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Die Wiedergeburt

Für uns ist die leblose Natur die Seite des Daseins, die wir nur von außen sehen. Wir wissen nur, wie sie uns erscheint, aber wir wissen nicht, was sie in Wahrheit ist. Dies können wir nur durch die Liebe erfassen.

Aber da hebt sich der Vorhang, das Leben erscheint auf der Bühne, das Drama beginnt und wir verstehen seinen Sinn an den Gebärden und der Sprache, die den unsern gleich sind. Wir erkennen das Leben, nicht an seinen äußeren Zügen, nicht durch Zerlegung in seine einzelnen Teile, sondern durch die unmittelbare Wahrnehmung, die auf innerer Verwandtschaft beruht. Und dies ist wirkliche Erkenntnis.

Wir sehen einen Baum. Er ist durch die Tatsache seines individuellen Lebens von seiner Umgebung abgesondert. Sein ganzes Streben geht dahin, diese Besonderheit seiner schöpferischen Individualität gegenüber dem ganzen Weltall aufrecht zu erhalten. Sein Leben gründet sich auf einen Dualismus – auf der einen Seite diese Individualität des Baumes, und auf der andern das Weltall.

Aber wenn dieser Dualismus in sich Feindschaft und gegenseitige Ausschließung bedeutete, so gäbe es für den Baum keine Möglichkeit, sein Dasein zu behaupten; er würde von der vereinten Gewalt dieser ungeheuren Kräfte in Stücke gerissen werden. Jedoch dieser Dualismus bedeutet Verwandtschaft. Je vollkommener die Harmonie des Baumes mit der Außenwelt, mit Sonne, Erdboden und Jahreszeiten ist, je vollkommener entwickelt sich seine Individualität. Es wird verhängnisvoll für ihn, wenn diese gegenseitige Beziehung gestört wird. Daher muß das Leben an seinem negativen Pol die Abgesondertheit von allem andern aufrecht halten, während es an seinem positiven Pol die Einheit mit dem Weltall wahrt. In dieser Einheit liegt seine Erfüllung.

Im Leben eines Tieres ist auf der negativen Seite das Element der Abgesondertheit noch entschiedener, und deswegen ist auf der positiven Seite die Beziehung zur Welt viel weiter ausgedehnt. Das Tier ist von seiner Nahrung viel mehr abgetrennt als der Baum. Es muß sie suchen und kennenlernen, getrieben von Lust und Schmerz. Daher steht sie in engerer Beziehung zu seiner Erkenntnis- und Gefühlswelt. Dasselbe gilt in bezug auf die Trennung der Geschlechter. Diese Trennung und das daraus folgende Streben nach Vereinigung bewirken ein gesteigertes Lebensgefühl und Ichbewußtsein bei den Tieren und bereichern ihre Persönlichkeit durch die Begegnung mit unvorhergesehenen Hindernissen und unerwarteten Möglichkeiten. Bei den Bäumen wird die Trennung von ihrer Nachkommenschaft jedesmal zu einer endgültigen, während bei den Tieren die Beziehung bestehen bleibt. So gewinnt das Lebensinteresse der Tiere durch diese Trennungen noch an Weite und Intensität und ihr Bewußtsein umfaßt ein viel größeres Gebiet. Dies weitere Reich ihrer Individualität müssen sie beständig durch die mannigfachen Beziehungen zu ihrer Welt behaupten. Jede Hemmung dieser Beziehungen ist verhängnisvoll.

Beim Menschen ist dieser Dualismus des physischen Lebens noch mannigfaltiger. Seine Bedürfnisse sind nicht nur größer an Zahl und erfordern daher ein weiteres Feld für ihre Befriedigung, sondern sie sind auch komplizierter und verlangen eine tiefere Kenntnis der Dinge. Dies gibt ihm ein stärkeres Bewußtsein seiner selbst. Sein Geist tritt an Stelle der Triebe und Instinkte, die die Bewegungen und Tätigkeiten der Bäume und Tiere leiten. Dieser Geist hat auch seine negative und positive Seite der Absonderung und der Einheit. Denn einerseits trennt er die Gegenstände seiner Erkenntnis von dem Erkennenden ab, dann aber läßt er beide durch die Erkenntnis eins werden. Zu der Beziehung von Hunger und Liebe, auf die sich das physische Leben gründet, tritt in zweiter Reihe die geistige Beziehung. So machen wir uns diese Welt auf doppelte Weise zu eigen, indem wir in ihr leben und sie erkennen.

Aber es gibt noch einen andern Dualismus im Menschen, der sich nicht aus der Art seines physischen Lebens erklären läßt. Es ist der Zwiespalt in seinem Bewußtsein zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte. Das Tier kennt diesen Zwiespalt nicht; bei ihm besteht der Widerstreit zwischen dem, was es hat, und dem, was es begehrt, während er beim Menschen zwischen dem, was er begehrt, und dem, was er begehren sollte, besteht. Unsre Begierden entspringen unserm natürlichen Leben, das wir mit den Tieren teilen, aber das, was wir begehren sollten, gehört einem Leben an, das weit darüber hinausgeht.

So hat im Menschen eine Wiedergeburt stattgefunden. Wenn er auch noch sehr viele Gewohnheiten und Triebe seines Tierlebens beibehalten hat, so liegt doch sein wahres Leben in der Sphäre dessen, was sein sollte. Durch diese Tatsache wird eine Verbindung, aber auch zugleich ein Widerstreit geschaffen. Viele Dinge, die gut für das eine Leben sind, sind schädlich für das andere. Daraus entsteht die Notwendigkeit eines innern Kampfes, der in des Menschen Persönlichkeit das hineinbringt, was man Charakter nennt. Aus dem Triebleben führt er den Menschen zum Zweckleben. Dies ist das Leben der sittlichen Welt.

