrad nie zu ihr gesprochen.

Jetzt blickte sie auf.

»Wenn Sie ein Franzose wären, oder ich eine Französin, die Sie erobern wollen, so hätte das einen Sinn. Aber Sie sind doch Deutscher und ich bin –« sie stockte, unterdrückte den rebellischen Gedanken – und sprach nur einen Teil des ursprünglichen Satzes, indem sie schloß: »und ich bin nicht zu erobern.«

»Gnädige Frau!«

Sie winkte ihm leicht mit der Hand, um seine Beteuerungen abzuschneiden.

Er schwieg.

Die Buchenscheite im Kaminfuß glänzten wie Rubinen, wenn die weiße Asche von ihrer Oberfläche weg in den Rauchfang hinaufgerissen wurde. Die Lampe stand am andern Ende des Zimmers und leuchtete nur matt.

Und Claudine vergaß, daß sie nicht allein war. Sie horchte, ob sie die Schritte, die Stimme ihres Mannes noch nicht vernehme. Als Konrad und Klaus dann eintraten, fuhr sie doch wie aus tiefen Gedanken auf und wußte kaum, daß ein einsilbiges Gespräch die letzte Viertelstunde getötet hatte.

259 Doesgen verabschiedete sich mit dem Gefühle, heute abend in Claudinens Augen in nichts zerflossen zu sein. Den Zusammenhang begriff er freilich nicht.

Konrad entschuldigte sich noch einmal bei seinem Schwager und seiner Frau und begab sich darauf mit dem Assessor in sein Zimmer.

Stumm saßen die Geschwister am Kamin, der Wind war zum Sturm geworden und riß die Asche aus den Bränden.

Klaus ging ans Fenster. Ein samtschwarzer, von Sternen wie mit goldenen Nägeln fest ans Gewölbe gehefteter Himmel straffte sich über dem Tal. Der halbe Mond stach wie ein Schwert hinter einem Treppengiebel hervor. In scharfen, pfeifenden Tönen strich der Wind über die Stadt.

Er kehrte sich um.

»Liebst du deinen Mann, Claudine?«

Sie erschrak, doch sie saß still, nur klarer wurde die Blässe ihrer Wangen.

»Du weißt, wie es zwischen uns steht,« gab sie nach einer Weile zurück.

»Vielleicht hätte er dir eher Gehör gegeben und Kiener und Tante Madeleine – es ist mir mehr um sie – die Ausweisung erspart.«

»Ich habe keinen Einfluß auf meinen Mann.«

»Aber du könntest ihn haben.«

Sie stand auf. Sie war nie so klar und ruhig gewesen. Aus der Reife dieser Zeit und aus Schmerzen und Prüfungen sprach sie, als sie antwortete:

»Nein, Klaus, ich könnte und dürfte keinen Einfluß haben, in diesen Dingen schon gar nicht. Du kennst Konrad nicht. Und ich will auch gar keinen Einfluß haben in dem Sinn, wie du es meinst. Ich will ihn nicht nachgeben sehen, weil er damit vielleicht bei mir etwas zu gewinnen hofft. Er wirbt um mich. Auf seine Art. Ich fühl's, weiß es und ich lege ihm keine Stricke. Ich liebe ihn nicht, nein, ich liebe ihn nicht, es ist nicht wahr, daß 260 ich ihn liebe! Aber ich könnte nicht mehr neben ihn leben, wenn ich ihn nicht trotzdem achten müßte.«

»Du machst die Unterschiede zu fein, Claudine. Am Ende ist dein Respekt mehr Liebe, als du ahnst.«

»Nein, nein,« rief sie lebhaft, und die Röte kam und ging auf ihren Wangen, »ich kann ihn nicht lieben. Lieben, wo ich jeden Tag und jede Stunde fühle, wie wir fremd nebeneinander hergehen? Was bin ich denn? Bin ich noch Claudine Krafft von Illzach? Ich habe keinen elsässischen Namen mehr und habe niemand mehr in diesem Lande, der mich kennt. Ich bin die Frau eines Deutschen, eines Prussien, ich finde starre Gesichter, wenn ich in ein Geschäft trete, oder Mitleid in den Mienen, wenn es hoch kommt. Und den andern bin ich die Elsässerin, die Französin geblieben, vor der man sich zurückhält, der man mißtrauisch aufpaßt, als wären wir leichte Ware. Ich lebe allein und einsam, wie nur jemand auf der Welt!«

»Du vergissest uns.«

»Euch?« Sie blickte ihn gerührt an. Ein schweres Lächeln zog über ihr Gesicht.

Und dann sagte sie langsam: »Ich vergaß niemand, Klaus. Auch ihr seid mir fremd geworden.«

Sie ließ sich wieder in den Sessel gleiten.

Er hatte protestieren wollen. Doch statt eines Widerspruchs entgegnete er nach einem Schweigen:

»Ja, wir sind uns alle fremd geworden, sind entwurzelt, nirgends mehr daheim. Nicht einmal mehr in unseren eigenen Empfindungen.«

Draußen gingen Türen.

Als Konrad zu ihnen zurückkehrte, war Klaus Krafft zu einem Entschluß gekommen.

»Eggheim, ich sehe ein, daß ich Sie nicht hätte bitten sollen. Auch Claudine hat es abgelehnt, zu Gunsten Kieners bei Ihnen zu intervenieren. Und schließlich ist es auch für Kiener besser, er zieht die Konsequenzen. Er hat gewählt.«

Konrads Blick flog zu Claudine hinüber. Er konnte 261 ihr abgewendetes, vom Schatten überhauchtes Gesicht nicht erkennen.

Sie gingen zur Ruhe.

Auf dem Korridor blieben, wie immer über Nacht, die Gasflämmchen brennen, Konrad ließ sie nur herunterdrehen, denn der Zugwind klemmte sich überall hindurch und riß die blauen Flammenblumen fast von den Stielen.

Claudine steckte die Haare für die Nacht zusammen. In ihrem Schlafzimmer war vom Wind nichts zu hören. Es lag nach Süden und auf die Kreuzgasse. Nur dann und wann ein feines Klirren, das war das Barbierbecken über der Gasse, das an die Stange schlug. Es störte sie nicht.

