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Joseph Conrads »Schattenlinie«

Eine Vorrede

Wenn ein unbefangener Leser die ersten fünfzig Seiten der »Schattenlinie« hinter sich hat, denkt er vielleicht: aha, eine Seegeschichte, ungefähr Kapitän Marryat, modifiziert und verfeinert durch Einflüsse von Stevenson. Zugleich wird er aber, so stelle ich mir vor, eine gewisse Dürre empfinden, eine eigentümliche Trockenheit und Strenge, wenn er literarisch beschlagen ist, wird er im weiteren Verlauf Erinnerungen an Edgar Poe nicht ganz abweisen können, schließlich jedoch wird es sich finden, daß er ganz allein dem Dichter Joseph Conrad gegenübersteht, von ihm geführt, von ihm gepackt wird und keine andere Wahl hat, als sich seiner Machtgewalt zu überliefern. Denn etwa auf der hundertsten Seite, nachdem er sich nicht ohne Mühe in ein vollkommen fremdes Milieu eingelebt hat, mit einer Menge von see- und schiffstechnischen Wendungen, Begriffen und Ausdrücken halbwegs fertig geworden ist, passiert es ihm, daß er in einer von Dichters Gnaden geschaffenen Welt steht, ohne zunächst recht zu begreifen, wie diese Welt entstanden ist und was für ein lockender Zauber davon ausgeht. Zauber, das ist wohl das rechte Wort, Zauber und Zauberei geht da vor; die Materie entschwindet und wird ganz und gar zu Geist; die Realität wird aufgehoben, und an ihre Stelle tritt die Vision, und das geschieht ohne Überredung, ohne Kniffe, ohne Hokuspokus, auf die natürlichste einfachste Art, die wahrscheinlich deswegen so unbegreiflich und undefinierbar ist.

Ich kenne in der ganzen Literatur nur wenig Werke, in denen die dargestellte Wirklichkeit so restlos zum Symbol geworden ist, wie in der »Schattenlinie«. Ich glaube nicht zu weit zu gehen, wenn ich sage, daß das Buch in dieser Beziehung ein Phänomen ist. Ein bestimmtes Gesetz ist da nicht zu entdecken, ein bestimmter Kunstgriff, sogar Kunstgedanke, noch weniger. Es ist vielleicht nicht einmal eine bewußte Eingebung oder ein auf ein Ziel gerichteter Wille, der da waltet, es ist wohl das Erlebnis selbst, ich möchte sagen, das Erlebnis an sich, in seinem ganzen Umfang und in seiner ganzen Tiefe. Das Meer als Erlebnis, und dieses Erlebnis so gültig geformt, so in die Idee eingewölbt und in die Gestalt verwandelt, daß es ohne äußeren Aufwand nur durch seinen Reichtum, seine Kraft und seine Dynamik zum Sinnbild wird: das mag dem kreativen Vorgang zugrunde liegen. Ein junger Schiffsoffizier sagt ohne besonderen Grund, in einem Anfall von krankhaftem Überdruß vielleicht, den Dienst auf, beschließt, in die Heimat zu reisen, treibt sich eine Weile untätig in einem tropischen Hafen herum, gerät in die etwas angefaulte, sumpfhaft schillernde Gesellschaft abgedankter stellenloser Seeleute, erlahmt in seinen bisherigen Entschlüssen, kommt durch die eigentümlich giftige Beschaffenheit der Atmosphäre und der Menschen in Gefahr, die innere Freiheit, ja sein Selbst zu verlieren, wird plötzlich zum Befehlshaber eines in einem andern Hafen liegenden Schiffes ernannt, reist dorthin, voll frischen jubelnden Aufschwungs, die Epoche in seinem Dasein seelisch spürend und geistig erkennend, übernimmt den Posten als Nachfolger eines Kapitäns, der im Wahnsinn zugrunde gegangen ist (und dessen Leiche zum gespenstischen Motiv wird), und muß nun sein Schiff durch ein Meer steuern, über dem eine wochenlang dauernde Windstille brütet, dessen Luft mit den Keimen tödlicher Epidemien erfüllt ist, so daß er und die gesamte Mannschaft im wörtlichen Sinn beständig am Rande des Todes hängen, bis er nach unsäglichen Schwierigkeiten und pittoresken, zum Teil geisterhaften, sehr im Irrationalen sich bewegenden Erlebnissen mit seinen total erschöpften, halb sterbenden Gefährten wieder in jenem ersten Hafen Anker wirft, bereichert um eine Erfahrung, die die entscheidende Grenze bildet zwischen der Helligkeit und Leichtigkeit der Jugend und der Verantwortlichkeit und dem Wissen des Mannes. Das ist eigentlich alles. Es scheint kaum für eine Erzählung von zwölf Seiten zu reichen und ist ein Roman von zwölf Bogen geworden, schmal allerdings, von klassischer Schlankheit, mehr aufstrebend als sich verbreitend, mehr gotisch, wenn man so will, als barock.