Hier gelangen wir aus der Welt der Natur in die des Menschentums. Wir leben und wirken und haben unser Sein im Allgemeinmenschlichen. Das Menschenkind wird in zwei Welten zugleich hineingeboren, in die Welt der Natur und in die Menschenwelt. Diese letztere ist eine Welt von Ideen und Einrichtungen, von Erkenntnisschätzen und durch Erziehung erlangten Gewohnheiten. Sie ist durch rastloses Streben von Jahrtausenden, durch Märtyrerleiden heldenhafter Menschen erbaut. Ihre verschiedenen Schichten sind Niederschläge von Entsagungen zahlloser Einzelwesen aller Zeitalter und Länder. Sie hat ihre guten und bösen Elemente, denn die Ungleichheiten ihrer Oberfläche und Temperatur machen den Fluß des Lebens reich an Überraschungen.

Dies ist die Welt der Wiedergeburt des Menschen, die außernatürliche Welt, wo der Dualismus des Tierlebens und der Sittlichkeit uns unsrer Persönlichkeit als Mensch bewußt macht. Alles, was dies Menschenleben daran hindert, die Beziehung zu seiner sittlichen Welt vollkommen zu machen, ist vom Übel. Es bedeutet Tod, einen viel schlimmeren Tod als den Tod des natürlichen Lebens.

In der Welt der Natur wandelt der Mensch mit Hilfe der Wissenschaft die Tyrannei der Naturkräfte in Gehorsam.

Aber in seiner sittlichen Welt hat er eine schwerere Aufgabe zu erfüllen. Er hat die Tyrannei seiner eigenen Leidenschaften und Begierden in Gehorsam zu wandeln. Und in allen Zeiten und Ländern ist dies das Ziel menschlichen Strebens gewesen. Fast alle unsre Institutionen sind das Resultat dieses Strebens. Sie geben unserm Willen die Richtung und graben ihm Kanäle, damit er ungehindert und ohne unnützen Kraftverlust seinen Lauf nehmen kann.

Wir haben gesehen, daß das physische Leben allmählich in das geistige hineinwuchs. Die geistigen Fähigkeiten der Tiere sind vollkommen in Anspruch genommen von der Sorge für ihre unmittelbaren Lebensbedürfnisse. Diese Bedürfnisse sind beim Menschen mannigfaltiger, und daher bedarf er größerer geistiger Fähigkeiten. So kam er zu der Erkenntnis, daß die Welt seiner unmittelbaren Bedürfnisse eins ist mit einer Welt, die weit über seine unmittelbaren Bedürfnisse hinausgeht. Er erkannte, daß diese Welt nicht nur seinen Leib mit Nahrung versieht, sondern auch seinen Geist; daß er durch seinen Geist auf unsichtbare Weise mit allen Dingen verbunden ist.

Was der Intellekt in der Welt der Natur ist, das ist der Wille in der sittlichen Welt. Je freier und weiter er wird, desto wahrer, weiter und mannigfacher werden auch unsre sittlichen Beziehungen. Seine äußere Freiheit ist die Unabhängigkeit von Lust- und Schmerzempfindungen, seine innere Freiheit ist die Befreiung aus der Enge der Selbstsucht. Wir wissen, daß, wenn der Intellekt von den Banden des Eigennutzes befreit ist, er die Welt der allgemeinen Vernunft erkennt, mit der er in Harmonie sein muß, um seine Bedürfnisse ganz befriedigen zu können; ebenso erkennt auch der Wille, wenn er aus seinen Schranken befreit ist, wenn er gut wird, d. h. wenn er alle Menschen und alle Zeiten umfaßt, eine Welt, die über die sittliche Welt der Menschheit hinausgeht. Er entdeckt eine Welt, wo alle Lehren unsres sittlichen Lebens ihre letzte Wahrheit finden, und unser Geist erhebt sich zu dem Gedanken, daß es ein unendliches Medium der Wahrheit gibt, durch das das Gute seinen Sinn erhält. Daß ich mehr werde durch die Vereinigung mit andern, ist keine bloße mathematische Tatsache. Wir haben erkannt, wenn verschiedene Menschen sich in Liebe, die das Band vollkommener Einheit ist, zusammenschließen, so wird nicht einfach Kraft zu Kraft gefügt, sondern das, was unvollkommen war, findet seine Vollendung in der Wahrheit und daher in der Freude; was sinnlos war, solange es isoliert war, findet seinen vollen Sinn in der Vereinigung. Diese Vollendung ist nicht etwas, was sich messen oder analysieren läßt, sie ist ein Ganzes, das über die Summe seiner Teile hinausgeht. Sie eröffnet uns das tiefste Geheimnis aller Dinge, das zugleich jenseits aller Dinge liegt, wie die Schönheit einer Blume weit mehr ist als ihre botanischen Tatsachen; wie der Sinn der Menschheit selbst sich nicht im bloßen Herdenleben erschöpft.

Diese Vollendung in der Liebe, die vollkommene Einheit ist, öffnet uns das Tor der Welt des Unendlichen, der sich in der Einheit aller Wesen offenbart; der Verlust, Selbstaufopferung und Tod mit reicherem Gewinn und höherem Leben krönt; der durch seine eigene Fülle die Leere der Entsagung in Fülle wandelt. Dies ist der größte Dualismus in uns, der Dualismus des Endlichen und Unendlichen. Durch ihn werden wir uns der Verwandtschaft bewußt zwischen dem, was in uns ist, und dem, was über uns hinausgeht, zwischen dem Gegenwärtigen und Zukünftigen.

Dies Bewußtsein dämmerte in uns auf mit unserm physischen Leben, wo Trennung und Vereinigung stattfand zwischen unserm Einzelleben und der allgemeinen Welt der Dinge; es vertiefte sich in unserm geistigen Leben, wo Trennung und Vereinigung stattfand zwischen unserm individuellen Geist und der allgemeinen Welt der Vernunft; es erweiterte sich, wo Trennung und Vereinigung stattfand zwischen unserm Einzelwillen und der allgemeinen Welt der menschlichen Persönlichkeit; es fand seinen letzten Sinn in der Trennung und Harmonie unsrer Einzelseele mit der All-Seele. Und auf dieser Stufe der ewigen Trennung und Wiedervereinigung beider bricht der Mensch aus in das wundervolle Lied:

Dies ist der höchste Pfad,
Dies ist der höchste Schatz,
Dies ist die höchste Welt,
Dies ist die höchste Wonne. E?âsya paramâ gati?,
E?âsya paramâ sampat,
E?o 'sya paramo loka?,
E?o 'sya parama ânanda?. (B?had âra?yaka-Upani?ad 4, 3, 32).