Sie lag lange wach. Müde, müde vom taten- und lustlosen Dahinleben, von inneren Kämpfen und dem Schleppen von Erinnerungen.

Aber es war eine Müdigkeit, der der Schlaf fehlte.

Doch als in dieser Nacht plötzlich das Feuerhorn schrie und der Clairon der Pompiers sein Signal in die leeren Gassen schmetterte, war es doch ein wirrer Halbschlaf, aus dem Claudine fuhr – und ›Krieg, Krieg‹ war ihr erster, unklarer, verzweifelter Gedanke.

»Konrad!« Unwillkürlich rief sie seinen Namen.

Im gleichen Augenblick klopfte es an ihre Tür.

»Beruhige dich, es ist nicht in der Stadt, aber leider Gottes draußen im Waisenhaus. Ich muß fort.«

Er hatte keine Zeit, auf ihre Antwort zu warten. Sie lief barfuß im Morgenrock an die Tür und riß den Riegel zurück. Sie hörte noch seine Befehle unten im Flur, dann auch Klaus Kraffts Stimme, der mit ihm zur Brandstätte eilte, und das Schlagen der Türen. Das Gas knatterte hochaufgedreht in den Hähnen.

Die Jungfer kam und fragte, ob sie bei Madame bleiben dürfe, sie fürchte sich.

Claudine kleidete sich an.

Als sie auf den Balkon trat, lag die Gasse im gelbgestreiften Dunkel geöffneter Fenster und Türen. Eine Handspritze wurde mit wildem Lärm über das Pflaster 262 gerollt, dann war es wieder still. Der Wind hatte sich besänftigt. Ein feiner, grauer Nebel zog Strahlenkreise um die Laterne, die an der Ecke der Kleinkindergasse stand.

»Es brennt ja gar nicht,« sagte die Jungfer wie enttäuscht.

Claudine stieg in den Turm. Die Magd war schon oben.

»Hier, Madame,« rief sie ihnen entgegen und trat beiseite.

Im schwarzausgefüllten Tal wogte ein unruhiges Hin und Her von kleinen, gelben Lichtern. Zuweilen schlug eine spitze, rotgeflammte Feuerzunge aus dem Dunkel, und dann erschien im Lichtschein das Dach, der Hof und die Scheuer des Waisenhauses, um sogleich wieder in einer dicken Finsternis zu verschwinden.

»Es kann nicht schlimm sein,« sagte Claudine.

Aus der Ferne sah der Brand nach gar nichts aus, drang auch kein Lärm aus der Tiefe; der Mond schwamm in einer grünlich schillernden Dunstschicht über den schwarzen Hügeln. Der Wind war feucht geworden.

Aber auf einmal roch Claudine den Brand. Und da puffte plötzlich eine Flammengarbe auf, erschien aus feurigen Balken gebildet, das Dach des Waisenhauses auf dem dunklen Hintergrund, stieg ein Riesenschwarm glühender Funken in die Nacht und zog in einem Kometenschweif über das erschauernde Tal.

Die Kirchenglocke begann Sturm zu läuten.

»Das ganze Waisenhaus brennt! Jesus Maria, die armen Kinder!« schrie die Magd und starrte, vom Schwindel auf die Kniee geworfen, wie gebannt in die fressende Glut.

Auf dem Totwasser der Ill, das in verlorenen Teichen stand, glänzte der rote Schein. Von Aslach her kam mit Dröhnen und flackernden Windlichtern die Dorfspritze.

»Wo ist Franz? Er soll anspannen, wir müssen die Kinder holen!«

263 Claudine war schon die Wendel hinuntergeeilt.

Zum ersten Mal saß sie in der Amtskutsche. Allein. Die Jungfer war gern zurückgeblieben.

Es waren nur wenige Minuten bis zur Brandstätte. Knatternd und prasselnd stieg die Lohe empor, der grelle Lichtschein zuckte über die weiße Straße, auf der der Landauer durch einen Strom von Menschen pflügte, die von den Flammen angezogen mit entgeisterten Gesichtern wie blind und taub einherrasten.

Die Pferde mußten Schritt gehen. Sie begannen zu stutzen und unruhig zu werden.

Franz lenkte auf den Feldweg, der zur Kapelle führte. Die stand im grellen roten Flammenschein, und ihr kleiner kupfergedeckter Zwiebelturm glänzte wie grünes Gold.

Da mußte Claudine an die Kirchenkuppel denken, die in ihren Garten in Kassel geschaut hatte, und dann an ihr Kind. Eine große, erbarmende Liebe schoß in ihr auf.

»Halten Sie an, Franz, ich steige aus!«

Er verhielt die Gäule und brachte nur noch die Kapelle zwischen sie und den Feuerschein.

»Gnädige Frau, es ist gefährlich,« sagte er, während er die Pferde am Kopf nahm und hielt.

Claudine stand schon auf den Füßen. Aus dem blauen Kopftuch, das sie aus dem Schrank gerissen hatte, tauchte ihr Gesicht klar und jung.

»Keine Angst, Franz, ich komme schon durch.«

Als sie hinter der Kapelle hervortrat, stieß sie auf einen Schwarm junger Burschen, die ihre rohen Späße machten und den Mädchen mit wilden Griffen zu Leib gingen, während weiter vorn die Feuerwehren kämpften und die Brunst von Balken zu Balken sprang. »Nunedié, da kommt ein Sonntagsbraten!« gröhlte einer und versuchte Claudine zu umfassen.

»Gredin!« stieß sie zwischen den Zähnen hervor und schlug ihm die schmale Faust ins Gesicht.

»Gottverdamm, die Präfektin!« schrie ein anderer und riß den Angreifer zurück.

264 Atemlos erreichte Claudine den Kordon.

»Konrad!«

Er stand in dem freien Raum hinter der Aslacher Spritze, neben ihm der Pompierkommandant und der Bürgermeister. Soeben wurden die letzten Kinder über den Hof getragen. Die Pumpenschwengel dröhnten, die Flammen zischten, in wilden Schwärmen kreisten die Tauben mit klatschendem Flügelschlag, der heftiger klang als das Brüllen der Feuersbrunst, um das brennende Dach.

