Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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40

Die Hunde von Garre Castle waren nun in einem alten Gebäude untergebracht, in dem die Curcys ihre Meute schon in jenen Tagen einschlossen, als Columbus noch als Kind in den Straßen Genuas spielte. Abel Bellamy hatte Anweisung gegeben, wie sie gefüttert werden mußten. Sie erhielten ihre letzte Mahlzeit früh am Nachmittag, später ließ er sie absichtlich hungern. Ein hungriger Hund ist ein wachsamer Hund, dachte der Alte, und außerdem wild und bissig. Morgens gab er ihnen selbst zu fressen. Gewöhnlich lagen sie früh in einer Reihe vor seiner Schlafzimmertür und warteten auf ihn. Sie schauten ihn dann mit ihren klugen Augen begierig an.

»Morgen gehen Sie zur Stadt, Savini, aber kommen Sie bald zurück. Wie ich höre, sind Sie verheiratet?«

»Jawohl, mein Herr.« Savini wunderte sich, woher Bellamy das wußte. Featherstone hatte es ihm nicht gesagt. Aber plötzlich dämmerte ihm die Erkenntnis auf. Coldharbour Smith, der natürlich kein Geheimnis für sich behalten konnte, mußte es ausgeplaudert haben.

»Man hat mir erzählt, daß die Frau, die Sie da haben, ganz hübsch ist.« Bellamy schaute seinen Sekretär mit zusammengekniffenen Augen an. »Sie soll direkt eine Schönheit sein?«

»Jawohl, mein Herr,« sagte Julius bescheiden und war gespannt, was nun kommen sollte.

»Smith hat eine gute Aufgabe für sie,« meinte Bellamy und wandte sich scheinbar gleichgültig seiner illustrierten Zeitung zu. »Ich vermute, Sie haben nichts dagegen, wenn sie sich Geld verdient – auf ehrliche Weise?«

Julius übersah die Beleidigung, die in seinen Worten lag, denn er war zu neugierig, was der Alte vorhatte. Das war tatsächlich eine unerwartete Entwicklung der Dinge, aber er bildete sich keinen Augenblick ein, daß Bellamy an der ganzen Sache nicht interessiert sei. Dazu kannte er ihn zu gut.

»Ich freue mich sehr, das zu hören,« entgegnete Julius ehrerbietig. »Fay ist eine gute Frau und weiß nichts von dem Leben, das ich früher führte.«

»Lügen Sie mir nichts vor, sie gehörte doch auch zu der Falschspielerbande!«

Julius fluchte heimlich.

»Wenn sie nämlich ehrlich wäre, könnte ich sie nicht gebrauchen, oder wenigstens Smith würde sich dann nicht um sie kümmern. Schreiben Sie ihr, Savini, nein, besser, gehen Sie zu ihr, Sie kommen ja morgen in die Stadt. Reden Sie ihr gut zu und sagen Sie ihr, daß sie Smith unterstützen soll, wenn er sie um ihre Hilfe bittet. Sie soll sehr gut bezahlt werden – das können Sie ihr auch sagen.«

Mit der charakteristischen seitlichen Kopfbewegung beendete Bellamy die Unterredung. Julius begab sich zu Bett, nachdem er gesehen hatte, daß der Alte nach dem Hundekäfig ging. Er wartete niemals, bis die Tiere freigelassen wurden.

In wenigen Minuten kehrte Bellamy mit seinen hungrigen Hunden zurück. Sie begleiteten ihn auf Schritt und Tritt und schauten interessiert zu, wie er die Türen verschloß und verriegelte. Dann folgten sie ihm die Treppe hinauf. Bei der Türe zu seinem Zimmer hielt er an und schaute sich um. Einer der Hunde hatte sich in der Nähe der Treppe niedergelegt, die beiden andern schnüffelten an der Tür zu Savinis Zimmer.