Das Leben ist in beständiger Verbindung mit diesem Höchsten. Die Welt der Dinge und Menschen bewegt sich beständig in mannigfachen Weisen nach diesem Rhythmus, doch sie selbst kennt seinen Sinn nicht, bis er sich ihr in der vollkommenen Vereinigung mit dem Höchsten offenbart.

So nahe die Beziehung des noch ungeborenen Kindes zum Mutterleibe auch ist, so hat sie doch noch nicht ihren letzten Sinn gefunden. Wenn auch alle seine Bedürfnisse ihm dort bis ins einzelnste befriedigt werden, so bleibt sein größtes Bedürfnis noch ungestillt. Es muß in die Welt von Licht und Raum und freiem Handeln hineingeboren werden. Diese Welt ist in jeder Hinsicht so gänzlich verschieden von der des Mutterleibes, daß das ungeborne Kind, wenn es die Fähigkeit zu denken hätte, sich nie eine Vorstellung von jener weiteren Welt machen könnte. Und doch hat es seine Glieder, die erst in der Freiheit von Luft und Licht ihren Sinn bekommen.

So hat auch der Mensch in der Welt der Natur alles, was er zur Ernährung seines Ichs braucht. Dort ist sein Ich seine Hauptsorge – das Ich, dessen Interesse von dem der andern abgesondert ist. Wie mit seinem Ich so ist es auch mit den Dingen seiner Welt; sie haben für ihn keine andere Bedeutung als die des Nutzens. Aber es entwickeln sich Fähigkeiten in ihm wie die Glieder beim ungeborenen Kinde, die ihm die Kraft geben, die Einheit der Welt zu erkennen – die Einheit, die der Seele und nicht den Dingen eigen ist. Er hat im Schönheitssinn und in der Liebe die Fähigkeit, an andern mehr Freude zu finden als an sich selbst. Die Fähigkeit, die ihn irdische Freuden verschmähen und Schmerz und Tod auf sich nehmen läßt, treibt ihn, unaufhaltsam vorwärts zu streben und führt ihn zu Erkenntnissen und Taten, die scheinbar keinen Nutzen für ihn haben. Dies führt zum Widerstreit mit den Gesetzen der Welt der Natur, und das Prinzip der Auslese der Tauglichsten ändert seinen Sinn.

Und damit kommen wir zu dem Dualismus, durch den der Mensch am meisten leidet: dem Dualismus von Natur und Seele. Das Übel, das den natürlichen Menschen verletzt, ist der Schmerz, aber das Übel, das seine Seele verletzt, hat einen besonderen Namen erhalten, es heißt Sünde. Denn wenn es auch durchaus nicht als Schmerz empfunden wird, so ist es doch ein Übel, ebenso wie Blindheit oder Lahmheit für den Embryo nichts bedeutet, aber nach der Geburt zu einem großen Übel wird, das den Zweck des Lebens hemmt. Das Verbrechen richtet sich gegen den Menschen, die Sünde richtet sich gegen das Göttliche in uns.

Was ist dieses Göttliche? Es ist das, was seinen eigentlichen und wahren Sinn im Unendlichen hat, was in dem embryonischen Leben des Ichs nicht die letzte Wahrheit sieht. Die ganze Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Geburtswehen, eine Geschichte von Leiden, wie kein Tier sie je durchzumachen hat. Die Menschheit hat keine Ruhe, all ihre Triebkräfte drängen sie vorwärts. Wenn sie sich auf ihrem Wohlstand zur Ruhe legt, ihr Leben durch Konventionen einschnürt, ihre Ideale zu verhöhnen beginnt und all ihre Kräfte auf die Vergrößerung ihres Ichs verwendet, dann beginnt ihr Verfall und Tod; alles, was sie an Kraft hat, wirkt nur noch zerstörend, denn sie braucht diese Kraft nur, um Zurüstungen für den Tod zu machen, weil sie nicht an unsterbliches Leben glaubt.

Für alle andern Kreaturen ist das natürliche Leben alles. Leben, die Gattung fortpflanzen und sterben, das ist ihr Daseinszweck. Und damit sind sie zufrieden. Sie rufen nie sehnsüchtig nach Erlösung, nach Befreiung aus den Schranken des Lebens; sie fühlen sich nie eingeengt und erstickt und schlagen verzweifelt gegen die Grenzmauern ihrer Welt; sie wissen nicht, was es heißt, ein Leben des Überflusses aufgeben und durch Entsagung den Eintritt ins Reich himmlischer Wonne zu gewinnen. Sie schämen sich nicht ihrer Begierden und empfinden sie nicht als unrein, denn sie gehören zu ihrem vollen Leben. Sie sind nicht grausam in ihrer Grausamkeit, nicht gierig in ihrer Gier, denn Grausamkeit und Gier reichen nicht weiter als die Gegenstände derselben, die an sich endlich sind. Aber der Mensch hat seine Unendlichkeit, und daher verachtet er jene Leidenschaften, die seine Unsterblichkeit nicht anerkennen.

Im Menschen hat das Leben des Tiers seinen Bereich geweitet. Er ist an die Schwelle einer Welt gekommen, die erst durch seinen eigenen Willen und seine eigene Kraft geschaffen werden muß. Er ist über das rezeptive Stadium hinaus, wo das Ich versucht, alles, was es umgibt, in sein eigenes Zentrum zu ziehen, ohne selbst etwas zu geben. Jetzt beginnt des Menschen schöpferisches Leben, wo er von seinem Überfluß spendet. Durch unaufhörliches Entsagen soll er wachsen. Alles was die Freiheit dieses endlosen Wachstums hemmt, ist Sünde, das Übel, das seiner Unsterblichkeit entgegenarbeitet. Diese schöpferische Kraft im Menschen hat sich schon von Anfang seines Lebens an gezeigt. Denn selbst sein physischer Bedarf wird ihm in der Kinderstube der Natur nicht gebrauchsfertig vorgesetzt. Von seinen ersten Tagen an ist er geschäftig gewesen, sich aus dem Rohmaterial, das um ihn herumliegt, seinen Lebensbedarf zu bereiten. Selbst seine Speisegerichte sind seine eigene Schöpfung, und im Gegensatz zu den Tieren wird er nackt geboren und muß sich seine Kleidung selbst schaffen. Dies beweist, daß der Mensch aus der Welt der Naturzwecke in die Welt der Freiheit geboren ist.