Als Claudine, von dem Feuerwehrmann einen Schritt näher herangelassen, noch einmal rief, fuhr er herum.

Unwillkürlich gab der Posten den Weg frei.

Sie ging auf ihren Mann zu.

»Kann ich helfen, Konrad?« Und zu den andern mit einem ernsten Lächeln:

»Ich dachte an die Kinder,« und dann mit plötzlich hervorbrechender Angst: »Sie sind doch gerettet?«

Konrad hatte ihre Worte mehr erraten als verstanden.

»Alle gerettet. Drüben im Wirtschaftsgebäude. Willst du zu ihnen?«

Sie nickte.

Er wollte ihr den Arm geben.

Aber mit einem Blick, den er nicht verstand, trat sie zurück und sagte zu dem Bürgermeister, der noch den Hut in der Hand hielt: »Wollen Sie mich zu den Orphelins führen, Herr Maire! Mein Mann hat seinen Platz hier!«

Diesmal hatte sie so laut gesprochen, daß keins ihrer Worte verloren ging.

Als sie am Arm des Bürgermeisters über die Straße schritt, schlug die letzte Flamme aus dem zusammengestürzten Dachstuhl. Gleich darauf wurde es dunkel, und die rotgeäderten Rauchwolken quollen wie träg schleichende Würmer über die Mauern des ausgebrannten Hauses und verloren sich in der Nacht.

»Es ist vorbei,« sagte der Branddirektor und lockerte die schwere Messinghaube.

»Ja, es ist vorbei,« wiederholte der Kreisdirektor 265 eintönig. Aber dann raffte Konrad sich zusammen und wandte seine Gedanken von Claudine ab dem Brande zu.

»Ah, du bist's!«

Klaus, der im Flur des Wirtschaftshauses zwischen den Matratzen stand, war nicht verwundert, seine Schwester hier zu erblicken. Auf den geretteten Matratzen lagen die Waisenkinder. Kaum eins von den Mädchen weinte. Die Buben, die nebenan in der Milchkammer untergebracht waren, fuhren unruhig umher. Nur eins von den Kleinsten schluchzte auf seinem Maträtzlein und ließ sich von der Nonne vergebens zureden.

Klaus, der Maire und der Waisenpfleger standen und ratschlagten.

Es blieb keine Wahl, als die Kinder hier zu lassen, wo sie kaum bedeckt auf den nackten Matratzen lagen.

Da ging Claudine zu dem Kleinsten, das immer noch still weinte. Es war ein Mädchen von fünf Jahren und zitterte vor Kälte und Angst.

»Donnez-moi l'enfant, ma sœur, que je l'emporte, à moi les plus petites, j'ai ma voiture.«

Das kam französisch über ihre Lippen, und es war in jenem höflichen Ton gesprochen, der keinen Widerspruch duldete.

Schon hatte sie das Tuch vom Nacken gelöst und das Kind hineingewickelt.

Die Schwester half ihr in schweigendem Gehorsam.

Als sie an dem ausgebrannten Gebäude vorbeiging, begegnete ihr Konrad. Er kam über den Hof, und sie sah, wie die Spritzenführer, die zum Abrücken bereit waren, ihm die Hand reichten. Und dann hörte sie plötzlich seine Stimme. Er sprach in seiner oberbadischen Mundart, und es klang beinahe wie das Elsässerdeutsch der hiesigen Gegend.

Sie lachten zu seinem Lob, vergaßen einen Augenblick, daß er ein Preuße, ein Eroberer war, sahen nur den Mann in ihm, den die Funken ins Gesicht gebissen hatten, wie sie selbst, der sie besser ins Feuer geführt hatte, 266 als ihr eigener Kommandant. Wäre er nicht gewesen, so lagen die Kinder nicht alle heil drüben auf ihren Matratzen.

Claudine blieb stehen und drückte das Waislein fest an sich. Dicht hinter ihr erschien Klaus und trug zwei andere, und zuletzt kam der Maire mit einem vierten.

Konrad hielt an sich. Das laute, frohe Wort, das er ihr entgegenrufen wollte, blieb ungesprochen. Er wollte ihren Trotz nicht rege machen, er konnte sie nur mit den Blicken loben, ihr Bild in sich trinken, wie sie im ungewissen Licht und Feuerschein barhaupt vor ihm stand, das Kind auf den Armen, und einen stolzen Mut in jeder Gebärde. Das war nicht mehr die Claudine, die sich allem verschlossen hatte, auch nicht die Claudine von einst mit ihren Sacré-coeur- und Salonerinnerungen, das war ein Weib, das neu ins Leben verlangt und das Leben meistern will.

Er begnügte sich, stehen zu bleiben und den Hut zu ziehen. Es war eine Geste. Etwas, das seinem Wesen fernlag, aber er sah, wie seine Frau dankend und mit einem ernsten Lächeln den Kopf neigte und, das Kind fest umfassend, weiterschritt.

Nur eine Geste, aber sie hatte Claudinen ritterlich berührt. Während Konrad insgeheim seinen Hutschwung theatralisch fand, freute sie sich in ihrer französischen Bildung dieser Huldigung ihres Mannes. Und auch die braven Leute, die Handwerker und Krämer, die in den gelben Kammhelmen und den bauschigen Pantalons steckten, rote wollene Epauletten auf den Schultern, mit Schnüren und Medaillen aufgeputzt, und die zum Teil sogar ungeladene Tabatièreflinten in den Händen führten, die Pompiers von Dornkirch und Aslach, blickten mit Verständnis und Sympathie auf die huldigende Geste des Kreisdirektors.

Metzgermeister Grosjean, der Kommandant, salutierte sogar mit seinem breiten Sarras, als Frau von Eggheim an ihm vorüberschritt.

267 Nun saß Claudine im Wagen und vier in Decken gewickelte Waisen um sie her. Die Pferde liefen ohne Peitsche, der brandige Qualm trieb sie rasch in die Dunkelheit hinein und der Stadt zu.

Als der Morgen eine dichte Nebeldecke über das Tal wälzte und Dornkirch erschöpft in den Tag schlief, lagen in der Wohnung des Kreisdirektors vier Kindlein in großen Betten, je zwei in einem, und die Türen waren geöffnet, damit Claudine hörte, ob sie weinten.

