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Ihr Vater war General, die Mutter war ihr früh gestorben; seitdem verkehrten fast nur Herren bei ihnen und ihr Vater besorgte ihre Erziehung selbst.

Sie ritt mit ihm zu.

Da ihr Vater von allen, die in ihrem Hause verkehrten, den höchsten Rang einnahm, so wurde ihm von allen eine Ehrerbietung gezollt, wie sie unter Gleichstehenden nicht vorkommt, und ihr als der Generalstochter fiel ganz natürlicherweise auch ein Teil dieser Ehrenbezeugungen zu. Sie hatte sozusagen ebenfalls Generalsrang, und sie wusste das.

Im Entrée sass beständig eine Ordonnanz, die sich mit lautem Geräusch erhob, wenn sie durchging. Auf den Bällen bemühten sich die Majore um sie, ein Hauptmann gehörte in ihren Augen schon zu einem geringeren Menschenschlag, und die Leutnants zu einer Art ungezogener Jungen.

So gewöhnte sie sich daran, die Menschen nur nach der Rangliste zu beurteilen. Civilisten nannte sie verächtlich »Fische«, ärmlich gekleidete Personen »Lumpen«, und die ganz armen Leute hiessen bei ihr nur »das Pack«.

Aber über dieser Rangliste standen die Damen. Ihr Vater, der alle Mann unter sich hatte, dem Ehrenbezeugungen entgegengebracht wurden, wo er sich zeigte, unterliess es doch nie, vor einer Dame aufzustehen, gleichviel, ob sie jung oder alt war, seinen Bekannten die Hand zu küssen, oder irgend einer besonderen Schönheit Ritterdienste zu erweisen.

Durch alles das stieg ihre Meinung von der Überlegenheit des weiblichen Geschlechts, und sie betrachtete alle Männer als untergeordnete Wesen.

Wenn sie ausritt, war immer ein Reitknecht hinter ihr, der jedesmal stehen blieb, wenn es ihr beliebte, stillzuhalten. Er war wie ihr Schatten; wie er aber aussah, ob er jung oder alt war, davon hatte sie keine Ahnung. Wenn sie jemand gefragt hätte, welchen Geschlechts er war, so hätte sie es nicht sagen können, denn es kam ihr nie in den Sinn, dass der Schatten ein Geschlecht haben könne, und wenn sie im Sattel sass und mit ihrem kleinen Füsschen auf seine Hand trat, so war ihr das vollkommen gleichgiltig, ebenso wenn ihr Kleid manchmal etwas höher flog, als es sollte, es fiel ihr nie ein, auf seine Gegenwart zu achten.

Diese Vorstellungen vom Range der Menschen durchdrangen ihr ganzes Leben. Mit den Majors- oder Hauptmannstöchtern konnte sie nie ganz vertraut werden, denn die Väter derselben standen unter ihrem Vater.

Auf einem Ball hatte ein Sekondeleutnant gewagt, sie aufzufordern; um ihn für seine Vermessenheit zu bestrafen, sprach sie während des Tanzens kein Wort mit ihm, und war nachher untröstlich, als sie erfuhr, dass es einer der Prinzen gewesen war. Sie, die alle feinen Unterschiede, alle Abzeichen in jedem Regiment wusste, – sie hatte den Prinzen nicht erkannt! Das war ein harter Schlag!

Sie war schön, aber der Stolz gab ihrem Wesen eine Schroffheit, die jeden Anbeter abschrecken musste. Ans Heiraten hatte sie noch nie gedacht, denn die Jungen waren noch nichts rechtes, und die Alten, die einen Rang hatten, waren eben zu alt. Wenn sie einen Hauptmann geheiratet hätte, so hätte sie bei Tisch hinter allen Majorsfrauen zurückstehen müssen, – sie, die Generalstochter. Das wäre doch offenbare Degradierung gewesen. Sie hatte auch gar keine Lust, das Anhängsel oder den Salonausputz für einen Mann abzugeben. Sie war gewohnt, dass sie befahl, und dass man ihr gehorchte, sie konnte nicht gehorchen, und gegen alle weiblichen Beschäftigungen hatte sie durch das freie Leben unter Männern einen entschiedenen Widerwillen bekommen.

Das sexuelle Leben kam ihr spät zum Bewusstsein. Ihre wenigen weiblichen Bekannten fanden sie kalt und gleichgiltig gegen alles, was sich auf die Beziehungen der beiden Geschlechter zu einander bezog. Sie selbst äusserte auch unverhohlen ihre Missachtung gegen all dergleichen, sie fand es schmutzig und hässlich und konnte es nicht begreifen, wie ein weibliches Wesen sich aus freien Stücken einem Manne hingeben konnte. Für sie war die Natur unrein und Tugend bestand in tadelloser Wäsche, gestärkten weissen Unterröcken und ungestopften Strümpfen. Arm, schmutzig und lasterhaft erschien ihr gleichbedeutend.

Die Sommermonate verbrachte sie mit ihrem Vater regelmässig auf ihrem Landgute.

Sie liebte das Landleben nicht; der Wald war ihr unheimlich, die See flösste ihr Grauen ein, selbst das hohe Gras der Wiese konnte Gefahren bergen. Die Bauern waren in ihren Augen eine Art hinterlistiger, böser Tiere, und so schmutzig! Ausserdem hatten sie so viele Kinder, und das junge Volk war so unsittlich! Bei grossen festlichen Gelegenheiten, z. B. am Mitsommertage und am Geburtstag des Generals wurden sie auf den Herrenhof entboten, wo sie wie Statisten auf dem Theater »mitwirken«, hurra rufen und tanzen mussten.

*

Es war wieder einmal Frühling. Helene war allein, ohne Begleitung, auf ihrer Rassestute ausgeritten und ziemlich weit gekommen. Sie wurde müde und stieg ab, band das Pferd an eine Birke, die neben einem eingefriedigten Weideplatz stand, und ging ein Stückchen weiterhin, wo ein paar Orchideen am Grabenrande wuchsen. Die Luft war warm und das Gras und die Birken waren in feuchten Dunst gehüllt. Ab und zu hörte man einen Frosch in den Teich springen.

Plötzlich wieherte die Stute und Helene sah sie den schlanken Hals über die Einfriedigung strecken, und mit weitgeöffneten Nüstern die Luft einsaugen.

»Alice,« rief sie, »ruhig mein gutes Tier.«

Und sie fuhr fort, Blumen zum Strauss zu sammeln, diese zarten, bleichen Orchideen, die ihre Geheimnisse so sorgfältig hinter den dicksten, schönsten, wie aus bunt bedrucktem Stoff gemachten Gardinen verhüllten.

Aber da wieherte die Stute von neuem. Von dem Gebüsch her antwortete ein anderes Gewieher, der Wiesenboden dröhnte, kleine Steine rasselten unter gewaltigen Hufschlägen, und plötzlich trat ein schwarzer Hengst hervor. Sein Kopf war gross und stark, die gespannten Muskeln lagen wie Bündel unter der glänzenden Haut. Seine Augen funkelten, als er die Stute erblickte. Erst blieb er stehen und streckte den Hals vor, als ob er auf etwas lauschte, dann zog er die Oberlippe hoch und zeigte seine Zähne, und endlich begann er auf dem Grasplatz umherzugaloppieren, wobei er sich dem Zaune immer mehr näherte.

Helene raffte ihre Kleider zusammen und lief hin, um die Zügel zu fassen, aber die Stute hatte sich frei gemacht und setzte über den Zaun; nun begann die Werbung.