Denn Schaffen bedeutet Freiheit. Wir leben in einem Gefängnis, wenn wir in dem leben müssen, was schon da ist, denn es bedeutet in etwas leben, was etwas anderes ist als wir selbst. Dort müssen wir ohnmächtig es der Natur überlassen, mit uns zu schalten und walten und für uns zu wählen, und so kommen wir unter das Gesetz der natürlichen Auslese. Aber in unsrer eigenen Schöpfung leben wir in dem, was unser ist, und dort wird die Welt mehr und mehr eine Welt unsrer eigenen Auslese; sie bewegt sich mit uns im gleichen Schritt und gibt uns Raum, wohin wir uns auch wenden. So kommt es, daß der Mensch sich nicht mit der ihm gegebenen Welt begnügt; er strebt danach, sie zu seiner eigenen Welt zu machen. Und er legt den ganzen Mechanismus des Weltalls auseinander, um ihn zu studieren und wieder nach seinen eigenen Bedürfnissen zusammenzusetzen. Er lehnt sich auf gegen den Zwang der Naturgesetze. Sie hemmen bei jedem Schritt die Freiheit seines Laufes, und er muß die Tyrannei der Materie erdulden, die seine Natur sich sträubt als endgültig und unvermeidlich anzuerkennen.

Schon in der Zeit seiner Wildheit versuchte er durch Zaubermittel die Ordnung der Dinge zu durchbrechen. Er träumte von Aladdins Wunderlampe und von mächtigen Geistern, die ihm gehorchen und die Welt auf den Kopf stellen mußten, wenn es ihm einfiel. Denn sein freier Geist stieß immer wieder gegen Dinge, die ohne Rücksicht auf ihn eingerichtet waren. Er mußte sich scheinbar in die ihm aufgezwungene Naturordnung fügen oder sterben. Aber im tiefsten Herzen konnte er doch trotz der ihn widerlegenden harten Tatsachen nicht daran glauben. Daher träumte er von einem Paradiese der Freiheit, vom Märchenlande, vom Heldenzeitalter, wo der Mensch in beständigem Verkehr mit Göttern lebte, vom Stein der Weisen, vom Lebenselixier. Obgleich er nirgends das Tor finden konnte, das in die Freiheit führte, suchte er doch unermüdlich tastend danach, er härmte sich in Sehnsucht ab und betete inbrünstig um Befreiung. Denn er fühlte instinktiv, daß diese Welt nicht seine endgültige Welt ist und daß seine Seele nur eine sinnlose Qual für ihn bedeuten würde, wenn es nicht eine andre Welt für ihn gäbe.

Die Naturwissenschaft hat die Führung in der Rebellion des Menschen gegen die Herrschaft der Natur. Sie versucht, der Natur den Zauberstab der Macht zu entwinden und ihn dem Menschen in die Hand zu geben; sie will unsern Geist aus der Sklaverei der Dinge befreien. Die Naturwissenschaft hat ein materialistisches Aussehen, weil sie damit beschäftigt ist, den Kerker der Materie zu zerbrechen, und auf seinem Trümmerhaufen arbeitet. Beim Einfall in ein neues Land ist Plünderung die Losung des Tages. Doch wenn das Land erobert ist, werden die Dinge anders, und die, die eben noch raubten, werden zu Polizisten und stellen Frieden und Ordnung wieder her. Die Naturwissenschaft beginnt eben erst den Einfall in die materielle Welt, und alles hascht gierig nach Beute und verleugnet schamlos die wahre Natur des Menschen. Aber die Zeit wird kommen, wo die großen Kräfte der Natur jedem Einzelnen zu Gebote stehen, und wo mit wenig Kosten und Mühe für die elementaren Lebensbedürfnisse aller gesorgt werden kann. Wo es für den Menschen ebenso leicht sein wird zu leben wie zu atmen und sein Geist frei ist, sich seine eigene Welt zu schaffen.

In früheren Zeiten, als die Naturwissenschaft den Schlüssel zum Vorratshause der Naturkräfte noch nicht gefunden hatte, hatte der Mensch doch schon den stoischen Mut, die Materie zu verachten. Er sagte, er könne sich ohne Nahrung behelfen und könne auch die Kleidung als Schutz gegen Kälte entbehren. Er war stolz darauf, seinen Leib zu kasteien. Es war ihm eine Lust, offen zu verkünden, daß er der Natur nur sehr wenig von dem Zoll zahlte, den sie von ihm forderte. Er bewies, daß er die Angst vor Schmerz und Tod, mit deren Hilfe die Natur ihn zu knechten suchte, aufs äußerste verachtete.

Woher dieser Stolz? Warum hat der Mensch sich von jeher gegen die demütigende Zumutung aufgelehnt, seinen Nacken unter physische Notwendigkeiten zu beugen? Warum konnte er sich nie damit aussöhnen, die Beschränkungen, die die Natur ihm auferlegte, als unbedingt geltend hinzunehmen? Warum konnte er in seiner physischen und sittlichen Welt die kühnsten Unmöglichkeiten versuchen, ohne je, trotz wiederholter Enttäuschungen, eine Niederlage zuzugeben?