Am Nachmittag reiste Klaus ab.

»Auf Wiedersehen, Claudine, geh deinen Weg, es muß jeder den seinen selbst suchen in dieser Zeit!« sagte er mit einem schwermütigen Lächeln zu ihr und küßte sie auf die langsam errötenden Wangen.

Doch als nach einigen Tagen die Kinder im Schulhaus untergebracht waren und es wieder still wurde in der Kreisdirektion, schlossen sich auch die Türen wieder, die von Bett zu Bett geführt hatten.

Wieder lebten sie fremd nebeneinander her.

Da begann Konrad eines Tages:

»Es muß etwas geschehen, um den Wiederaufbau des Waisenhauses zu fördern. Der Gemeinderat weigert sich, daran zu gehen, weil wir dabei mitzureden haben. Aber das ist doch kein Grund. Wenn man wenigstens von privater Seite etwas tun könnte! Zum Beispiel eine Veranstaltung, um einen Grundstock zu sammeln. Man muß doch auch einmal alles andere vergessen können, wenn es nottut.«

Claudine blickte nicht von ihrem Buche auf. Schnee trieb in der Luft und sternte die Scheiben.

Er schien keine Antwort erwartet zu haben.

Aber auf einmal erhob sie den Kopf.

»Ich bin gern bereit, den Versuch zu machen – ein Basar oder dergleichen.«

»Ausgezeichnet, ich danke dir herzlich, Claudine!« rief er lebhaft.

268 Langsam schloß sie den Roman des Herrn Feuillet und erwiderte mit abweisender Gebärde:

»Es geschieht um der kleinen Waisen willen!«

»Und ich habe für sie gedankt,« entgegnete er ernst.

Sein Blick verwirrte sie, wenn sie es auch nicht merken ließ.

Nun saß sie allein. Der Schnee häufte sich auf der Gasse, es schien, als sollte Dornkirch darunter begraben werden.

Claudine hatte das Buch fallen gelassen. Leise war es zu Boden geglitten und dumpf aufschlagend zur Ruhe gekommen.

Die Kinder!

Ihr Kind, ihr einziges Kind! Nun lag es schon neun Monate unter der Erde, und der Schnee häufelte das Grab noch einmal so hoch, als sie es damals aufgeschüttet hatten. Sie sprachen nie von diesem Kind, aber beide wußten, daß es ihnen beiden gestorben war und daß ihre Gedanken oft denselben Weg gingen von Straßburg ins Fuldatal, wo es das Lichtlein seines Lebens ausgelöscht und es sich ins Dunkel zurückgezogen hatte, um sie allein zu lassen.

Als neulich vier Köpfchen, von denen gewiß keines Engelszüge aufwies, in ihren Betten lagen, war das mütterliche Empfinden überwältigend in Claudine aufgewacht, und sie hatte sich um sie gemüht und gesorgt wie um eigene.

Nun hatte sie kein Kind, keinen Gatten mehr. Denn niemals konnte sie vergessen, was geschehen war, immer wieder wuchsen Mauern um sie her und kerkerten sie ein.

Aber sie mußte sich andere Aufgaben setzen, Gedanken und Hände rühren, um nicht unter der Last dieses zwecklosen, liebeleeren, zerrissenen Daseins zu erliegen.

Claudine von Eggheim machte sich auf, für den Basar zu werben, an dem für den Neubau eines Waisenhauses gesammelt werden sollte.

Als sie die ersten Besuche gemacht hatte, erkannte sie, daß es sich nicht um eine gesellschaftliche Veranstaltung 269 handelte, wie sie in früheren Jahren schon viele erlebt hatte, sondern daß sie einen Dornenweg ging. Was anderswo eine hübsche Unterhaltung geworden wäre, die durch den guten Zweck, dem sie diente, geheiligt wurde, drohte hierzulande und in dieser Zeit ein großer Konflikt zu werden.

Als Claudine die Frau des Bürgermeisters aufsuchte, wurde sie kalt empfangen. Als sie die Gemahlin des Amtsrichters um ihre Mitwirkung bat, traf sie auf befangene Antworten. Als sie sich entschloß, Madame Charles Nicot, die Besitzerin der Spinnerei Nicot und Wendel, zu besuchen und die abgelegene Villa betrat, die sich in einem großen, mit einer neuen hohen Mauer umgebenen Park versteckte, ließ ihr die alte Dame sagen, sie bedaure, sie nicht empfangen zu können.

»Es war für ein gutes Werk, und ich bedaure es trotz der Abweisung nicht, gekommen zu sein, sagen Sie das Madame Nicot,« antwortete sie und verließ blaß, aber erhobenen Hauptes die Stätte dieser Demütigung.

Dunkles Gewölk hing tief ins Tal hinunter. Der Schnee war zerflossen, mit Regen nahte die Weihnacht.

Das Herz klopfte ihr, als sie von der Villa Nicot zur Stadt zurückging.

Aufgetaute Tränen beengten ihr die Brust. Aber der Stolz verbrannte und verzehrte jede, die sich bis in die Augen wagte.

Und die Weihnacht kam. In Kassel hatte Konrad ein Bäumchen aufgeputzt. Sie kannte den Brauch von früher her, denn auch in der Kalbsgasse hatte der Baum gebrannt, obwohl es nicht französische Sitte war, die Weihnacht zu feiern. Im Elsaß war's nur in Familien Brauch, die die Sitte aus uralter Zeit in die Gegenwart herübergerettet hatten. Diesmal blieb alles dunkel. Aber am andern Tag bescherte Claudine den Waisenkindern im Schulhaus unter einer Tanne, die sie selbst geschmückt hatte, und brauchte niemand dazu von all den Honoratioren, die sich ihr versagt hatten.

270 Am späten Abend klopfte Konrad bei seiner Frau an.

»Ich habe von anderen gehört, daß deine Bemühungen, durch eine Veranstaltung den Aufbau des Waisenhauses zu beschleunigen, fruchtlos gewesen sind. Ich komme dich um Verzeihung zu bitten. Ich hätte dir das ersparen sollen, hätte wissen müssen, daß die Brücke des Verständnisses abgebrochen ist.«

Sie hatte es nicht über sich gebracht, Konrad von den Abweisungen, Ausflüchten und Demütigungen zu erzählen, die sie erfahren hatte.