Die englischen Kenner bezeichnen Conrad als den ersten Stilisten der Epoche (etwa zwischen 1895 und 1915). Conrad ist ein in England eingewanderter Pole; soviel ich weiß, hat er als vierzehnjähriger Knabe sein Vaterland verlassen, um in einem fremden Geistes- und Seelenbezirk eine zweite, höhere, destinative Heimat zu suchen und zu finden. Eine so gründliche Vertauschung von östlicher Welt gegen westliche, slawischer gegen keltisch-germanische, mit Einbeziehung des gesamten Sprach- und Schicksalskomplexes, richtige Verpflanzung also, dürfte ziemlich selten sein, im Bereich der Kunst weiß ich kein anderes Beispiel dafür. Der entgegengesetzte Prozeß hat mehrmals stattgefunden. Chamisso ist ein Fall, Houston Stewart Chamberlain ein anderer, aber daß ein Slawe mit seinem ganzen Wesen bis in die metaphysischen Tiefen hinab, bis in die Finessen von Haltung, Gebärde, Ausdruck zum Westler wird, zum Engländer, zum mustergültigen Prosaisten seiner Zeit und seines Landes, dieser Vorgang dürfte ausnahmshaft sein. Er hat sicherlich auch etwas Unheimliches, und der Psycholog ist mehr als sonst versucht, Zusammenhänge aufzudecken und Bindungen wiederherzustellen, die sich dem oberflächlichen Blick um so mehr entziehen, als bei diesem Autor das äußere Kleid zum undurchdringlichen Panzer wird. Seine Formgebung und seine stilistische Geste sind außerordentlich englisch. Wenn ich mir die Züge seines innern Gesichts vergegenwärtige, sehe ich es verschlossen, abweisend, kühl, mit verdeckten Lidern, ich möchte sagen, den Traum verleugnend und die Vision negierend. Man hat bei der Lektüre manchmal das Gefühl, als stehe über den Seiten ein unsichtbarer Spruch: Laß dich nicht gehen. Es scheint der Ehrgeiz dieses Dichters zu sein, sich in keiner Beziehung »in die Karten« blicken zu lassen, er liebt nicht die zu große Nähe seines Lesers, er hält sich ihn vorsichtig vom Leibe, einmal um Spielraum zu haben, um bei seinen Zaubereien nicht geniert zu sein, und hauptsächlich, weil er ein von Grund auf einsamer Mann ist. In der Tat ist der Eindruck der Einsamkeit des Erzählers, wenn man vier oder fünf Bücher Joseph Conrads gelesen hat, der stärkste; so stark, daß man sich fragt: wie erträgt er es, in seiner Welt zu leben, und wie erträgt er es, sie so zu sehen. Der Versuch, Zusammenhänge herzustellen, von dem ich sprach, die Wurzel aufzugraben, enthält immer die Gefahr der Ideenkonstruktion. Man bildet sich dann ein, zu spüren, sogar wahrzunehmen, was man bloß weiß. Indessen gibt es Momente und Impressionen, wo man sich der Erinnerung an Gogol, an Dostojewski nicht erwehren kann, obwohl ich zugebe, daß wesentliche Anklänge kaum nachweisbar sein dürften, nur in einer gewissen Ähnlichkeit der Färbung bestehen, oder bisweilen in einer verwandten, wie durch geisterhafte Übertragung bewirkten Melodienbildung. Ich unterhielt mich mit einem jungen Freund darüber; er sagte treffend: »Der Unterschied, der am meisten ins Gewicht fällt, ist wohl der, daß Dostojewski düster ist, Conrad jedoch finster.