Vom Standpunkt der Natur aus betrachtet, ist der Mensch töricht. Er traut der Welt, in der er lebt, nicht ganz. Er hat vom Anfang seiner Geschichte an Krieg mit ihr geführt. Er scheint sich durchaus an allen Ecken stoßen und verletzen zu wollen. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie die sorgsame Meisterin der natürlichen Auslese Schlupflöcher lassen konnte, durch die solche überflüssigen und gefährlichen Elemente in ihre Wirtschaft hineingelangen und den Menschen ermutigen konnten, dieselbe Welt, die ihn erhält, zu durchbrechen. Aber das junge Vöglein benimmt sich genau so unbegreiflich töricht, wenn es die Wand seiner kleinen Welt durchbricht. Es hat doch mit der unbeirrbaren Sicherheit des Instinkts gefühlt, daß jenseits seines lieben Schalenkerkers etwas auf ihn wartet, das seinem Dasein Erfüllung bringen wird, wie seine Phantasie sie nie träumen kann.

So glaubt auch der Mensch fast blindlings seinem Instinkt, daß er, wie dicht auch die Hülle sein mag, die ihn hier umgibt, doch aus dem Mutterschoße der Natur in die Welt des Geistes geboren werden soll, in die Welt, wo er seine schöpferische Freiheit erlangt, wo er an der Schöpfung des Unendlichen teilnimmt, wo er im Zusammenwirken mit dem Unendlichen schafft, wo seine Schöpfung und Gottes Schöpfung in Harmonie eins werden.

In fast allen Religionssystemen gibt es ein großes Feld des Pessimismus, wo das Leben als ein Übel und die Welt als Fallstrick und Trug angesehen wird, wo der Mensch in der Welt um ihn her seinen erbittertsten Feind sieht. Er fühlt den Druck der Dinge so intensiv, daß er glaubt, es müsse ein böser Geist in der Welt sein, der ihn versuche und mit arger List ihn ins Verderben zu reißen trachte. In seiner Verzweiflung beschließt der Mensch dann, sich ganz von der Natur abzuwenden und zu beweisen, daß er sich selbst genügt.

Aber dies ist der heftige und schmerzhafte Kampf des Kindeslebens gegen das Leben der Mutter an der Schwelle seiner Geburt. Er ist grausam und zerstörend und sieht in dem Augenblick wie Undank aus. Aller religiöse Pessimismus ist schwärzester Undank, der den Menschen treibt, nach dem zu schlagen, was ihn so lange mit seinem eigenen Leben getragen und genährt hat.

Und doch macht uns die Tatsache, daß es eine so unmögliche Paradoxie gibt, nachdenklich. Wir sind zu Zeiten geneigt, unsre Geschichte ganz aus den Augen zu verlieren und zu glauben, solche Anfälle von Pessimismus seien mit Absicht und Überlegung von gewissen Mönchen und Priestern hervorgerufen, die in einer Zeit der Gesetzlosigkeit unter unnatürlichen Bedingungen lebten. Wir vergessen dabei, daß Verschwörungen Erzeugnisse der Geschichte sind, aber die Geschichte nicht ein Erzeugnis von Verschwörungen. Die menschliche Natur wird von innen heraus mit Heftigkeit getrieben, sich selbst den Krieg zu erklären. Und wenn diese Heftigkeit auch nachläßt, so ist der Schlachtruf doch noch nicht ganz verstummt.

Wir müssen wissen, daß Übergangsperioden ihre Sprache haben, die man nicht buchstäblich nehmen darf. Wenn die Seele sich zum erstenmal im Menschen bemerkbar macht, so betont sie ihren Gegensatz zur Natur mit solcher Heftigkeit, als wäre sie bereit, einen Vernichtungskrieg gegen sie zu beginnen. Aber dies ist die negative Seite. Wenn die Revolution, die die Freiheit aufrichten will, ausbricht, hat sie das Aussehen der Anarchie. Doch ihr wahrer Sinn ist nicht die Zerstörung der Regierung, sondern die Freiheit der Regierung.

So ist auch die Geburt der Seele in die geistige Welt nicht die Auflösung der Beziehung zu dem, was wir Natur nennen, sondern vollkommene Verwirklichung dieser Beziehung in der Freiheit.

In der Natur sind wir blind und lahm wie ein Kind vor seiner Geburt. Aber im geistigen Leben sind wir frei geboren. Und sobald wir aus der blinden Knechtschaft der Natur befreit sind, steht sie uns im hellen Licht gegenüber, und wo wir bisher nichts als Hülle sahen, erkennen wir jetzt die Mutter.

Aber was ist das Endziel der Freiheit, zu der des Menschen Leben gelangt ist? Sie muß ihren Sinn in etwas haben, über das hinaus wir nicht zu forschen brauchen. Die Antwort ist dieselbe, die uns das Leben des Tieres gibt, wenn wir nach seinem letzten Sinn fragen. Wenn die Tiere ihren Hunger und ihre andern Begierden befriedigen, so fühlen sie, daß sie sind. Und das ist auch unser Sinn und Ziel: zu wissen, daß wir sind. Das Tier weiß es, aber sein Wissen ist wie Rauch, nicht wie Feuer, es kommt als blindes Gefühl, nicht als Erleuchtung, und wenn es auch die Wahrheit aus ihrem Schlummer aufweckt, so läßt es sie doch im Dunkel. Es ist das Bewußtsein, das anfängt, das Ich vom Nicht-Ich zu unterscheiden. Es hat gerade genug Umfang, um sich als Mittelpunkt zu fühlen.

Auch das letzte Ziel der Freiheit ist zu wissen, daß »ich bin«. Doch dieses Ich-Bewußtsein ist ein anderes: es ist das Bewußtsein der Einheit mit dem All im Gegensatz zu dem der Abgesondertheit von allem andern. Diese Freiheit findet ihre Vollendung nicht in der Extensität, sondern in der Intensität, in der Liebe. Die Freiheit, zu der das Kind gelangt, wenn es aus dem Mutterleibe geboren wird, besteht nicht darin, daß es sich seiner Mutter völliger bewußt wird, sondern daß es zum intensiven Bewußtsein ihrer in der Liebe gelangt. Im Mutterleibe wurde es genährt und warm gehalten, aber es war in seiner Einsamkeit ganz auf sich selbst beschränkt. Nachdem das Kind in die Freiheit geboren ist, bringt die wechselseitige Beziehung der Liebe zwischen Mutter und Kind dem Kinde die Freude des vollkommensten Bewußtseins seines Ichs. Diese Mutterliebe gibt seiner ganzen Welt ihren Sinn. Wenn das Kind nur ein vegetierender Organismus wäre, dann brauchte es sich nur mit seinen Wurzeln in seiner Welt festzuklammern und könnte gedeihen. Aber das Kind ist eine Persönlichkeit, und diese Persönlichkeit strebt nach vollkommener Verwirklichung, die nie in der Gefangenschaft des Mutterleibes geschehen kann. Sie muß frei sein, und diese Freiheit findet ihre Erfüllung nicht in sich selbst, sondern in einer andern Persönlichkeit, und dies ist Liebe.

