Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Ein fetter, gedunsener Mann mit bartlosem Eunuchengesicht und lodernden Augen, die tief in dicken Wülsten lagen. Sechziger. Trotzdem er schwerfällig aussah wie ein Nilpferd, war er von akrobatenhafter Beweglichkeit. Dies wirkte unheimlich, als spotte er der eigenen Natur. Alles an ihm schien darauf berechnet, einen gewünschten Eindruck hervorzurufen, zu überraschen, zu blenden, zu imponieren. Sogar die Stimme hatte etwas Verblüffendes, da nicht zu erwarten war, daß aus einem so verfetteten Körper ein so hell krähendes Organ dringen würde. Er hatte durchaus den Habitus des Flüchtlings, typische Krankenfigur im Nachkriegseuropa, schien sich aber in der Rolle des Märtyrers zu gefallen. Aber aus diesen ersten Wahrnehmungen wollte Kerkhoven noch keine Schlüsse ziehen.

Die Tochter war eine hagere, verblühte, verbittert aussehende Person, Doktorin der Philosophie. Offensichtlich trieb sie eine Art Abgötterei mit dem Vater. Er war wohl der einzige Mensch auf Erden, an den sie glaubte. Sie hielt ihn für einen nationalen Heros und Wahrheitsapostel, Opfer seiner Sendung und Überzeugung. Sie war in Sorge um ihn. In den letzten Tagen, so berichtete sie Kerkhoven, hatten sich Anzeichen von Verfolgungswahn bemerklich gemacht. Er litt an Schlaflosigkeit. Tag und Nacht schrieb er an alle möglichen Leute endlose Briefe zu seiner Rechtfertigung. In jedem Zimmer, in dem er weilte, sperrte er die Türen ab und saß da, horchend, zitternd, von kaltem Schweiß überströmt. Schon vor dem Attentat war er schwer irritiert gewesen, jahrelang. Nachher hatte er sich drei Wochen in der Klinik aufgehalten und nach der Entlassung hatte sich sein Zustand wieder verschlimmert. Die Ärzte hatten ihr geraten, mit ihm so schnell wie möglich in den Süden zu reisen.

Sie befanden sich im Sprechzimmer. Es war Abend, vom See herüber klang das Tuten eines Dampfers. Agnes Mordann saß mit übereinandergeschlagenen Beinen und rauchte ununterbrochen Zigaretten. »Hatte der Anschlag ein bestimmtes Motiv oder war er nur allgemein politischer Natur?« erkundigte sich Kerkhoven. – Das Fräulein zögerte mit der Antwort. »Ist es nötig, darüber zu sprechen?« fragte sie finster. – »Ich muß es wissen.« – »Zwei Tage vorher, nachts um drei, fand ein Einbruch in unserer Villa statt. Am Schreibtisch des Vaters wurden alle Laden und Fächer aufgesprengt, die ganze Bibliothek durchwühlt. Die Diebe fanden aber nicht, was sie suchten.« – »Und was suchten sie?« – »Briefe.« – »Was für Briefe?« – »Familienbriefe.« – »Darf ich Sie bitten, etwas deutlicher zu sein? Ich frage ja nicht aus Neugier.« – »Es handelt sich um die Briefe, die der verstorbene Graf Brederode an seine Mätresse geschrieben hat.« – »Und wie ist Herr Mordann in ihren Besitz gelangt?« – »Man hat sie ihm zum Kauf angeboten.« – »Kompromittierenden Inhalts also?« – »J...a.« – »Politisch kompromittierend?« – »Auch.« – »Darf ich erfahren, in welcher Hinsicht?« – »Ich weiß nicht, ob ich dazu befugt bin.« – »Je besser Sie mich informieren können, je leichter wird meine Aufgabe.« – »Der alte Graf war in die Separatistenverschwörung verwickelt. Die Unterzeichnung des Versailler Vertrags hatte ihn zum glühenden Feind des herrschenden Regimes gemacht. Er verhandelte auch mit Frankreich. Es ist einer der vielen Fälle, wo ein Mann aus Vaterlandsliebe zum Hochverräter wird. Das ganze Trachten des jungen Grafen ging darauf aus, die Briefe wiederzubekommen.« – »Und aus welchem Grund konnte das nicht geschehen? Sie verzeihen, aber das sind Dinge, die die Gemütshaltung des Patienten beleuchten.« – Nicht ohne Schärfe erwiderte Agnes Mordann: »Es gehört zu den Prinzipien meines Vaters, nichts aus der Hand zu geben, nicht den kleinsten Fetzen Papier, der ihm als Material dienen kann.« – »Material wofür? was nennen Sie Material?« – »Dasselbe was für einen Anwalt und einen Richter die Akten sind. Martin Mordann ist der Anwalt und der Richter der Zeit. Er braucht Zeugen und Zeugnisse.« – »Das bedingt allerdings eine ungeheure Aufhäufung von... von Material...« – »Gewiß.« – »Diese Akten umfassen also den ganzen Kreis seines Wirkens, das heißt alle Persönlichkeiten, die im öffentlichen Leben stehen oder standen?« – »Ja.« – »Wie läßt sich das praktisch realisieren?« – Das Fräulein lächelte nachsichtig. »Haben Sie nie von dem berühmten Zettelkasten meines Vaters gehört? Er enthält mehr als achtzehntausend Namen mit chiffrierten Angaben.« – Kerkhoven erhob sich und schritt hastig auf und ab. Er war auf einmal merkwürdig angeregt. »Zettelkasten, aha,« sagte er vor sich hin, »höchst interessant. Eine gefährliche Sache, wenn man bedenkt...« – »Es ist alles in sicherem Gewahrsam,« unterbrach ihn Agnes Mordann hochmütig. – »Sie mißverstehen mich. Das meine ich nicht. Ich meine, ein solcher Apparat bildet auf die Dauer eine erdrückende Bewußtseinsbelastung. Oder sagen wir lieber Phantasiebelastung. Es ist wie wenn ein Mensch jahrelang Kisten voll Sprengstoff in seinem Haus aufbewahrt. Er muß jeden Augenblick das Gefühl haben, daß er im nächsten zum Mörder einer ganzen Stadt werden kann. Offenbar liegt hier der Schlüssel. Offenbar. Sehr interessant...« – Das Fräulein verfolgte ihn bei seinem Auf- und Abgehen mit erstaunten Augen. Sie begriff kein Wort von dem, was er sagte. – »Gut, man wird sehen,« beendigte er die Unterhaltung; »zunächst müssen wir für zwei, drei Nächte ruhigen Schlaf sorgen. Dann... man wird sehen...«


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