In der Burg herrschte tiefes Schweigen. Das Ticken einer alten Uhr in der Halle konnte selbst Julius hören, der sich von einer Seite zur andern wälzte und über das merkwürdige Interesse nachdachte, das Bellamy plötzlich an Fay hatte. Es war schon nach Mitternacht, als er leises Gehen auf dem Korridor und ein unterdrücktes Knurren vernahm.

Bellamy hörte es auch und war sofort vollkommen wach. Er stand auf und schaute sich um. Die Hunde liefen ruhelos im Gang auf und ab und als sie ihn sahen, wiederholte der eine sein Bellen.

»Willst du wohl ruhig sein!« fuhr Bellamy ihn wütend an.

Mit einem unterdrückten Laut legte sich der Hund nieder, streckte seine dicken Pfoten aus, legte seinen Kopf darauf und beobachtete unablässig seinen Herrn.

Bellamy schloß die Tür zu seinem Schlafzimmer wieder und schob die Riegel vor. Einige Minuten später schlief er.

Es schlug zwei Uhr, als die Tür zu dem Vorratsraum sich langsam und leise öffnete, so langsam und geräuschlos, daß der eine Hund, der zehn Meter davon entfernt lag, sich nicht einmal umschaute. Ebenso schloß sie sich wieder, aber auf dem Flur in der Nähe der Wand stand jetzt eine große Schüssel mit Milch.

Einer der Hunde, der unten in der Halle auf und ab lief, sah sie, und sein Schmatzen lockte auch die beiden andern herbei.

Die hungrigen Tiere standen um die Schüssel und es dauerte nicht lange, so war sie leer. Sie entfernten sich nacheinander und leckten die Milchspritzer von ihren Pfoten ab.

Der Hund, der die Milch zuerst entdeckt hatte, streckte sich aus und legte sich nieder. Kurz darauf folgten auch die beiden andern. Fünf Minuten später schlüpfte eine grüne Gestalt durch die Tür und eilte die Treppe hinauf zu der Stelle, wo die Lichtschalter angebracht waren. Ein kurzes Knacken und der Gang lag in vollkommener Dunkelheit.

Schweigend ging er weiter und beugte sich zu einem der Tiere nieder. Der Hund öffnete die Augen, als der grüne Mann ihm begütigend über dag dicke Fell strich und schlief in der nächsten Sekunde wieder weiter.

In dem schwachen Licht, das durch die entfernten Fenster fiel, stand er bewegungslos vor Abel Bellamys Tür. Seine hochragende Gestalt sah furchterregend aus, sein geisterhaft bleiches Gesicht war entsetzlich anzusehen. In einer Hand hielt er einen langen grünen Bogen, ein Köcher mit grünen Pfeilen hing an seiner Seite. Er wartete lange Zeit, dann bückte er sich und steckte ein langes, dünnes Instrument in das Schlüsselloch. An dem Handgriff des Instruments war ein dünner Draht befestigt, der aus dem Köcher hervorkam. Ohne das geringste Geräusch drehte er den Nachschlüssel um, und selbst als er die Klinke niederdrückte und die Tür weit öffnete, entstand kein Lärm. Ebenso öffnete er auch die innere Ledertür. Wieder nahm er das Instrument in die Hand und führte es in das Schlüsselloch ein. Der Eisenstab war in hohem Grade magnetisch, und er konnte die Klinke der Ledertür weit genug aufheben, um die Tür aufzustoßen.

Als Abel Bellamy aufwachte, standen die leuchtenden Zeiger seiner Uhr auf viertel nach vier. Er hatte sich schon daran gewöhnt, zuerst nach der Tür zu sehen und festzustellen, ob sie noch geschlossen wäre. Sie war zu und er legte sich auf die andere Seite. Er schob sein Kissen unter dem Kopf zusammen, um es sich bequemer zu machen. Mit einem Fluch erhob er sich, um seine Schlüsselkette wieder aufzuheben, die auf den Boden gefallen war.

Er konnte nicht wieder einschlafen, lag wach und dachte nach. Aber seine Gedanken waren nicht angenehm.