Es ist nicht wahr, daß die Tiere keine Liebe empfinden. Aber sie ist zu schwach, um das Bewußtsein so weit zu erleuchten, daß es ihnen die ganze Wahrheit der Liebe offenbaren könnte. Ihre Liebe ist ein leises Glühen, das ihr Ich erhellt, aber nicht die Flamme, die über das Geheimnis des eigenen Ichs hinausgeht. Ihr Bereich ist zu eng umgrenzt, um bis an die paradoxe Wahrheit zu reichen, daß die Persönlichkeit, die das Bewußtsein der Einheit im eigenen Selbst ist, doch erst in der Einheit mit andern ihre ganze Wahrheit findet.

Diese Paradoxie hat den Menschen zu der Erkenntnis geführt, daß die Natur, in die hinein wir geboren werden, nur eine unvollkommene Wahrheit ist wie die Wahrheit des Mutterleibes. Die volle Wahrheit ist, daß wir im Schoß der unendlichen Persönlichkeit geboren werden. Unsere wahre Welt ist nicht die Welt der Naturgesetze, der Gesetze von Kraft und Stoff, sondern die Welt der Persönlichkeit. Wenn wir das vollkommen erkannt haben, haben wir unsre wahre Freiheit gefunden. Dann verstehen wir das Wort der Upanischad:

»Erkenne alles, was in der Welt lebt und wirkt, als von Gott umschlossen, und genieße, was er dir hingibt.« Vgl. oben S. 76.

Wir haben gesehen, daß das Bewußtsein der Persönlichkeit mit dem Gefühl der Abgesondertheit von allen andern beginnt und in dem Gefühl der Einheit mit allen gipfelt. Selbstverständlich ist das Bewußtsein der Abgetrenntheit auch zugleich mit einem Bewußtsein der Einheit verbunden, denn es kann nicht für sich allein existieren. Das Leben, wo das Bewußtsein der Abgesondertheit an erster und das der Einheit an zweiter Stelle steht, und wo infolgedessen die Persönlichkeit eng und vom Licht der Wahrheit nur matt erleuchtet ist, – dies Leben ist das Leben des Ichs. Aber das Leben, wo das Bewußtsein der Einheit der erste Faktor ist, und wo daher die Persönlichkeit weit und vom Licht der Wahrheit hell erleuchtet ist, dies Leben ist das Leben der Seele. Die ganze Aufgabe des Menschen liegt darin, vom Ich-Bewußtsein zum Seelenbewußtsein zu gelangen, seinen inneren Kräften die Richtung auf das Unendliche zu geben und so von der Verengung des Ichs in der Begierde zur Ausweitung der Seele in der Liebe fortzuschreiten.

Dies Seelenbewußtsein, das das bewußte Prinzip der Einheit, der Mittelpunkt aller Beziehungen ist, ist das wahre Sein und daher das letzte Ziel alles Strebens. Ich muß auf diese Tatsache den größten Nachdruck legen, daß diese Welt nur in ihrer Beziehung zu einer zentralen Persönlichkeit Wirklichkeit hat. Ohne diesen Mittelpunkt fällt sie auseinander, wird zu einem Haufen von Abstraktionen, wie Kraft und Stoff, und selbst diese, die blassesten Spiegelungen des Seins, würden in absolutes Nichts verschwinden, wenn das denkende Ich im Mittelpunkt, zu dem sie durch eine gewisse Vernunftharmonie in Beziehung stehen, fehlte.

Aber es gibt unzählige solche Zentren. Jedes Wesen hat seine eigene kleine Welt, deren Zentrum es ist. Daher stellt sich uns unwillkürlich die Frage: »Gibt es ebensoviele unüberbrückbar voneinander verschiedene Wirklichkeiten?«

Unsre ganze Natur lehnt sich auf gegen die Bejahung dieser Frage. Denn wir wissen, daß das Prinzip der Einheit in uns die Grundlage alles wahren Seins ist. Daher ist der Mensch vom trüben Dämmerlicht seiner Fragen und Vorstellungen durch all seine Zweifel und Erörterungen zu der Wahrheit gekommen, daß es einen ewigen Mittelpunkt gibt, zu dem alle Persönlichkeiten und daher die ganze Welt der Wirklichkeit ihre Beziehung hat. Dies ist » Mahân puru?a?«, die eine höchste Persönlichkeit; es ist » Satya?«, die eine höchste Wahrheit; es ist » Jòâna?«, der die höchste Erkenntnis in sich hat und daher sich selbst in allem erkennt; es ist » Sarvânubhû?«, der die Gefühle aller Wesen in sich und daher sich in allen Wesen fühlt.

Aber dieser Höchste, der Mittelpunkt alles Seins, ist nicht nur ein passives, rezeptives Wesen, er ist ânanda-rûpam am?ta? yad vibhâti – die Freude, die sich in Formen offenbart. Sein Wille ist es, der schafft.

Der Wille findet seine höchste Erfüllung nicht in der Welt des Gesetzes, sondern in der Welt der Freiheit, nicht in der Welt der Natur, sondern in der geistigen Welt.