»Kein Erlebnis ist umsonst, ich bin um eine Erfahrung reicher,« erwiderte sie ruhig.

Sie hatte das Haar schon gelöst und nur flüchtig wieder aufgesteckt. Er sah die Blässe auf ihren Wangen und das Zucken ihrer Brauen.

»Du warst bei den Waisenkindern,« fuhr er mit sanfter, warmer Stimme fort.

»Ja, bei den Kindern, die machen noch keine Unterschiede,« versetzte sie leise.

Sie saßen sich gegenüber. Die Kerzenflammen standen unbeweglich wie kleine goldene Dolche auf den Dochten. Die Tür zu Claudinens Schlafzimmer war offen, und das dort brennende Licht flackerte unruhig, so daß ihr Zimmer in Brand zu stehen schien.

»Ich habe an Phine denken müssen, und da wollte ich dich noch einmal sehen,« sagte Eggheim nach einem langen Schweigen.

Sie entgegnete nichts, aber er sah ihre Hände im Schoß ihres weißen Nachtkleides fester ineinandergreifen.

Sie hatten sich nichts mehr zu sagen und blieben doch noch eine geraume Weile schweigend sitzen, eingehüllt vom klaren Lichtschein, wie inneren Stimmen lauschend und schmerzliche Erinnerungen tauschend, während nebenan die Kerze begehrlich flackerte.

Endlich erhob sich Konrad.

»Gute Nacht, Claudine!«

Sie legte ihre Hand in die seine.

271 »Gute Nacht!«

Als er ging, begannen auch die vorher ruhig brennenden Kerzen im Boudoir unruhig hin- und herzuschlagen im frischen Luftzug.

Wenige Tage später erhielt Claudine einen Brief von Tante Madeleine, in dem sie gebeten und mit den stärksten Beschwörungen aufgefordert wurde, bei ihrem Manne dafür zu wirken, daß Kiener nicht von der Ausweisung betroffen werde. Sie sei keine Illzach und keine Elsässerin mehr, wenn sie sich länger weigere, das zu tun. Sie habe sich in die Heirat mit einem Deutschen gefunden, nun möge sie auch die Pflichten erfüllen, die ihr durch Herkunft und Abstammung auferlegt worden seien. Jacques wisse von diesem Briefe nichts, aber wenn die Ausweisung wirklich erfolge, so bräche das Haus Kiener vielleicht zusammen. Kiener habe für Frankreich optiert, denn er lasse sich nicht als Deutschen behandeln. Noch weniger aber sei er geneigt, die Heimat zu verlassen, die ja doch in wenigen Jahren von Frankreich wieder zurückerobert werde.

Da ging Claudine von Eggheim zu ihrem Mann.

Sie war noch nie in seiner Amtsstube gewesen.

»Du? Verzeih, aber die Überraschung war zu groß. Kommst du zum Kreisdirektor von Dornkirch?«

Er wollte den Versuch eines Scherzes machen, um das heftige Herzklopfen zu verbergen, das ihn plötzlich befallen hatte.

Aber sie blieb ernst.

»Gewiß – nur zum Beamten. Ich glaube wenigstens, daß ich nur zu ihm kommen darf. Ich habe heute diesen Brief erhalten.«

Sie legte Madeleinens wirr und unlogisch einherstürmenden, aber von echter Empfindung bebenden Brief auf seinen Schreibtisch.

Er hatte ihr einen der schönen alten Empiresessel der Präfektur hingeschoben, und sie setzte sich und blickte unverwandt auf das Gipsrelief der Kaiserin Eugenie, das 272 noch an der Wand hing. Über Konrads Schreibtisch hing das Bild des deutschen Kaisers.

Langsam las Konrad den langen Brief. Sie hörte, wie er die Blätter wandte und nun das letzte zusammenfaltete.

»Es ist der Brief einer erregten Frau,« sagte er nachsichtig und legte ihn neben ihr auf den Tischrand.

»Ich mußte ihn dir zeigen oder doch davon sprechen,« erwiderte sie und bemühte sich, ebenso ruhig zu scheinen wie er.

Sie sprachen von dem Brief und dem, was er enthielt, in Wirklichkeit aber von sich selbst.

»Du mußtest nicht, aber ich danke dir, daß du ihn mir gegeben hast.«

»Ich erwarte keine andere Antwort.«

Sie stand auf und griff nach dem Papier.

Auch er erhob sich.

»Du weißt, daß ich keine andere geben kann. Wir haben ja schon darüber gesprochen, Klaus und ich. Ich muß meine Pflicht tun, Claudine.«

Da sie stehen blieb, sagte er leise:

»Aber du leidest darunter.«

Sie hob die Augen und blickte ihn an.

»Ich gelte als eine Überläuferin. Ich habe alle Türen verschlossen gefunden. Ich kann nicht mehr in meine Welt zurück und nicht in eure hinein. Ich habe keine Heimat mehr.«

Es war keine Klage, sondern kam ernst und gelassen über ihre Lippen.

»Du hast eine Heimat, Claudine,« entgegnete er leise mit bestimmtem Ton.

Aber so zart die Anspielung gewesen war – wie ein schreckendes edles Pferd warf sie plötzlich den Kopf zurück, und ihre Lippen begannen zu beben.

»Soll ich dorthin wie in ein Asyl flüchten? Nur weil ich müde bin, draußen auf der Gasse zu stehen! Niemals!«

273 Er kannte diesen stolzen, ungebrochenen Ton.

»Als Zuflucht biete ich es dir auch nicht, böte ich dir nie etwas, auch aus Mitleid nicht. Frei und aus Liebe müssen wir wieder zusammenkommen.«

»Wo uns alles trennt, wo du gegen meine Empfindungen und gegen meine Angehörigen feindlich handeln mußt, während ich nichts fühle, wenn du vor Begeisterung glühst! Wie damals, als du in eurem Kasino die Erinnerung an die Schlacht bei Sedan, wie jetzt, da du die Gründung des Reiches gefeiert hast! Sedan, das mir weh tut, das mich an alles erinnert, an Marc, an Papa! Und wenn ich vergessen könnte, daß wir unser einziges Kind haben hergeben müssen, weil wir dieses beide verloren haben, glaubst du, es gäbe etwas, das mich das andere vergessen machen könnte!«

Es war nicht mehr der leidenschaftliche, aus unergründlichen Tiefen irr und wild emporsteigende Haß, der aus ihr sprach. Sie war ruhiger, klarer, beinahe sachlich geworden.