Helene stand draussen und lockte und rief, aber das wilde Tier hörte nicht, die wilde Jagd ging ihren Gang weiter und die Situation wurde verfänglich.

Helene wollte fliehen, denn die ganze Scene flösste ihr Entsetzen ein; sie hatte noch nie die Raserei der Naturmächte in lebenden Geschöpfen entfesselt gesehen, und sie fühlte sich durch diesen unverhüllten Ausbruch bis in ihr Innerstes empört.

Sie dachte daran, sich hinzuwagen und ihre Stute fortzuführen, aber sie fürchtete sich vor dem wütenden Hengst; sie wollte fortstürzen und Hilfe holen, – aber das hiess ja nur einen Zeugen der Situation schaffen. Nach Hause konnte sie nicht gehen, das war zu weit. Sie wandte dem Auftritt den Rücken und beschloss zu warten.

Da hörte sie Hufschläge auf der Landstrasse. Ein Wagen kam.

Helene konnte nicht mehr fliehen, und sie schämte sich, dazubleiben. Jetzt war es aber zu spät, der Wagen fuhr langsamer und blieb schliesslich ganz in ihrer Nähe stehen.

»Ja, aber es ist doch grandios!« sagte die eine Dame im Wagen und zog ihre goldene Lorgnette hervor, um das Schauspiel genauer zu betrachten, das jetzt in vollem Gange war.

»Aber weshalb, um Gottes willen, bleiben wir denn stehen!« schrie die andre Dame, »so fahren Sie doch zu!«

»Ist es denn aber nicht schön?« fragte die ältere Dame wieder, während der Kutscher in seinen grossen Bart schmunzelte und die Pferde wieder in Trab brachte, »Du bist wirklich prüde, liebe Amalie, für mich ist das derselbe Genuss, wie ein Gewitter zu beobachten, oder eine Sturzsee ...«

Mehr hörte Helene nicht, sie war ganz vernichtet von Ärger, Scham und Entsetzen.

Da kam ein Bauernbursche den Weg entlang. Helene eilte ihm entgegen, um ihn zu verhindern, etwas zu sehen, und zugleich um seine Hilfe zu erlangen; aber er war schon zu weit gekommen.

»Ja! Das wird wohl dem Müller sein Schwarzer sein,« sagte er mit nachdenklicher Miene. »Da ist es am besten, man wartet, bis es vorbei ist, denn mit dem ist nicht gut anbinden. Wenn das Fräulein nach Hause geben will, ich bringe das Pferd schon nach.«

Und froh, die Sache los zu sein, eilte Helene fort.

Als sie heimkam, war sie krank. Ihre Stute wollte sie nicht mehr vor Augen sehen, sie war unrein.

Dieses unbedeutende Ereignis übte einen stärkeren Einfluss auf Helenens Wesen aus, als man hätte glauben sollen. Dieser brutale Ausbruch eines Naturtriebes verfolgte sie wie der Gedanke an eine Hinrichtung: er beschäftigte sie bei Tag und Nacht bis in ihre Träume hinein, flösste ihr ein Entsetzen vor der Natur ein, und veranlasste sie, ihr Amazonenleben aufzugeben.

Sie blieb im Hause und begann zu lesen.

Es gab eine Bibliothek im Herrenhaus, aber leider hatte seit dem Vater des Generals niemand etwas für sie gethan. Die Bücher waren also durchgehends eine Generation zu alt für sie, und so bekam sie etwas verstaubte Ideale. Die »Corinna« der Frau v. Staël fiel ihr zuerst in die Hände. Es sah aus, als wäre es viel gelesen worden. Der Einband, grün und gold, Empirestil, war abgegriffen, die Ränder der Seiten voller Bleistiftstriche und Bemerkungen von der verstorbenen Mutter des Generals; da war die ganze Geschichte einer Seele aufgezeichnet. Unzufriedenheit mit der Prosa des Lebens, der Rauhheit der Natur, hatte ihre Phantasie erhitzt, und sie veranlasst, sich eine Traumwelt aufzubauen, in der die Seelen ohne Körper lebten. Diese Welt war aristokratisch, denn vor allem war oekonomische Unabhängigkeit notwendig, wenn man seine Gedanken ganz dem Seelischen schenken will; das war das Evangelium der Reichen, diese Hirnüberreizung, die man Romantik nennt, die zur Lächerlichkeit herabsinkt, wenn sie in die Unterklassen dringt.

Corinna wurde nun Helenens Ideal. Die Dichterin, die Eingebungen von oben bekam, die wie die Nonnen des Mittelalters ein Keuschheitsgelübde abgelegt hatte, um ihre erhabene Reinheit nicht zu verlieren, die von der grossen Menge angestaunt wurde als ein himmelhoch über sie erhabenes Wesen. Das war im Grunde nichts anderes, als das Generalsideal in eine andere Sphäre übertragen: Honneur machen, – erster Platz, – Präsentiert das Gewehr!

Sie fing nun an, sich ganz von der Aussenwelt zurückzuziehen und über ihr Ich nachzugrübeln. Die Randbemerkungen in dem Buch der verstorbenen Mutter begannen Früchte zu tragen. Sie identifizierte sich schliesslich mit Corinna und mit ihrer Mutter zugleich und brachte viel Zeit damit zu, über ihren Beruf nachzugrübeln. Dass sie dazu bestimmt war, für ihr Geschlecht zu leben, Wachstum und Gedeihen der Keime zu befördern, die die Natur in sie gelegt hatte, diese Gedanken wies sie von sich; nein, ihr Beruf war, der Menschheit ihre Gedanken, ihre Ideen zu offenbaren, die ans Licht drängten.

Sie begann zu schreiben, und versuchte sich sogar eines Tages mit Versen; sie glückten ihr, d. h. die Zeilen wurden gleich lang und die Enden reimten sich. Da ging es wie ein Licht vor ihr auf: sie war zur Dichterin geboren. Es fehlten ihr nur die Gedanken, – und die lieferte ihr Mad. de Staëls Buch fix und fertig. Und so entstanden eine Menge Gedichte. Aber nun sollte die Welt auch Teil daran haben, und das war nun einmal nur durch die Druckerpresse möglich. Eines Tages sandte sie eines ihrer Werke, das sie mit »Corinna« gezeichnet hatte, einer illustrierten Zeitung ein. Mit klopfendem Herzen trug sie es zur Post, und als sie es in den Kasten fallen liess, sandte sie ein stilles Stossgebet zum lieben Gott empor. Die darauffolgenden vierzehn Tage waren schrecklich, sie konnte weder essen noch trinken und vermied menschliche Gesellschaft. Am nächsten Sonntag, als die Nummer des Blattes kam, zitterte sie wie in einem Fieberanfall, und sank haltlos zusammen, als sie ihr Gedicht weder abgedruckt, noch auch im »Briefkasten« mit einem Worte erwähnt fand. Am nächsten Sonntag wanderte sie, sicher, diesmal doch wenigstens eine Antwort zu finden, mit der neuen Nummer des Blattes in den Wald hinaus. Weit draussen, in einem versteckten Winkel, zog sie das Blatt hervor, sah sich vorsichtig spähend nach allen Seiten um, und begann nun mit den Blicken hastig die Spalten zu überfliegen. Dort stand nur ein Gedicht, – es war nicht das ihre. Nun ging sie zum »Briefkasten« über, aber nach dem ersten Blick, den sie auf die kurzen kleinen Zeilen geworfen, ballte sie das Blatt zu einem Klumpen zusammen und warf es weit weg. Das war der erste Schimpf, der ihr zugefügt worden war. Ein ganz unbekannter, obskurer Zeitungsschreiber hatte ihr zu bieten gewagt, was noch nie jemand sich unterstanden hatte, – er hatte ihr eine Grobheit gesagt: »Die Corinna von 1807 hätte Essen gekocht und Kinder gewiegt, wenn sie nach 1870 gelebt hätte. Sie sind aber keine Corinna.«

Da stand ihr zum erstenmal »der Erbfeind«, der Mann, gegenüber. Essen kochen und Kinder wiegen! Gewiss, das war etwas für sie!