Immer wieder dachte er an Valerie Howett! Sie würde in diesem Augenblick schlafen und selbst in ihren Träumen würde ihr kein Gedanke an die Gefahr kommen, die sie bedrohte.

Aber er irrte sich. Auch Valerie schlief nicht.

Jeder Frau kommt irgendwann einmal die Erkenntnis, daß ihr Leben, das bis dahin frei und fessellos war, von der Sehnsucht und Liebe zu einem andern Menschen erfüllt wird. Dieses Wissen ist süß, aber verwirrend, und die Verwirrung wächst, wenn die beiden sich noch nicht ausgesprochen haben und die Beziehungen zu dem andern noch ungewiß sind.

Valerie Howett hatte mit Jim Featherstone nie über Liebe und Ehe gesprochen, aber sie fühlte sich schon so an ihn gebunden, daß sie die Werbung eines andern Mannes abgelehnt hätte, weil sie sich schon als verlobt betrachtete.

Sie wußte nicht einmal, ob er frei war und ob er sie heiraten könnte. Sie dachte darüber nach und vergegenwärtigte sich noch einmal alle näheren Umstände, unter denen sie Featherstone kennengelernt hatte. Aber dann kam ihr der Gedanke, daß aller Wahrscheinlichkeit nach Jim Featherstone sich für sie nur als für einen besonderen Fall interessierte. Ihr Vater hatte ihn ja gebeten, ihr sein berufliches Interesse zuzuwenden und es ging wohl auch nicht darüber hinaus trotz des merkwürdigen Zitterns in seiner Stimme, als er sich gestern abend von ihr am Tor verabschiedet hatte.

Es schien ihr endlos lange, seit sie ihn gesehen hatte, trotzdem es in Wirklichkeit nur einige Stunden waren. Und weil sie sich so sehr nach einem Wiedersehen mit ihm sehnte, machte sie sich selbst Vorwürfe und zerriß den Brief, den sie an ihn geschrieben hatte. Sie war auch noch aus einem anderen Grund mit dem Schreiben unzufrieden – ihre Briefe an Jim Featherstone wurden immer zu lang. Sie schrieb bereits auf der zehnten Seite und hatte noch nicht die Hälfte von dem gesagt, was sie ihm mitteilen wollte. Er konnte doch überhaupt nicht an all ihren Gedanken interessiert sein, sagte sie zu sich selbst und betrachtete nachdenklich den zerrissenen Brief, der jetzt im Papierkorb lag. Und doch fing sie wieder an zu schreiben. Aber dann stand sie mit einem festen Entschluß auf, drehte das Licht aus und ging in ihr Schlafzimmer. Mr. Howett war früher zur Ruhe gegangen als gewöhnlich. Sie gab einem Diener den Auftrag, alle Türen zu schließen und legte sich zur Ruhe. Sie fühlte sich unglücklich über ihre eigene Inkonsequenz. Ihre eifrigen Nachforschungen nach Elaine Held hatten plötzlich ihre Eile verloren, und sie wußte selbst nicht warum.

Ihr Schlafzimmer lag nach der Straße zu, und sie konnte von hier aus den vorderen Garten übersehen. Jenseits der Hecke lief die Landstraße. Der Detektiv, der bis jetzt das Haus bewacht hatte, war zurückgezogen worden. Aber als sie nun aus dem Fenster schaute, beobachtete sie einen Mann, der mitten in der Straße auf und ab ging. Sie sah das glühende Ende seiner Zigarre und mußte innerlich lachen. Sie wußte, daß es Spike Holland war, der es ja übernommen hatte, sie zu behüten. Dieser Gedanke an Jims Fürsorge tat ihr wohl.

Gewöhnlich schlief sie fest und tief, aber heute dauerte es etwas über eine Stunde, bis sie in einen ruhigen Schlaf fiel. Zweimal erwachte sie und stand dann schließlich wieder auf. Sie fühlte sich hungrig und wollte sich etwas Milch anwärmen. Vom Fenster aus schaute sie wieder auf die verlassene Straße hinaus. Spike war nicht mehr zu sehen. Sie hoffte, daß er nach Hause gegangen sei und sich zu Bett gelegt habe. Schnell schlüpfte sie in ihren Morgenrock, zog die Pantoffeln an und entzündete eine Kerze. Als sie die Tür ihres Zimmers öffnete, hörte sie etwas und löschte sofort das Licht wieder. Es waren Stimmen, die leise miteinander tuschelten.