Und Konrad nahm ihre Hand. Sie ließ es geschehen.

»Ja, Claudine, ich glaube, daß du das alles überwinden wirst, überwinden, nicht vergessen! Wenn unsere Ehe nicht älter wäre, als dieser Krieg, so hätte ich mehr Befürchtungen. Dann wäre es wohl besser, wir schieden uns voneinander. Der Deutsche, der heute eine Elsässerin heiratet – ja, ich weiß, du willst einwenden, daß das überhaupt ausgeschlossen sei und ich muß dir recht geben – aber setz einmal den Fall, eine solche Heirat käme zustande, sie wäre ganz gewiß keine glückliche. Aber wir zwei haben nicht das Recht, uns voneinander zu trennen. Du hast gesagt, ich handelte feindlich gegen deine Empfindungen. Das tu ich nicht. Es scheint dir nur so. Fluch diesem Krieg nicht, Frau, er hat uns erst empfinden, denken, reif werden lassen!«

»Und unglücklich,« rief sie laut.

»Unglücklich? Wer weiß – vielleicht – es kommt auf den Ausgang an. Ich hab dich vor ein paar Nächten 274 mit einem Kind auf dem Arm, mit vier Kindern in deinem Bett gesehen – nun lächelst du, Claudine, ja, auch ich habe in dieser Nacht lächeln können. Laß uns den Weg weiter gehen, ohne Eile, ohne Ungeduld – bald grüß ich dich nicht mehr mit dem Hut in der Hand, ich –«

Er brach ab, bückte sich, küßte die Hand, die den Brief hielt und in seinen Fingern ungebärdig zuckte, und trat zurück.

Da fuhr eine Flamme in ihr Antlitz.

Sie hatte die Werbung, die geduldige, hoffende Werbung aus seinen Worten herausgehört, und in die zwecklose, inhaltlose Leere und Einsamkeit ihres innern und ihres äußern Lebens klang dieser verhaltene Liebesruf wie eine gewaltig tönende Glocke. Nicht weil Konrad es sagte, sondern weil überhaupt eine Stimme hineinrief in dieses Grabesschweigen und der Widerhall plötzlich die Sehnsucht und das Verlangen nach dem tätigen Leben, nach Liebe, nach Mitschaffen und Mitempfinden in ihr erwachen ließ.

Und plötzlich packte sie unvermittelt, ihr selbst nicht verständlich, ein weibliches Verlangen, ihn auf die Probe zu stellen.

Sie hielt ihm den Brief noch einmal hin. Ein lockendes, zärtliches Lächeln erschien in ihren Zügen, um den leicht geöffneten Mund lag eine feine, sehnsüchtige Linie die von geheimnisvollen Nächten erzählt, und leise bat sie:

»Nimm dich ihrer an!«

Einen Augenblick sah er nichts, als diesen nie gesehenen Ausdruck in ihren Zügen, hörte nur den warmen, lockenden Ton ihrer Stimme, ohne auf den Sinn der Worte zu achten.

Und dringender fuhr sie fort:

»Du kannst Kiener ganz sicher helfen, wenn du willst.«

Da reckte sich das verdammte Pflichtgefühl in ihm empor, und eine heftige Ernüchterung weckte ihn aus dem heißen, sinnlichen Rausch. Mit der Ernüchterung kam der Zorn. Zorn über die ›Eva‹, die ihn lockte, Zorn 275 über sich selbst, der beinahe dem rasenden, so lange ungestillt gebliebenen Verlangen nachgegeben und sie in die Arme gerissen hätte, bereit, jeden Preis zu zahlen für ihre Hingabe!

Das Wort Pflicht, Amtspflicht, die Antwort: ›Du willst mich zur Pflichtvergessenheit verführen,‹ brannte auf seiner Zunge. Aber plötzlich war's, als hätte er dieses Wort Pflicht schon einmal gegen seine Frau geschleudert und wäre darüber selbst beinahe zu Fall gekommen.

Das wahre Bedürfnis, sie verstehen, ihre Empfindung nachfühlen zu wollen, das ihn seit dem Tode des Kindes ergriffen hatte, wurde wieder mächtig in ihm und verschloß ihm den Mund.

Sanft erfaßte er die Hand, die ihm den Brief hinhielt. Leise zog er seine Frau näher, und ihr ins Gesicht, in die Augen blickend, die von einer ihr selbst noch unbewußten Zärtlichkeit leuchteten, antwortete er ritterlich, nur ein klein bißchen steif:

»Das sagst du, um mich zu prüfen. Du weißt, daß ich nicht kann und nicht darf. Und weißt auch, wie leid mir das tut.«

Sie hatte die Augen niedergeschlagen und heftete sie auf das Papier in ihrer Hand.

Auf einmal ging ein Zittern durch ihren Leib. Aber dann machte sie sich langsam frei.

»Pardon,« sagte sie dabei leise, so daß es zweifelhaft war, ob sie für ihre Selbsthilfe oder für ihr Anliegen um Entschuldigung bat. Konrad trat einen Schritt zurück.

Noch einen befangenen Blick, und Claudine verließ das Zimmer.

Konrad von Eggheim wurde sich erst nach einer ganzen Weile bewußt, daß er in sehnsüchtigen Gedanken und Hoffnungen diesem Gespräch nachgesonnen hatte.

Der Gendarmeriewachtmeister, der zum Bericht kam, riß ihn in die Höhe. Eine wahre Arbeits- und Schaffensgier packte ihn, als er sich wieder ins Amt zurücktastete. Er wollte arbeiten, sein Bestes daran setzen, in diesem 276 Lande Heimat und Wurzel zu fassen, mit ihm zu fühlen und es mit dem großen Deutschland zu versöhnen und zu verschmelzen, das dieses Elsaß erobert, nein zurückerobert hatte. Und Geduld wollte er haben, verstehen und verzeihen lernen, alles verstehen und allen verzeihen, ohne sich selbst dabei zu verlieren! Das wollte er! Er liebte sie ja, er liebte ja seine Frau und wußte jetzt, daß erobern leichter ist, als wirklich besitzen.