Helene ging nach Hause zurück. Sie fühlte sich am ganzen Körper wie zerschmettert. Aber als sie ein paar Schritte gethan hatte, kehrte sie plötzlich um. Wenn jemand die Zeitung fände! Da wäre sie ja verraten. Sie ging zurück, suchte sich ein Stöckchen, zog das Zeitungsblatt aus dem Gebüsch hervor und glättete es. Dann hob sie ein Stück Moos auf, verbarg das Blatt darunter und legte einen Stein darauf. Es war eine begrabene Hoffnung.

*

Im Herbst starb ihr Vater. Da er viel gespielt und meist Pech gehabt hatte, hinterliess er eine Menge Schulden. Aber da er General war, so machte das nichts. Helene brauchte sich nicht in einen Cigarrenladen zu stellen, sondern wurde von einer bisher unsichtbaren Tante aufgenommen.

Aber mit des Vaters Tode trat eine eingreifende Änderung in Helenens Leben ein. Alles Gewehrpräsentieren hörte von selbst auf. Die Regimentsoffiziere begannen ihr freundschaftlich zuzunicken, und auf den Bällen wagten es die jüngsten Leutnants, sie aufzufordern. Jetzt kam sie erst dahinter, dass all ihre Hoheit nicht in ihrem persönlichen Wert beruhte, sondern nur entlehnt war. Sie fühlte sich degradiert, empfand plötzlich lebhafte Sympathie für alle Subalternen, und spürte in ihrem Innern einen förmlichen Hass gegen alle, die den hohen Rang einnahmen, welchen sie früher gehabt hatte. Damit wuchs auch ihr Bedürfnis nach persönlicher Anerkennung, nach einem Rang, der sie über alle erhob, wenn er auch nicht in der Rangliste eingezeichnet stand.

Sie wollte sich auszeichnen, durchdringen und herrschen. Da wurde ihr ein Platz als Hofdame angeboten, und sie nahm ihn an. Nun gab es wieder Trommelwirbel und »Präsentiert das Gewehr!« und Helenens Sympathie für die Subalternen nahm merklich ab. Aber der Sinn ist unbeständig wie das Glück, und mit neuen Erfahrungen bildeten sich bei Helene neue Ansichten.

Sie entdeckte nämlich eines Tages, und zwar sehr bald, dass sie eigentlich nichts anderes war, als eine Dienerin.

Eines Tages sass sie mit der Herzogin zusammen, die an einer Häkelei arbeitete.

»Ich finde alle Blaustrümpfe dumm,« sagte die Herzogin plötzlich.

Helene wurde aschgrau im Gesicht und fixierte ihre Herrin.

»Das finde ich nicht,« sagte sie.

»Ich habe nicht zu wissen verlangt, was Sie finden,« sagte die Herzogin und liess ihre Häkelnadel fallen.

Helene zitterte an allen Gliedern und ihre ganze Zukunft zog in einem Nu an ihr vorüber, aber sie bückte sich nach der Häkel-Nadel. Es knackte in ihrem Korsett, und sie war dunkelrot, als sie sie der Herzogin überreichte, die ihr nicht dafür dankte.

»Sind Sie böse?« fragte die Herzogin und sah ihr Opfer mit impertinenter Miene an.

»Nein, königliche Hoheit,« brachte Helene über sich, zu entgegnen.

»Man hat mir gesagt, Sie wären ein Blaustrumpf,« fuhr die Herzogin fort, »ist das wahr?«

Helene antwortete nichts.

Wieder fiel die Häkelnadel herunter. Helene that, als sähe sie es nicht, und biss sich in die Lippen, um die Thränen, die der Zorn ihr in die Augen trieb, zu unterdrücken.

»Ach, heben Sie mir doch einmal meine Häkelnadel auf,« sagte die Herzogin.

Helene richtete sich auf, sah der Despotin gerade ins Gesicht und sagte:

»Nein, das will ich nicht.«

Damit ging sie fort; der Sand knirschte unter ihren Füssen und durch ihre Schleppe wurden kleine Staubwölkchen aufgewirbelt. Fast springend eilte sie die Treppe hinan und verschwand im Schlosse.

Damit war ihre Carrière bei Hofe abgeschlossen. Aber ein Stachel blieb zurück; Helene lernte kennen, was es hiess, in Ungnade gefallen zu sein, und noch deutlicher merkte sie, was es bedeutete, eine Stelle verloren zu haben. Die Gesellschaft liebt es nicht, dass die Menschen ihre Plätze wechseln, und man konnte es gar nicht fassen, wie sie freiwillig auf den Sonnenschein des Hoflebens verzichten konnte. Sie musste »entlassen« worden sein, – natürlich! Das war das rechte Wort: entlassen. Das war für sie die grösste Demütigung, die sie erfahren hatte. Sie fühlte sich als eine Deklassierte, als sie merkte, wie ihre Verwandten sich von ihr zurückzogen, als fürchteten sie, die hohe Ungnade könnte ansteckend sein und ihnen schaden. Sie merkte, wie ihre Freundinnen kühl gegen sie wurden und ihren Gruss auf ein Minimum reduzierten, aber auf der andern Seite wurde sie von allen Angehörigen der Mittelklasse, die sie jetzt zu sich herabsteigen sahen, mit rührender Vertraulichkeit aufgenommen. Anfangs war ihr das schrecklicher als die Kälte ihres eigenen Kreises, aber schliesslich sah sie ein, dass es entschieden besser war, die erste Rolle hier unten zu spielen, als dort oben die letzte, und so suchte sie Anschluss an einen Kreis von Civilbeamten und akademischen Lehrern, wo sie mit offnen Armen aufgenommen wurde. Huldigungen über Huldigungen wurden ihr entgegengebracht; hier war sie selbst General und hatte bald einen ganzen Stab junger Gelehrter zu befehligen. Sie rief Vorlesungen für Frauen ins Leben. Alter akademischer Trödelkram wurde hervorgeholt, abgestaubt und als etwas ganz Neues ausposaunt. Man las in einem abgeräumten Speisesaal über Plato und Aristoteles vor einem Publikum, dem natürlicherweise die Schlüssel zu diesem Heiligenschrein der Weisheit fehlten. Helene fühlte sich jetzt durch die Eroberung solcher Freimaurergeheimnisse hoch über die unwissende Aristokratie erhaben, und das gab ihrem Auftreten eine imponierende Sicherheit und Überlegenheit. Die Männer verehrten sie um ihrer Schönheit und Unnahbarkeit willen, aber sie empfand nie etwas wie Unruhe in ihrer Gegenwart; sie nahm ihre demütigen Huldigungen wie einen notwendigen Tribut hin, und empfand wenig Achtung für diese Bedienten, die jedesmal diensteifrig aufsprangen, wenn sie an ihnen vorbeikam.