Dies erkennen wir an uns selbst. Unsre Sklaven tun, was wir ihnen befehlen, und versehen uns mit dem, was wir brauchen, aber unsre Beziehung zu ihnen ist unvollkommen. Wir haben unsre Willensfreiheit, die nur in der Willensfreiheit anderer ihre Harmonie finden kann. Wo wir selbst Sklaven sind, in unsern selbstsüchtigen Begierden, da befriedigt uns das Sklaventum in andern. Denn die Sklaverei entspricht unserm eigenen Sklaventum und läßt uns in ihm Genüge finden. Als daher Amerika seine Sklaven befreite, befreite es in Wahrheit sich selbst. Wir finden unsre höchste Freude in der Liebe. Denn in ihr sehen wir die Willensfreiheit anderer verwirklicht. Bei unsern Freunden begegnet ihr Wille unserm Willen in vollkommener Freiheit, nicht im Zwang der Not oder der Furcht; daher findet unsre Persönlichkeit in dieser Liebe ihre höchste Verwirklichung.

Weil die Wahrheit unsres Willens in seiner Freiheit besteht, daher ist auch reine Freude nur in der Freiheit möglich. Wir finden Freude in der Befriedigung unsrer Bedürfnisse, aber diese Freude ist negativer Art. Denn das Bedürfnis ist eine Sklaverei, von der wir durch die Befriedigung des Bedürfnisses befreit werden. Aber damit ist auch die Freude zu Ende. Es ist anders mit unsrer Freude an der Schönheit. Sie ist positiver Art. Im harmonischen Rhythmus finden wir die Vollendung. Dort sehen wir nicht die Substanz oder das Gesetz, sondern die reine Form, die mit unsrer Persönlichkeit in Harmonie ist. Aus der Knechtschaft bloßen Stoffes und bloßer Linien geht das hervor, was über alle Schranken hinaus ist. Wir fühlen uns sogleich frei von der tyrannischen Sinnlosigkeit der Einzeldinge, – jetzt geben sie uns etwas, was zu unserm eignen Selbst in persönlicher Beziehung steht. Die Offenbarung der Einheit in ihrer passiven Vollkommenheit, die wir in der Natur finden, ist die Schönheit; die Offenbarung der Einheit in ihrer aktiven Vollkommenheit, die wir in der geistigen Welt finden, ist die Liebe. Diese besteht nicht in der Harmonie der äußeren Formen, sondern in der Harmonie der Willen. Der Wille, der frei ist, bedarf zur Verwirklichung seiner Harmonie andrer Willen, die auch frei sind, und darin liegt die Bedeutung des religiösen Lebens. Der ewige Mittelpunkt alles Seins, das höchste Wesen, das seine Freude ausstrahlt, indem es sich in Freiheit hingibt, muß andre Freiheitszentren schaffen, um sich mit ihnen in Harmonie zu einen. Die Schönheit ist die Harmonie, die sich in Dingen verwirklicht, die durch das Naturgesetz gebunden sind. Die Liebe ist die Harmonie, die sich in Willen verwirklicht, welche frei sind.

Im Menschen sind solche Freiheitszentren geschaffen. Er soll kein bloßer Empfänger von Gaben der Natur sein; er soll sich voll ausstrahlen im Schaffen seiner Kraft und in der Vervollkommnung seiner Liebe. Sein Ziel muß der Unendliche sein, wie der Unendliche in ihm sein Ziel hat. Die Schöpfung der natürlichen Welt ist Gottes eigene Schöpfung, wir können sie nur empfangen und dadurch uns zu eigen machen. Aber bei der Schöpfung der geistigen Welt sind wir Gottes Partner. Bei dieser Arbeit muß Gott warten, daß unser Wille mit dem seinen übereinstimmt. Nicht Macht ist es, was diese geistige Welt aufbaut; nirgends, auch nicht in dem entferntesten Winkel, gibt es in ihr Passivität oder Zwang. Das Bewußtsein muß alle Nebel der Täuschung abgestreift haben, der Wille muß von allen Gegenkräften der Leidenschaften und Begierden befreit sein, bevor wir an Gottes Schöpfungswerk teilnehmen. Solange wir nur Empfänger seiner Gaben sind, hat unser Verhältnis zu ihm noch nicht seine volle Wahrheit gefunden, denn es ist einseitig und daher unvollkommen. Wie er uns aus seiner eigenen Fülle gibt, sollen auch wir ihm von unserm Überfluß geben. Daraus quillt reine Freude, nicht nur für uns, sondern auch für Gott.

In unserm Lande haben die Wischnusänger diese Wahrheit erkannt und sie kühn verkündet, indem sie sagten, erst in den Menschenseelen fände Gott die Erfüllung seiner Liebe. In der Liebe muß Freiheit sein, daher muß Gott nicht nur warten, bis unsre Seele freiwillig den Einklang mit seiner Seele sucht, sondern er muß auch leiden, wenn sie dieser Harmonie widerstrebt und sich gegen ihn auflehnt.