Er wußte auch, wie schwer das war.

Über dem ganzen Lande lag dumpfer Druck. Die ersten Reichstagswahlen hatten stattgefunden, und die elsaß-lothringischen Abgeordneten hatten in Berlin feierlich gegen die Annexion protestiert.

Still und gedrückt lag Dornkirch im weißverschneiten Tal. Die letzten Okkupationstruppen waren nach Hause durchmarschiert. Wenn die Festung Belfort, die mit neuen Forts ausgerüstet wurde, Versuchsschießen hielt, war's wie Gewittergrollen, das sich weit ins elsässische Land hineinwälzte.

Claudine hatte vom Dornkircher Kasino gesprochen.

Sie nannten es Kasino. Es war ein Hinterstübchen im Gasthof zum Löwen. Der Wirt hatte sich erst dann bereit erklärt, die deutsche Gesellschaft aufzunehmen, als ihm die scharfe Fremdenkontrolle zu lästig geworden war.

»Ich bin gegen solche Mittel,« hatte Eggheim zum Amtsrichter gesagt, »aber erstens dürfen wir uns nicht en canaille behandeln lassen, und zweitens hatte die kaiserlich französische Verwaltung noch ganz andere Saiten aufgezogen.«

Wenn im ›Canon d'or‹ nebenan die ›Fanfare‹ Übungsstunde hielt und ihre gellenden Claironmärsche blies, in denen die ganze militärische Vergangenheit unter Frankreichs Fahnen lebendig wurde, verstand man im Hinterstübchen des ›Löwen‹ sein eigenes Wort nicht.

»Sie hoffen immer noch auf die roten Hosen,« sagte der Amtsrichter.

»Immer noch? Sie warten auf sie, werden noch zehn 277 Jahre warten, auch noch einmal zehn, dann nur noch hoffen und zuletzt die Vergangenheit mit ihrem Pomp und Glanz nur noch als verklärte Erinnerung pflegen, ohne Erwartungen, und endlich, endlich auch ohne Hoffnungen; aber wir müssen ihnen dafür Ersatz bieten.«

Eggheim hatte die Worte mit nachdenklichem Ernst gesprochen.

Als er eines Abends nach Hause ging, hallte der grollende Donner schweren Geschützes wieder durch das Tal. Der Westwind, der feucht und schneekündend gezogen kam, trug das murrende Echo ins Land. Konrad blieb auf dem Lindenwall stehen und horchte. Er stand dicht an dem steilen Hang, über ihm die Stadtmauer, unter ihm am Flusse die Dächer und Lichtpunkte der Vorstadt. Der Himmel war noch ziemlich klar, nur seltsames, streifenförmiges Florgewölk mitten unter den Sternen. Bleiche Schneefinsternis überspannte das Tal. Es war wie eine Nacht von 1870. Irgendwo in der Dordogne . . . eine Kompagnie allein im verschneiten Dorf, Franktireurs in den Wäldern, in der Luft dumpfe, ungewisse Ahnung von großen Feindesmassen, die sich hinter der Loire ballten und zusammenschoben. Und wie damals hob ihm die ruhige, klare und unerschütterliche Zuversicht die Brust: wir halten durch. Kein Überschwang, kein jauchzender Ruf nach Ruhm und blanker Ehre, sondern das sittliche Pflichtgefühl, alles zu geben für die Volksgemeinschaft, für das neue Reich, das dem alternden Europa frischgeboren aus dem Schoße gesprungen war.

In schweren Klumpen fiel der weiche Schnee aus den leeren Lindenkronen. Er blickte auf und sah im Turmzimmer der Präfektur ein einsames Licht stehen.

Konrad von Eggheim dachte an seine Frau. Auch ihr füllte der murrende Donner dieses Manövergeschützes, das von dem Wiedererwachen des großen Feindes im Westen Zeugnis gab, das vereinsamte Ohr mit Erinnerungen.

Sie war zu viel allein. Was er schon lange heimlich 278 empfunden und sich selbst immer weggeleugnet hatte und nicht hatte wahr haben wollen, das sagte ihm diese Nacht mit ihren seltsamen Stimmen.

Claudine war auf dem Wege zu ihm, aber sie zögerte, den Weg zu gehen, weil er glatt und eben zu liegen schien. Weil es kein Hindernis mehr zu überwinden gab.

Noch fehlte der geheimnisvolle Zwang, der plötzlich zu Entschlüssen und Taten treibt.

Als Konrad nach Hause kam, fand er seine Frau noch im Wohnzimmer.

Da machte er sich Vorwürfe, daß er sie allein gelassen hatte. Noch nie war sie ihm so einsam, so auf sich zurückgezogen erschienen.

Und plötzlich kam ein großes Bedürfnis über ihn, mit ihr zusammen zu sein, gestand er sich, daß er bei ihr seine Sammlung, seine Ruhe und die Kraft fand, dem Leben wieder ins Weiße des Auges zu sehen.

Sie war sitzen geblieben, nicht aufgestanden, um das Zusammensein zu vermeiden.

Noch einmal brannten sie drüben in Belfort eine Generalsalve ab wie jene, mit der die tapfere Festung am 16. Januar 1871 der an der Lisaine fechtenden Armee Bourbakis kundgetan hatte, daß sie noch stehe und auf Ersatz harre, dann wurde es still im Dornkircher Tal.

Da erzählte Konrad von Eggheim seiner Frau von der Begegnung mit Klaus Krafft vor Héricourt am Fuße des Mougnothügels und fügte bei, daß er sich nie habe entschließen können, genau nachzuforschen und zu fragen, ob jener Parlamentär wirklich Klaus Krafft von Illzach gewesen sei.

»Es gibt Dinge, die bleiben im Ungewissen größer und bedeutungsvoller, als im Lichte hellster Erkenntnis, auch wenn sie dann um kein Haar anders erscheinen,« schloß er leise.