Aber ihre Situation als unverheiratetes Mädchen war auf die Dauer unbefriedigend, und sie sah mit einigem Neid auf die Freiheiten, die die Frauen genossen. Sie durften allein auf der Strasse gehen, mit jedem Manne sprechen, den sie trafen, abends fortbleiben, so lange sie wollten, und sich von ihren Männern wie von Bedienten abholen lassen. Ausserdem besass eine Frau gewissermassen mehr Rang, mehr Macht, Wie herablassend behandelten alle Verheirateten die jungen Mädchen! – Aber beim Gedanken an die Heirat tauchte sofort das Erlebnis mit der Stute in ihr auf, und ein Entsetzen überfiel sie, das sie förmlich krank machte.

Um diese Zeit trat eine neue Erscheinung in Helenens neuem Umgangskreise auf: eine junge, sehr schöne Professorsfrau aus Upsala. Helenes Stern begann zu erbleichen und alle ihre geistigen Anbeter wurden ihr untreu und beteten den neuen Stern an. Helene hatte nicht mehr Generalsrang, auf den sie sich stützen konnte, wie früher, der Duft von Hof und Militär war verdunstet wie das Parfüm von einem Taschentuch, – sie fühlte sich hilflos geschlagen. Der einzige, der ihr noch treu war, war ein Dozent der Ethik, der sich früher nicht recht an sie herangewagt hatte. Jetzt war seine Zeit gekommen. Von jetzt an wurden seine Aufmerksamkeiten gnädig angenommen, auch flösste ihr seine strenge Ethik unbegrenztes Vertrauen ein.

Eines Abends sassen sie beide auf Schaukelstühlen in dem abgeräumten Speisesaal, wo der junge Dozent gegen freie Reise und einiges Händedrücken einen Vortrag gehalten hatte über das Thema: »Das ethische Moment in der ehelichen Liebe« oder »Die Ehe als Manifestation der absoluten Identität.«

»Sie halten also die Ehe für ein Coexistenzverhältnis zwischen zwei identischen Ichwesen?«

»Ich meine,« entgegnete er, »wie ich schon in meinem Vortrag die Ehre hatte, klarzulegen, dass das Dasein nur unter einem Relationsverhältnis zwischen zwei kongruenten Identitäten zu einem Bleibenden in höherer Potenz konfluieren kann.«

»Was ist ein Bleibendes?« fragte Helene und errötete.

»Das ist die Postexistenz zweier Vitalitäten in einem neuen Ich.«

»Wie? Sie meinen also, dass die Kontinuität des Ich sich notwendigerweise in einem konkreten Wesen verkörpern muss? ...«

»Nein, mein Fräulein, ich wollte nur sagen, dass, – um mich der profanen Sprache zu bedienen, die Ehe nur unter der Bedingung der Kompatibilität der Seelen durch Reciprocität ein neues geistiges Ich hervorbringen soll, welches nicht sexuell differenziert werden kann. Ich meine, dass das neue Wesen, welches in der Ehe hervorgebracht wird, ein Konglomerat von Mann und Frau sein soll, ein neues Wesen, in welchem beide ihre Persönlichkeit aufgeben, eine Einheit der Mannigfaltigkeit, kurz, um mich eines bekannten Ausdrucks zu bedienen, das Phänomen homme-femme. Der Mann soll aufhören Mann, das Weib, Weib zu sein.«

»Also Vereinigung der Seelen,« rief Helene aus, froh, an dieser schwierigen Klippe vorbei zu sein.

»Es ist die Harmonie der Seelen, von der Plato spricht. Es ist die wahre Ehe, wie ich sie stets geträumt habe, wie ich sie aber bei unserem heutigen Gesellschaftszustande leider – hm – nie zu realisieren hoffen darf.«

Helene sah zu dem Haken in der Mitte der Decke empor und flüsterte:

»Weshalb sollten Sie, – der zur geistigen Elite gehört, Ihren Traum nicht realisiert sehen?«

»Weshalb? Weil die, zu der meine Seele sich hingezogen fühlt, nicht, – hm, – nicht an die Liebe glaubt.«

»Das ist wohl nicht so ausgemacht, ob sie daran glaubt oder nicht.''

»Und selbst, wenn sie es thäte, so würde sie immer an der Aufrichtigkeit dieser Gefühle zweifeln. Im übrigen, – es giebt gewiss kein weibliches Wesen, das mich lieben könnte, – keins!«

»O doch,« sagte Helene und sah ihm in das Emailauge (er hatte nämlich ein Emailauge, das vorzüglich gemacht war).

»Sind Sie dessen gewiss?«

»Ja,« sagte Helene, »denn Sie sind nicht wie andre Männer; Sie verstehen, was Liebe der Seelen bedeutet, – Liebe der Seelen!«

»Und wenn sich dieses Mädchen fände, so würde ich doch nie eine Ehe mit ihr eingehen.«

»Weshalb nicht?«

»In demselben Zimmer wohnen! Nein!«

»Das ist nicht nötig! Mme. de Staël teilte mit ihrem Manne wohl die Wohnung, aber nicht dasselbe Zimmer.

»Wirklich?«

»In was für interessante Gespräche sind die Herrschaften vertieft?« fragte die Professorin, die soeben aus dem Salon trat.

»Wir sprachen vom Laokoon,« entgegnete Helene und stand auf, verletzt von dem überlegenen Ton der jungen Frau. Und damit war ihr Beschluss gefasst.

Acht Tage später wurde die Verlobung zwischen Helene und dem Professor der Ethik veröffentlicht, sie wollten im Herbst heiraten und sich in Upsala niederlassen.

*

Die Hochzeitsgäste waren gegangen, die Diener hatten die Tafel abgeräumt, das junge Paar war allein.

Helene war verhältnismässig ruhig, aber er war dafür nervös im höchsten Grade. Ihre Verlobungszeit war ihnen in ernsthaften Unterhaltungen vergangen, und nie hatten sie es getrieben wie andre Brautleute, nie hatten sie einander umarmt und geküsst. Bei jeder Annäherung hatten Helenens kalte Blicke ihn entwaffnet. Aber er liebte sie, wie eben ein Mann ein Weib liebt, mit Leib und Seele.

Sie gingen auf dem Teppich im Salon auf und nieder und suchten nach einem Gesprächsthema, aber das Schweigen stellte sich hartnäckig immer wieder ein. Die Lichter im Kronleuchter waren herabgebrannt, der Raum war noch von Essengeruch und Weindunst erfüllt und auf der Spiegelkonsole lag Helenens Bouquet und strömte seine Heliotrop- und Nelkendüfte aus.

Endlich blieb er vor ihr stehen, breitete seine Arme aus und sagte in gezwungen scherzendem Ton:

»So bist Du nun also mein Weib!«

»Was meinst Du damit?« fragte Helene hastig.

Er fühlte sich entwaffnet und liess die Arme sinken, aber er ermannte sich und sagte mit verkniffenem Lächeln:

»Nun, ich meine, wir sind jetzt Mann und Frau.«

Helene mass ihn mit; einem Blick, als hätte sie einen Betrunkenen vor sich.

»Erkläre Dich, bitte, etwas näher,« meinte sie.

Das war eben das, was er nicht konnte. Alle philosophischen und ethischen Landungsbrücken wurden hochgezogen und er stand vor der kalten, höchst ungemütlichen Wirklichkeit.

Sie ist verschämt, dachte er bei sich, das ist ihr gutes Recht, aber ich müsste nun wohl auch meine Rechte geltend machen.

»Hast Du mich missverstanden?« fragte Helene und ihre Stimme begann zu zittern.