Ihr Herz schlug unruhig, als sie zu dem Geländer schlich und nach unten in die Halle spähte. Sie konnte nichts sehen, nur die Stimmen und ein leises, verhaltenes Weinen waren deutlich zu hören. Sie faßte sich an die Stirn – nein, sie träumte nicht. Sollte sie ihren Vater wecken? Sie hob schon die Hand, um an seine Tür zu klopfen, aber dann zögerte sie wieder.

Wieder vernahm sie die flüsternden Stimmen – und das unterdrückte Weinen aus dem unteren Geschoß. Es konnte doch nicht eins der Dienstmädchen sein? Wenn jemand krank geworden wäre, hätte man sie doch sicher geweckt.

Sie öffnete leise die Tür zu dem Schlafzimmer ihres Vaters und ging hinein. Mit der Hand tastete sie nach dem Bett, um ihn zu wecken – aber sein Bett war leer! – Sie konnte nicht daran glauben, es mußte eine Sinnestäuschung sein. Sie entzündete mit zitternden Fingern ein Streichholz und steckte die Kerze wieder an, aber das Bett war tatsächlich unberührt. Der Schlafanzug lag noch sorgsam gefaltet auf den Kissen.

Zuerst war sie starr vor Schrecken, aber dann beruhigte sie sich. Es mußte also Mr. Howett sein, den sie unten hatte sprechen hören. Wahrscheinlich war eins der Dienstmädchen zu ihm gekommen.

Sie ging mit dem Leuchter zur Treppe, aber bei dem ersten Geräusch, das ihr Fuß auf den Stufen machte, hörte das Flüstern und Weinen unten auf. Sie ging direkt zur Tür des Wohnzimmers und wollte sie öffnen, aber sie war verschlossen.

»Wer ist dort?« fragte sie schnell und atemlos.

»Ich bin es, Valerie.«

»Was gibt es denn, Vater?« fragte sie mit einem dankbaren Seufzer.

»Ich spreche mit einem Freund. Später komme ich zu dir,« war die zögernde Antwort.

»Aber mit wem sprichst du denn?« fragte sie überrascht.

»Bitte geh zu Bett, mein liebes Kind.« Mr. Howetts Stimme war dringend. »Ich möchte nicht, daß die Dienerschaft geweckt wird.«

Widerstrebend wandte sie sich um und ging zu ihrem Zimmer zurück. Wer mochte der Freund sein, der zu dieser frühen Morgenstunde ihren Vater aufsuchte? Und dann war die andere Frage: Warum hatte sich ihr Vater überhaupt nicht zur Ruhe gelegt? Das sah ihm doch gar nicht ähnlich. Er war ein Mann, der nach einer genauen Zeiteinteilung lebte und nichts Ungewöhnliches tat, so lange sie sich besinnen konnte. Sie wußte, daß er Heimlichkeiten haßte, und deshalb wurde ihr die ganze Sache noch unerklärlicher. Trotzdem war sie froh, daß er es war. Aber wer mochte der andere sein?

Sie saß auf der Kante ihres Bettes. Ihre Schlafzimmertür stand offen und sie lauschte. Plötzlich hörte sie, daß die Wohnzimmertür aufgeschlossen wurde und jemand auf den Flur trat. Dann öffnete sich die Haustür. Die Neugier übermannte Valerie, und sie schlich sich leise zu der Treppe. Glücklicherweise hielt sie sich am Geländer fest, sonst wäre sie umgesunken. Denn mitten in der Halle, nur schwach beleuchtet von dem Schein, der durch die offene Tür hereinfiel, stand der Grüne Bogenschütze!


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