Sie antwortete nicht, aber sie hatte die Stickerei, mit der sie die Zeit tötete, sinken lassen und saß mit vorgeneigtem Kopf und lauschte. Zum ersten Mal stiegen 279 Feldzugserinnerungen in ihm auf, wölkten im Rauch seiner Zigarre und bevölkerten ihr Zusammenleben.

Er erzählte:

»Vor Dijon war's. Damals als Garibaldi noch nicht im Feld stand. Wir hatten uns den ganzen Tag geschlagen. Nun ging's ins Biwak. Ich lag mit Major von Chelius und zwei andern Herren in einem Nest namens Marennes. Zwischen Wald und Weide, armselig, hatte es seine Höfe verstreut, wie Ziegen, die auf abgeschorenem Grasland kein Futter mehr finden. Der Schnee war uns den ganzen Tag wie mit Händen angeworfen worden. Wir starrten von einer eisigen Kruste. Gerade hatten wir ein wenig heißes Wasser auf dem Tisch stehen und den Cognac hineingegossen, da gibt s draußen ein fürchterliches Geschrei, eine Frauenstimme in allen Tönen heller Verzweiflung, und dazwischen die rauhen Laute unserer Wachmannschaft.

»Der Hauptmann, dem die Kompagnie gehörte, ging hinaus. Nun hörte man auch ihn wettern. Aber immer lauter und verzweifelter klang die Stimme der Frau.

»›Schauen Sie doch einmal nach, was los ist. Bumiller‹ – so hieß der Hauptmann von den Hundertzwölfern – ›versteht ja außer vinum bonum nicht viel französisch,‹ sagte Chelius zu mir.

»Ich wollte noch einen Schluck auf den Weg nehmen, da kam der Häuptling schon zurück, und hinter ihm drängte sich eine Bäuerin in die Stube, fuhr auf die Majorsraupen los und schrie ihr Leid in Chelius' Ohren. Die arme Frau war wie wahnsinnig. Endlich konnte ich ihr begreiflich machen, daß ihr nichts geschehen solle, sie möge nur sagen, was denn eigentlich vorgefallen sei Und da erzählte sie, daß die Soldaten ihr Kind mit der Wiege in den Schnee hinausgeworfen hätten, um es in ihrer Stube bequemer zu haben. Wie sie das erzählte, kannst du dir denken! Ich übersetzte dem Hauptmann das Nötigste. ›Das Weib ist verrückt, meine Kerle schmeißen keine Kinder in den Schnee, der Teufel soll jeden 280 holen, der Kind oder Weib malträtiert,‹ schrie Bumiller ergrimmt, und sogleich weinte die arme Frau noch stärker und packte mich am Arm, um mich mit hinauszuziehen und das Ärgste verhüten zu helfen. ›Gewiß haben sie meinen Mann schon auf die Bajonette gespießt! Sie sind schlimmer als die Türken! Ah, die Barbaren, die Barbaren!‹ Und was blieb mir anderes übrig, als umzuschnallen und mit Bumiller zu der einsamen Hütte hinauszutraben, wo die Frau daheim war? Es war schon dunkel geworden, aber so ein weißer Dämmerschein hing noch ins Tal hinein, und man konnte weit sehen. Als wir, von der jammernden Frau geführt, in die Nähe des Hauses kamen, sahen wir wahrhaftig eine hölzerne Wiege, weißt du, so eine buntbemalte mit hohen Seitengittern, umgedreht im Schnee liegen. Wie ein umgekehrter Schlitten sah das Möbel aus. Bumiller war auf einmal ganz still geworden und starrte finster auf das Ding hin.

»Die Frau rannte darauf los, wir machten lange Schritte und kamen gerade dazu, als sie das Gestell aufrichtete. Und dann sagte Bumiller ruhig: ›Da ist ja gar nichts drin, Madame Pisang, nun habens die Kerle am Ende gar gefressen!‹ Er ist ein Hegauer, man darf ihm die felsige Sprache nicht übel nehmen, Claudine. Also die Bettstatt war leer. Kein Kind, nicht einmal ein Kissen darin. Die Frau war schon in die Stube geschossen. Wir nach. Der Gefreite meldet die Belegschaft. Die Leute rappeln sich aus dem Stroh, das sie säuberlich in die Stube gestreut haben. Es gab in der armen Hütte überhaupt nur diese eine Stube. In einer Ecke war dazu noch der Herd, und in der anderen so eine Art Alkoven, ein Verschlag mit Kattunvorhängen.

»Der Bauer lebte noch. Er saß am Herd und hielt einen Napf mit Zichorienbrühe in den Händen. Weißt du, den Geruch werde ich überhaupt nicht los, wenn ich an jene Zeit denke.

»Und wie nun unser Hauptmann den Gefreiten nach 281 dem Kind fragt, führt uns der an den Bettschragen, schlägt die Vorhänge zurück, und da liegt tief in den unvernünftig aufgetürmten Federbetten ein kleines, rosiges Ding und schläft. Die Frau war verschwunden, sie war die Leiter hinauf in die Bodenkammer und schämte sich.

»Als die Leute ihr Quartier besehen hatten und so eng fanden, hatten sie das Kind aus der Wiege ins Ehebett gelegt, die Kissen dazu und das im Wege stehende Möbel in den Hof hinausgestellt. Das arme Weib sieht nur, daß sie nach dem Kind greifen, verliert den Kopf und rennt ins Dorf.

»Eine halbe Stunde später kamen wir glücklich zu unserem Grog.

»Aber selig lag das kleine Geschöpf mit seinem schwarzen Wuschelhaar in den geblumten Kissen. Der Gefreite hat es ordentlich verliebt angeguckt, es war ein Mädele, so wie unsere Phine, und konnte noch kaum laufen.« –

Es war still im Zimmer.

Auf einmal stand Claudine leise auf und ging hinaus.

Noch lange saß Konrad im Rauch seiner Zigarre, und als auch er spät in der Nacht zu Bett ging, hob er Claudinens Stickerei so sacht vom Boden auf und legte sie so sorglich und zart auf ihren Stuhl, als wär's das Kindlein von Marennes. 282

 


 


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