»Nein, ganz gewiss nicht, – aber, – mein Herzchen, hm, – meine Liebe, – hm, wir hm ...«

»Was für einen Ton schlägst Du eigentlich an? Mein Herzchen? Wofür hältst Du mich eigentlich, und was sind Deine Absichten? – Oh Albert, Albert,« fuhr sie fort, ohne eine Antwort auf ihre vielen Fragen abzuwarten. »Sei gross, sei edel und lerne es, im Weibe etwas höheres zu sehen, als bloss das Weib! Thu' das, so wirst Du glücklich und gross werden.«

Albert war besiegt. Voller Zerknirschung und Scham fiel er vor ihr auf die Kniee und stammelte:

»Verzeih! Helene, Du bist edler als ich, reiner, besser, – Du musst mich zu Dir emporheben, wenn ich in den Staub sinke.«

»Steh auf, Albert, und sei stark,« sagte Helene mit prophetischem Tonfall, »gehe in Frieden, und zeige der Welt, dass die Liebe etwas andres ist, als die niedrige tierische Begierde. Gute Nacht!«

Albert erhob sich und sah zögernd seiner Frau nach, die in ihr Zimmer ging und die Thür hinter sich verschloss.

Von den reinsten Gefühlen und edelsten Absichten erfüllt ging nun auch Albert in sein Zimmer, warf den Rock ab und zündete sich eine Cigarre an.

Es war ein richtiges Junggesellenzimmer, das er sich eingerichtet hatte, mit einem Schlafsofa, Schreibtisch, Bücherregalen und einer Kommode.

Er entkleidete sich, wusch sich mit kaltem Wasser, streckte sich auf sein Sofa und ergriff das erste, beste Buch, um darin zu lesen. Bald aber liess er das Buch sinken und begann über seine Situation nachzudenken.

War er nun ein verheirateter Mann oder Garçon? Er war Junggeselle wie früher, nur mit dem Unterschiede, dass er einen weiblichen Pensionär im Hause hatte, der keine Pension zahlte. Das war kein verlockender Gedanke, aber es war die Wahrheit. Die Köchin sollte die Küche besorgen, das Stubenmädchen die Zimmer aufräumen, was würde Helene da zu thun haben? Sich entwickeln. Ach Gewäsch! dachte er, das ist ja der reine Nonsens, und er fand sich selber lächerlich. Plötzlich fiel es ihm ein, ob nicht vielleicht das alles die gewöhnliche weibliche Ziererei war! – Sie konnte nicht zu ihm kommen, er musste wohl zu ihr gehen ... Wenn er nicht kam, lachte sie ihn vielleicht am andern Morgen aus, oder noch schlimmer, fühlte sie sich vielleicht verletzt und gekränkt ... Ja, ja, die Frauenzimmer waren einmal unbegreiflich und der Versuch musste jedenfalls gemacht werden.

Er sprang auf, warf sich den Schlafrock um und ging in den Salon. Er lauschte, mit schlotternden Knieen, ob er vielleicht aus Helenens Zimmer einen Laut vernähme.

Nichts! Da fasste er Mut und näherte sich der Thür; vor seinen Augen tanzten blaue Lichter, als er anklopfte.

Keine Antwort. Er zitterte am ganzen Körper und der kalte Schweiss brach ihm aus.

Er klopfte noch einmal und brachte mühsam die Worte heraus:

»Ich bin es nur!«

Keine Antwort! Da begann er wieder, sich seiner selbst zu schämen und kehrte abgekühlt und ernüchtert in sein Zimmer zurück.

Es war ihr also Ernst!

Er legte sich wieder hin und nahm die Zeitung, aber er hatte noch nicht lange gelegen, als er Schritte auf der Strasse hörte, die allmählich in einen gelinden Trab übergingen und endlich verstummten. Dann hörte man ein paar vereinzelte musikalische Laute und endlich setzte ein Doppelquartett ein:

»Integer vitae scelerisque purus.« ...

Er war gerührt! Wie schön das war! Purus. Er fühlte sich über die Materie erhaben. Es lag gleichsam im Zeitgeiste, diese Forderung nach einer mehr idealen Auffassung der Ehe. Die junge Generation war von dem ethischen Strome erfasst worden, der durch die Zeit ging.

Nec venelatis ... Wenn nur Helene die Thür geöffnet hätte!

Er nickte sachte zum Takt und kam sich so gross vor, so edel, wie Helene ihn gewollt hatte.

Tusce pharetra. Ob er das Fenster öffnen, und der studierenden Jugend danken sollte? ...

Er erhob sich.

Ein vierfacher gellender Hahnenschrei schallte zum Fenster empor, gerade als Albert das Rouleau aufziehen wollte.

»Ja, so war es, – man lachte! Wütend drehte er sich um und stiess im Zimmer an den Schreibtisch, Er war lächerlich. Ein leises Gefühl des Hasses gegen die Urheberin dieser demütigenden Scene begann in ihm sich zu regen, aber seine Liebe sprach sie bald von allem frei, und seine Wut richtete sich gegen diese Narren, diese Schelme, die er vors Konsistorium bringen wollte, – jawohl! Aber er kam immer wieder auf sich selbst zurück und konnte es sich nicht verzeihen, dass er sich hatte an der Nase herumführen lassen.

Er ging im Zimmer auf und ab, und sank endlich auf sein Lager, wo er in bitterem Unmut über den Schluss dieses Tages einschlief. Das war ein feiner Hochzeitstag, – der der schönste im Leben sein sollte.

*

Am nächsten Morgen beim Kaffeetisch traf er Helene. Sie war kalt und vornehm wie gewöhnlich. Albert wollte natürlich die Serenade nicht erwähnen. Helene entwickelte grossartige Zukunftspläne besonders zur Aufhebung der Prostitution. Albert war entgegenkommend und versprach sein möglichstes zu thun. Die Menschen mussten zur Keuschheit gebracht werden. Unkeusch lebten nur die Tiere.

Darauf ging er ins Kolleg. Misstrauisch beobachtete er sein Auditorium, das ganz besondere Mienen aufzusetzen schien, misstrauisch nahm er die Glückwünsche seiner Kollegen entgegen, die ihm alle so eigentümlich vorkamen, dass er sich im Innersten verletzt fühlte.

Ein dicker, fetter, lebenslustiger Adjunkt stellte sich ihm in einem der Korridore mitten in den Weg, fasste ihn am Rockaufschlag und fragte mit einem kolossalen Grinsen auf seinem Gesicht:

»N–na«!?

»Unsinn!« war das einzige, was der Neuvermählte herausbringen konnte, indem er sich losriss und fortstürzte.

Bei seiner Heimkunft fand er sein Haus voller »Freundinnen.« Albert verwickelte seine Beine in Schleppen und verschwand schliesslich in einem Fauteuil, halb versteckt von Weiberröcken.

»Nun, und Sie haben gestern auch ein Ständchen gehabt?« fragte die schöne junge Professorin.

Albert erblasste, aber Helene antwortete ganz ruhig:

»Ach, es war ja nicht weit her damit! Vor allem hätten die Beteiligten wenigstens nüchtern sein sollen; die Trunksucht unter der studentischen Jugend hier ist wirklich entsetzlich!«

»Was haben sie denn gesungen?« fragte die Professorin weiter.

»Ach, das, was sie gewöhnlich singen: ›Das Leben gleicht den Meereswellen‹ und dergleichen,« sagte Helene.