Daher hat es bei der Schöpfung der geistigen Welt, an der der Mensch in Gemeinschaft mit Gott arbeiten muß, Leiden gegeben, von denen die Tiere keine Ahnung haben können. Beim Stimmen der Instrumente haben die Saiten oft in schrillen Dissonanzen aufgeschrien, und oft sind sie gerissen. Wenn wir die Mitarbeit des Menschen am Werke Gottes von dieser Seite sehen, so erscheint sie uns sinnlos und schädlich. Das Ideal, das im Herzen dieser Schöpfung ist, läßt uns jeden Fehler und Mißton wie einen Dolchstoß empfinden, und die Seele stöhnt und blutet. Oft hat die Freiheit sich in ihr Gegenteil gewandelt, um zu beweisen, daß sie Freiheit ist, und der Mensch hat gelitten, und Gott mit ihm, auf daß diese Welt des Geistes geläutert und rein aus ihrem Feuerbade hervorgehen möge, mit leuchtenden Gliedern wie ein göttliches Kind. Es hat Heuchelei und Lüge gegeben, grausame Überhebung, die sich über die Wunden entrüstet, die sie selbst geschlagen, geistlichen Hochmut, der im Namen Gottes den Menschen schmäht, Machthochmut, der Gott lästert, indem er ihn seinen Verbündeten nennt; jahrhundertelang hat man den Schmerzensschrei der Gequälten gewaltsam erstickt und Menschenkinder ihres rechten Armes beraubt, um sie für alle Zeit wehr- und hilflos zu machen; man hat die Felder mit dem blutigen Schweiß der Sklaverei gedüngt, um Leckerbissen darauf zu bauen, und seinen Reichtum aufgerichtet auf Mangel und Hungersnot. Aber ich frage: Hat dieser Riesengeist der Verneinung gesiegt? Ist das Leiden, das er im Herzen des Unendlichen hervorgerufen hat, nicht seine größte Niederlage? Und wird sein gefühlloser Stolz nicht in jedem Augenblick seines aufgeblasenen Daseins selbst durch das Gras am Wege und die Blumen auf dem Felde beschämt? Trägt nicht das Verbrechen an Gott und Menschen seine Strafe selbst als Krone der Häßlichkeit auf dem Haupte? Ja, das Göttliche im Menschen läßt sich durch Erfolg oder Organisationen seines Gegners nicht einschüchtern; es setzt sein Vertrauen nicht auf die Größe seiner Macht und auf kluge Vorsicht. Seine Stärke liegt nicht in Muskel- oder Maschinenkraft, nicht in Klugheit der Politik, noch in Robustheit des Gewissens, sondern in seinem Streben nach Vollendung. Wenn auch das Heute es verhöhnt, so hat es doch die Ewigkeit des Morgen auf seiner Seite. Dem Anschein nach ist es hilflos wie ein neugebornes Kind, aber seine nächtlichen Leidenstränen setzen alle unsichtbaren Kräfte des Himmels in Bewegung, sie rufen in der ganzen Schöpfung die Mutter wach. Kerkermauern fallen ein, ungeheure Berge von Reichtümern stürzen, vom Mißverhältnis ihrer eigenen Last umgerissen, kopfüber in den Staub. Die Geschichte der Erde ist die Geschichte von Erdbeben und Sintfluten und vulkanischen Ausbrüchen, und doch ist sie bei alledem die Geschichte der grünen Felder und der murmelnden Bäche, der Schönheit und des fruchtbaren Lebens. Und die geistige Welt, die aus dem Leben des Menschen und dem Leben Gottes emporwächst, wird diese Zeit der ersten Kindheit, wo sie immer wieder hilflos zu Fall kommt und sich verletzt, hinter sich lassen und eines Tages in der Kraft der Jugend auf festen Füßen stehen, in frohem Genuß der Schönheit und Freiheit ihrer Bewegung.

Das Leiden gerade ist unsre größte Hoffnung. Denn es ist der Sehnsuchtsschrei der Unvollkommenheit, der von ihrem Glauben an Vollkommenheit zeugt, wie der Schrei des Kindes von dem Glauben an die Mutter. Dies Leiden treibt den Menschen dazu, mit seinem Gebet ans Tor des Unendlichen, des Göttlichen in ihm zu pochen und so seinen tiefsten Instinkt, seinen unmittelbaren Glauben an das Ideal zu beweisen, den Glauben, mit dem er dem Tode mutig entgegentritt und allem entsagt, was zu seinem engeren Selbst gehört. Gottes Leben, das sich in seine Schöpfung ergießt, hat das Leben des Menschen berührt, das nun auch der Freiheit zuströmt. Immer wenn in die Harmonie des Schöpfungsliedes hinein eine Dissonanz schrillt, ruft der Mensch aus: » Asato mâ sad gamaya«, »Hilf mir aus dem Nichtsein zum wahren Sein.« Er gibt sein Selbst hin, daß es für die Musik der Seele gestimmt werde. Auf diese Hingabe wartet Gott, denn die geistige Harmonie kann nur durch Freiheit entstehen. Daher ist die freiwillige Hingabe des Menschen an den Unendlichen der Anfang der vollkommenen Vereinigung mit ihm. Erst dann, durch das Medium der Freiheit, kann Gottes Liebe voll auf die Menschenseele wirken. Diese Hingabe besteht in der freien Wahl unsrer Seele, ihr Leben dem Werke Gottes zu weihen, die Welt des Naturgesetzes in eine Welt der Liebe umzuwandeln.

In der Geschichte des Menschen hat es Augenblicke gegeben, wo sein Leben mit der Musik von Gottes Leben in vollkommener Harmonie zusammenklang. Wir haben gesehen, wie des Menschen Persönlichkeit in restloser Selbsthingabe aus überquellender Liebe ihre Vollendung fand, indem sie selbst göttliches Wesen erlangte. Es sind Menschen in dieser Welt der Natur geboren, mit menschlichen Begierden und Schwächen, die dennoch bewiesen haben, daß sie in der Welt des Geistes atmeten, daß die höchste Wirklichkeit die Freiheit der Persönlichkeit in der vollkommenen Vereinigung der Liebe ist. Sie machten sich frei von allen selbstsüchtigen Wünschen und Begierden, von allen engen Vorurteilen der Kaste und der Nationalität, von der Menschenfurcht und der Knechtschaft der Glaubensdogmen und Konventionen. Sie wurden eins mit ihrem Gott im freien, tätigen Wirken mit ihm. Sie liebten und litten. Sie boten ihre Brust den Pfeilen des Bösen und bewiesen, daß der Geist unsterbliches Leben hat. Große Königreiche wechseln ihre Formen und verschwinden wie Wolken, Institutionen zerfließen in der Luft wie Träume, Nationen spielen ihre Rolle und versinken in Dunkel, aber jene Einzelwesen tragen das unsterbliche Leben der ganzen Menschheit in sich: Ihr Leben fließt wie ein ewiger, gewaltiger Strom durch grüne Felder und Wüsten und durch die langen, dunklen Höhlen der Vergessenheit in die tanzende Freude des Sonnenlichts hinein und bringt im endlosen Lauf der Jahre Wasser des Lebens an die Türen von Millionen Menschen, das ihren Durst löscht und ihre Leiden heilt und sie reinigt vom Staub des Alltags, und singt mit heller Stimme durch den Lärm der Märkte das Lied des ewigen Lebens, das Jubellied:

Dies ist der höchste Pfad,
Dies ist der höchste Schatz,
Dies ist die höchste Welt,
Dies ist die höchste Wonne.

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