Albert schaute erstaunt und bewundernd zu ihr hinüber. Der Tag verging mit allerlei Diskussionen, die Albert auf die Dauer ermüdeten. Sich nach des Tages Arbeit ein paar Stunden mit Frauenzimmern zu unterhalten, war angenehm genug, – aber das hier war etwas zu viel davon. Und dabei musste er noch beständig zu allem ja sagen, denn wenn er den Versuch machte, zu widersprechen, wurde er überstimmt.

So wurde es Abend und Zeit, zu Bett zu gehen: sie sagten sich Gute Nacht und jeder ging in sein Zimmer.

Wieder wurde er von Zweifel und Unruhe geplagt. Er glaubte, einen zärtlichen Blick in Helenens Augen entdeckt zu haben, und er war nicht ganz sicher, ob sie ihm nicht die Hand leise gedrückt hatte. Er zündete seine Cigarre an und nahm die Zeitung vor, warf sie aber bald wieder fort und sprang auf. Er zog seinen Schlafrock an und schlich in den Salon.

Er hörte, dass sich in Helenens Zimmer noch etwas rührte.

Da klopfte er an.

»Sind Sie es, Louise,« rief es von innen.

»Nein, ich bin es nur,« flüsterte er halblaut und fast atemlos.

»Was ist geschehen? Was willst Du?«

»Ich muss noch einmal mit Dir sprechen, Helene,« entgegnete er, fast sinnlos vor Erregung.

Der Schlüssel wurde im Schlosse umgedreht, – Albert traute seinen Ohren kaum, – und die Thür ging auf.

Da stand Helene, noch völlig angekleidet.

»Was willst Du?« fragte sie. Aber in demselben Augenblick sah sie, dass er nicht angekleidet war, und dass seine Augen so eigentümlich glänzten.

Mit ausgestreckten Armen stiess sie ihn zurück und warf die Thür zu.

Er hörte etwas wie einen zur Erde niederfallenden Körper und darauf heftiges Weinen.

Verzweifelt und beschämt kam er in sein Zimmer zurück. Es war also voller Ernst. Aber das war sicher etwas Abnormes.

Eine durchwachte Nacht mit allerlei Grübeleien erfüllt, war das Resultat und am nächsten Morgen musste er seinen Frühstückskaffee einsam trinken.

Als er mittags nach Hause kam, ging ihm Helene mit resigniertem, schmerzlichem Gesichtsausdruck entgegen.

»Warum hast Du mir das angethan?« fragte sie.

Er bat um Verzeihung, aber ganz kurz.

Seine Gesichtsfarbe wurde ganz grau, seine Augen sahen erloschen aus; seine Stimmung war ungleich, und er verbarg stets eine dumpfe Wut unter einem kühlen Äusseren.

Helene fand ihn verändert und despotisch, weil er ihr zu widersprechen und die von ihr veranstalteten Zusammenkünfte zu vermeiden begann, um sich Verkehr ausser dem Hause zu suchen.

Eines schönen Tages wurde ihm der Vorschlag gemacht, sich um eine Professur zu bewerben. Da er seine Mitbewerber sich für überlegen hielt, wollte er keinen Versuch machen, aber Helene bestürmte ihn so lange, bis er ihren Bitten nachgab Er wurde ernannt; weshalb, wusste er nicht, aber Helene wusste es.

Zur selben Zeit war Reichstagswahl. Der neue Professor, der nie daran gedacht hatte, am politischen Leben teilzunehmen, war fast erschrocken, als er seinen Namen auf der Liste der Kandidaten sah, und noch erschrockener, als er wirklich gewählt wurde. Er dachte daran, abzulehnen, aber Helenens Vorstellungen, wie gut es sein würde, die Kleinstadtverhältnisse mit dem Leben in der Hauptstadt zu vertauschen, bestimmten ihn dazu, das Mandat anzunehmen.

Und so reisten sie nach Stockholm.

*

Indessen war der neue Reichstagsabgeordnete und Professor während seines halbjährigen Ehelebens, das eigentlich ein Junggesellenleben war, mit den neuen Ideen in Berührung gekommen, die darauf ausgingen, die ganze alte Gesellschafts- und Morallehre umzustürzen und fühlte den Zeitpunkt nahe, wo es zwischen ihm und seiner »Pensionärin« zum Bruche kommen musste. In Stockholm mit seinen modernen Strömungen begann er förmlich zu einem neuen Dasein aufzuleben. Die Liebe zu seiner Frau hatte sich abgekühlt, er suchte seine Freuden ausser dem Hause, ohne dabei das Gefühl zu haben, dass er damit eine Untreue an seiner Frau beging, da ja in einem Verhältnis, das gar nicht existiert, auch nicht von Treue die Rede sein konnte.

In der Berührung mit dem andern Geschlecht wurde ihm auch erst so recht sein Erniedrigungszustand klar.

Helene sah, wie er ihr immer fremder wurde, ihr Zusammenleben wurde unerquicklich und eine Katastrophe schien unausbleiblich.

Der Tag der Reichstagseröffnung kam heran. Helene sah unruhig aus und schien ihr Wesen dem Manne gegenüber geändert zu haben. Ihre Stimme bekam einen weicheren Klang, und sie schien sich Mühe zu geben, ihrem Manne alles recht zu machen; sie fing an, die Dienstboten zu beaufsichtigen, und danach zu sehen, dass alles in Ordnung war und die Mahlzeiten zur rechten Zeit auf dem Tische standen.

Er beobachtete sie mit Misstrauen und machte sich auf irgend etwas Ungewöhnliches gefasst.

Eines Morgens beim Kaffeetisch sah Helene verlegen aus, was sonst nicht ihre Gewohnheit war; sie zupfte an der Serviette, und hüstelte ab und zu. Schliesslich fasste sie Mut und brachte ihr Anliegen vor.

»Albert,« begann sie, »Du wirst doch gewiss mir und der Sache, der ich diene, einen Dienst leisten, nicht wahr?«

»Was ist das für eine Sache?« fragte er kurz und trocken, denn nun, wusste er, begann der Überfall.

»Du wirst doch etwas für die unterdrückten Frauen thun, nicht wahr?«

»Wer sind die unterdrückten Frauen?«

»Was? Du hast unsere Sache, unsere grosse Sache verraten?«

»Was ist das für eine Sache?«

»Die Sache der Frauen!«

»Ich kenne keine solche!«

»Du kennst keine solche? O! Du! Ist denn nicht das Weib aus dem Volke im Zustande der schmählichsten Unterdrückung?«

»Nein, ich sehe nicht ein, dass die Frau mehr unterdrückt ist, als der Mann aus dem Volk. Befreie ihn von seinen Ausbeutern und sein Weib wird auch befreit sein.«

,,Aber die Unglücklichen, die sich verkaufen müssen – – – und die schlechten Männer«– –

»Die so schlecht sind, zu bezahlen, nicht wahr? Hast Du gesehen, dass irgend jemand für etwas bezahlt, das alle beide Teile gemessen?«

»Darum handelt es sich nicht, es handelt sich nur darum, dass das Gesetz ungerecht verfährt, wenn es den einen Teil bestraft und den andern nicht.«

»Das ist keine Ungerechtigkeit. Der eine Teil hat sich dadurch, dass er sich verkauft, aufs äusserste erniedrigt, und sich zu einer Quelle der scheusslichsten Ansteckung gemacht. Der Staat behandelt sie daher wie einen tollen Hund. Wenn Du einen Mann findest, der sich ebenso tief erniedrigt, – gut, – dann stelle ihn auch unter Polizeiaufsicht! Ach, Ihr reinen Engel Ihr, die Ihr den Mann verachtet, wie ein unreines Tier! Was willst Du eigentlich von mir? Was soll ich thun?«

Jetzt erst sah er, dass sie ein Manuskript in der Hand hatte, – er nahm es ihr ab und begann zu lesen.

»Eine Vorlage für den Reichstag? Ich soll also der Strohmann sein, und dieses Zeug befürworten? Ist das etwa moralisch? Kannst Du das mit Deinem Gewissen verantworten?«

Helene stand auf, brach in Thränen aus und warf sich auf das Sofa.

Er näherte sich ihr, ergriff ihre Hand und fühlte den Puls, ob sie etwa fieberte. Sie griff krampfhaft nach seiner Hand und drückte sie an ihre Brust.

»Verlass' mich nicht,« schluchzte sie, »bleib bei mir und lass' mich an Dich glauben.«

Es war das erste Mal, dass sie ihren Gefühlen freien Lauf liess. Dieser schöne Körper, den er bewundert und geliebt hatte, konnte also Leben bekommen! Es rollte also warmes Blut in diesen Adern, diese schönen Augen konnten also Thränen vergiessen! Er streichelte ihre Stirn

»Ach,« sagte sie, »wie gut das thut, wenn Du mich so streichelst! O Albert, so sollte es immer sein!«

»Ja, – und weshalb ist es denn nicht so, – weshalb?«

Helene schlug die Augen nieder und wiederholte nur leise: »weshalb.«

Ihre Hand lag zögernd in der seinen, und er fühlte, wie eine schöne Wärme von ihr ausging und wie alles wieder aufwachte, was er je für sie gefühlt hatte, – diesmal aber war er voller Hoffnung.

Endlich erhob er sich.

»Verachte mich nicht,« sagte sie, »hörst Du, verachte mich nicht!«

Und sie ging in ihr Zimmer.

Was war das? fragte Albert sich selbst beim Ausgehen. Machte sie eine Krisis durch? Begann erst jetzt ihr Leben als Weib?

Er war den ganzen Tag vom Hause fort. Als er heimkam, sah er in Helenens Zimmer Licht. So leise er konnte, ging er daran vorbei, – drinnen hörte er ein leises Husten. Dann ging er in sein Zimmer, nahm die Zeitung und eine Cigarre und begann zu lesen. Plötzlich hörte er die Thür zu Helenens Zimmer gehen und gleich darauf leise Schritte im Salon. Er sprang auf, um nachzusehen, was passiert sei; sein erster Gedanke war: Feuer.

Im Salon stand Helene im Nachtkleide. Als sie ihren Mann erblickte, stiess sie einen kleinen Schrei aus und stürzte in ihr Zimmer zurück, wo sie mit vorgestrecktem Kopf stehen blieb.

»Verzeih, Albert! Warst Du es? Ich wusste gar nicht, dass Du schon zu Hause bist, und dachte, es wären Diebe.«

Und dann schloss sie ihre Thür wieder zu.

Was bedeutete das? Erwachte die Liebe in ihr? Er blieb vor dem Spiegel stehen. Konnte ein Weib ihn lieben? Er war ja hässlich. Aber wenn die Seelen einander lieben, – – und es gab ja soviele hässliche Männer, die schöne Frauen hatten. Aber dann waren diese Männer wohl meistens reich oder in angesehener Stellung.

Sollte Helene das Falsche in ihrer Lage eingesehen haben? Oder hatte sie gemerkt, dass er ihr immer fremder wurde und wollte sie ihn wiederhaben? Er wusste nicht, was er denken sollte.

Am nächsten Morgen, als sie sich am Kaffeetisch trafen, war Helene in weicher Stimmung. Der Professor bemerkte, dass sie einen neuen, spitzenbesetzten Morgenrock anhatte, der ihre Schönheit erst ins rechte Licht stellte.

Als er nach der Zuckerdose griff, berührten sich wie durch Zufall ihre Hände.

»Verzeih, Liebster,« sagte sie mit einer Miene die er noch nie bei ihr gesehen hatte, und die an den Ausdruck ganz junger Mädchen erinnerte.

Sie sprachen über gleichgiltige Dinge.

Am Vormittage fand die Eröffnung des Reichstages statt.

Helene blieb dauernd nachgiebig und liebenswürdig, und war von Tag zu Tag gefühlvoller.

Eines Abends kam der Professor in ungewöhnlich heiterer Stimmung aus einem Klub zurück. Wie gewöhnlich ging er in sein Zimmer und legte sich mit Cigarre und Zeitung zu Bett. Nach einer Weile hörte er wieder Helenens Thür gehen, – dann war alles still, – und plötzlich klopfte es an seine Thür.

»Wer ist da?« fragte er.

»Ich bin's, Albert; zieh' Dich an und komm' heraus, ich muss mit Dir sprechen.«

Er kleidete sich an und ging in den Salon. Helene hatte eine Wandlampe angezündet und sass im Spitzenpeignoir auf dem Sofa.

»Verzeih' mir,« sagte sie, »aber ich konnte nicht schlafen, mir ist so wunderlich im Kopf. Setze Dich etwas her und sprich zu mir.«

»Du bist nervös, mein Kind,« sagte Albert und ergriff ihre Hand. »Du solltest ein Glas Wein trinken.«

Er ging ins Speisezimmer und holte eine kleine Weinkaraffe mit ein paar Gläsern.

»Dein Wohl, Helene,« sagte er.

Helene trank und ihre Wangen bekamen Farbe.

»Nun, was fehlt Dir denn?« fragte er und legte den Arm um ihre Schulter. »Bist Du krank?«

»Nein, ich bin nicht glücklich.«

Ihre Worte klangen trocken und gesucht, aber er achtete nicht darauf, seine Leidenschaft war geweckt.

»Weisst Du, weshalb Du unglücklich bist?« fragte er.

»Nein, ich bin mir selbst nicht recht klar. Aber eines weiss ich jetzt: ich liebe Dich.«

Albert nahm sie in seine Arme, presste sie an sich und küsste ihr Gesicht.

»Bist Du mein Weib oder bist Du es nicht?« flüsterte er.

»Ja, ich bin es,« hauchte Helene, deren Körper zusammensank, als wären alle ihre Nerven gesprungen.

»Ganz und gar?« flüsterte er wieder, indem er sie mit seinen Küssen fast lähmte.

»Ganz und gar,« antwortete sie ebenso, und ihr Körper schwankte wie in unbewussten Konvulsionen hin und her, als wäre sie im Traum und suchte sich gegen irgend eine Gefahr zu wehren.

*

Als Albert am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich frisch und ausgeschlafen und bei hellem, klarem Bewusstsein. Seine Gedanken waren bestimmt und energisch, wie nach einem guten, langen Schlaf. Das Erlebnis des gestrigen Abends stand klar vor seiner Seele. Der wahre Sachverhalt trat hervor mit all seiner Nüchternheit und unentrinnbaren Bestimmtheit.

Sie hatte sich verkauft.

Um drei Uhr morgens hatte er ihr versprochen, – berauscht, blind, wahnsinnig wie er war, – dass er ihre Sache im Reichstag vertreten wollte.

Und der Preis! Ruhig, kalt, unbeweglich hatte sie sich ihm hingegeben.

Welches mag das erste Weib gewesen sein, das entdeckte, dass man seine Gunst verschachern kann? Und wer mag darauf gekommen sein, dass der Mann kaufen will? Das waren die Stifter der Ehe und der Prostitution. Und dann wurde behauptet, Gott hätte die Ehe eingesetzt.

Er sah sie so deutlich, seine und ihre Erniedrigung. Sie wollte gegenüber ihren Freundinnen den Triumph haben, die erste zu sein, die in die Gesetzgebung eingriff, und das hatte sie sich erkauft. Aber er wollte ihr den Schleier abreissen. Er wollte ihr zeigen, wer sie war. Er wollte ihr sagen, dass die Prostitution nie abgeschafft werden könnte, so lange das Weib einen Vorteil davon hat, sich zu verkaufen.

Und mit diesem Beschlusse zog er sich an.

Als er in das Esszimmer kam, musste er eine Weile warten, er hatte Zeit, sich zu ermannen und Mut zu fassen zu der geplanten Unterredung.

Und da kam sie! Ruhig, lächelnd, triumphierend, aber schöner als je zuvor.

Ein dunkles Feuer brannte in ihren Augen, und er, der erwartet hatte, sie mit niedergeschlagenen Blicken, errötend wie eine Neuvermählte zu finden, war vernichtet. Sie war es, die den siegenden Verführer spielte und er war die scheue Verführte.

Kein Wort von dem, was er sich vorgenommen, kam über seine Lippen. Besiegt stand er auf, ging ihr demütig entgegen und küsste ihre Hand.

Sie unterhielt sich mit ihm wie sonst, ohne die geringste Andeutung, dass ein neues Moment in ihr Leben getreten war.

Als er sich dann mit ihrem Manuskript unterm Arm in das Reichstagsgebäude begab, wütete er innerlich gegen sich, aber der Gedanke an zukünftige Seligkeiten beruhigte ihn wieder.

Abends, als er an Helenens Thür klopfte, war sie verschlossen, den nächsten Abend ebenso, und dabei blieb es drei Wochen. Wie ein Hund kroch er ihr nach, gehorchte ihrem leisesten Wink, that alles, was sie wünschte – vergebens.

Da endlich machte sich sein Zorn Luft und er sagte ihr alles. Sie antwortete ihm mit scharfen Worten, als sie aber sah, dass sie zu weit gegangen war, und dass er seine Kette zu zerreissen drohte, ergab sie sich!

Und so trug er seine Kette. Er biss in sie hinein, er riss an ihr herum, – aber sie hielt fest.

Sie hatte es sehr bald herausbekommen, wie stramm sie anziehen durfte, und jedesmal, wenn es zu viel zu werden drohte, gab sie nach.

Er hatte keinen grösseren Wunsch, als sie als Mutter zu sehen. Das würde sie vielleicht zum Weibe machen, dachte er, das. würde die gesunde Natur hervorlocken. Aber sie wurde nicht Mutter.

Hatte der Ehrgeiz oder das Feuer der Selbstsucht die Lebensquelle in ihr verzehrt?

Eines Tages teilte sie ihm mit, dass sie auf einige Tage zu Verwandten verreisen würde.

Als Albert am Abend nach ihrer Abreise heimkam, und das leere Haus fand, überfiel ihn ein Gefühl grenzenloser Öde und Sehnsucht.. Jetzt wurde ihm erst klar, wie sein ganzes Wesen von Liebe zu ihr durchdrungen war. Die Wohnung kam ihm so trostlos leer vor, wie nach einem Begräbnis.

Der leere Platz ihm gegenüber am Tische quälte ihn, und er ass fast nichts. Nach dem Abendbrot setzte er sich im Salon auf Helenens gewohnten Platz, und nahm ihre angefangene Näharbeit in die Hand: ein Kinderjäckchen für irgend ein fremdes Neugeborenes in einer neugegründeten Krippe. Da steckte noch die Nadel. Er stach sich in den Finger, als wollte er sich die Wohlthat eines körperlichen Schmerzes verschaffen.

Dann zündete er ein Licht an und ging in ihr Schlafzimmer. Er schauerte beim Eintreten zusammen, als ertappe er sich bei etwas Unrechtem. Aber das Zimmer war gar nicht wie das einer Frau. Ein einschläfriges Bett ohne Vorhänge, – ein Schrank, ein Bücherregal, ein Nachttischchen und ein Sofa, – ganz wie drüben bei ihm. Kein Toilettetisch, nur ein kleiner Wandspiegel. Dort hingen ein paar Kleidungsstücke von ihr. Der starke Wollenstoff gab noch die Formen ihres Körpers wieder. Er strich leise darüber hin, presste sein Gesicht an die Halskrause und versuchte den Arm um die Taille zu schlingen, die aber schlaff zusammenfiel.

Dann näherte er sich dem Bette, als hoffte er, eine Erscheinung zu sehen, und berührte, betastete jeden Gegenstand.

Schliesslich begann er, wie in unbewusstem Suchen nach der Lösung eines Rätsels, an den Schubladen eines Schränkchens zu ziehen: sie waren alle verschlossen. Da zog er auf gut Glück den Nachttischschub auf und sein erster Blick fiel auf den Titel einer Broschüre – –

Das war es also! Fakultative Sterilität! Das, was für die, aller Existenzmittel beraubten Unterklassen eine Rettung aus Elend und Not sein sollte, das war hier zum Werkzeug des krassesten Idealismus geworden. Er that einen tiefen Blick in die Korruption und moralische Fäulnis der oberen Klassen, die das Kinderzeugen und Gebären ausserhalb der Ehe für unmoralisch und in der Ehe für erniedrigend halten!

Aber er wollte Kinder haben! Er hatte die Existenzmittel und sah eine Pflicht und gleichzeitig einen berechtigten Genuss darin, sein eigenes Wesen in ein anderes Dasein übergehen zu sehen. Das war der natürliche Weg des wahren, gesunden Egoismus zum Altruismus. Aber sie ging andere Wege, – sie strickte Jäckchen für fremde Kinder. Und das Motiv? Furcht vor den Unbequemlichkeiten der Mutterschaft. War es nicht viel billiger und bequemer, in der Sofaecke sitzen und Jäckchen stricken, als das mühsame, opfervolle Kinderstubenleben?

Es war eine Schande, Mutter zu sein, ein Geschlecht zu haben, beständig daran erinnert zu werden, dass man »Weibchen« ist.

Darin lag es. Was sie Arbeit für die Menschheit, für den Himmel, für höhere Interessen nannte, war im Grunde nichts als Befriedigung der Eitelkeit, des Ehrgeizes.

Und er hatte sie beklagt, hatte sich in Acht genommen, sie irgend welchen Unwillen über ihre Unfruchtbarkeit merken zu lassen. Ach er fühlte es, er hasste ihre Seele, – denn er hasste ihre Gedanken! Und doch liebte er sie? Was liebte er denn da an ihr?

»Wahrscheinlich,« sagte er zu sich selbst, und verfiel unwillkürlich wieder ins Philosophieren, »wahrscheinlich den Keim zu einem neuen Wesen, den sie in sich trägt, und den sie unterdrücken will.«

Was konnte es sonst sein?

Aber was liebte sie an ihm? Seine Titel, seine Stellung, seine Macht.

Und mit solchen alten Menschen soll man am Aufbau einer neuen Gesellschaft arbeiten?

Er nahm sich vor, ihr alles das bei ihrer Rückkehr zu sagen, und doch wusste er ganz genau; dass er das nie fertig bringen würde. Er wusste, wie er ihr nachkriechen und um ihre Gunst betteln, wie er ihr Sklave sein und ihr Mal für Mal seine Seele verkaufen würde, ebenso wie sie ihren Körper verkaufte. Er wusste, dass es so kommen musste, weil er sie liebte!

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