« Wo aber gibt es sonst einen englischen Erzähler, den man als finster bezeichnen kann? Das liegt gar nicht im nationalen Charakter. Im »Geheimagenten« gibt es Situationen von solcher Finsterkeit, solcher Gewalt der Zeichnung dabei, daß man an Daumiersche Blätter denken muß, z. B. wie Herr Verloc nachts mit dem Küchenmesser in der Brust tot in seinem Laden liegt, bei schwelender Lampe, und sein steifer Melonenhut im Blut unter dem Tisch schwimmt. Unvergeßlich, wie gewisse Londoner Lokalitäten gesehen sind, Gassen im Nebel bei Gaslaternenlicht, eine Polizeistube, eine zweifelhafte Spelunke. Es ist lehrreich, die Schilderung solcher Örtlichkeiten etwa bei Dickens zu vergleichen, der darin ja so unerschöpflich wie Magistrat ist. Aber bei Dickens »steht« alles, bei Conrad »fließt« es. Dickens wägt das Detail sozusagen erst in der Hand, bevor er es hinsetzt, bei Conrad bemerkt man es kaum, weil es unlösbar in der Vision drin steckt, Dickens ist richtig verliebt in ein Milieu, in die Scheußlichkeit eines Diebskellers, in die Baracke eines Wucherers, Conrad ist davon in innerster Seele gequält, und er verhüllt gleichsam seine Augen, während er es zeigt. Das sind fundamentale Verschiedenheiten der »Weltanschauung«. Ich habe mir die Frage gestellt: Worin besteht nun Conrads Metamorphose zum Engländer, vielmehr: worin verrät sich seine slawische Herkunft? Es muß doch zu ergründen sein, spurlos kann doch einer seinen Weg nicht verwischen, vollkommen seinen Mutterboden nicht vergessen machen. Indem er in so jungen Jahren den Seemannsberuf ergriff, hat er ohne Zweifel die Anpassung in der unwiderruflichsten und für seine Wahlheimat zentralsten Form vollzogen; das ganze Weltmeer: englischer Boden, jedes englische Schiff eine englische Stadt. Dabei ist die Welt des Seemanns eine eigentümlich losgelöste und freischwebende, immer zwischen der Strenge und Präzision sachlicher Aufgabe und dem Mythos der Sendung. Das drückt sich unverkennbar in Joseph Conrads Stil aus, die Strenge, fast Härte, die Genauigkeit, die Sachlichkeit, die messende Berechnung, und auf der andern Seite eine schwer zu analysierende Phantastik, ja Symbolistik, wie sie am gesteigertsten und deutlichsten in der »Schattenlinie« hervortritt. Aber als Tieferes noch kommt hier das Element eines ungewöhnlichen Eros hinzu. In dem ganzen Buch geschieht einer weiblichen Figur nicht einmal Erwähnung. Diese Ausscheidung, so sehr sie im Plan und in der Beschaffenheit des Werkes ihre natürliche Berechtigung hat, hängt doch mit seiner übersinnlichen Idee zusammen, indem nämlich das Schiff selbst zum erotischen Wesen wird und die Handlung, die Personen, das Meer, die Windstille, die todbringende Atmosphäre in einen höchst seltsamen erotischen Bezug zu ihm gebracht sind. Ich weiß nicht, ob das künstlerische Absicht war, es läßt sich aus dem Gefüge nicht entnehmen, der Autor äußert sich niemals darüber, es scheint ihm gleichgültig zu sein, jedenfalls ist es so und wirkt es so. Deshalb glaubte ich sagen zu dürfen, daß in dem Roman eine schier beispiellose Verschmelzung von Symbol und Realität statthat. Das Hilfsmittel, wodurch sie zum Teil erreicht wird, besteht in einer kühnen Verschiebung: die Materie wird durch und durch beseelt, die Lebewesen sind daneben und darin nur wie von ihr regierte Organe, der menschliche Wille schrumpft in nichts zusammen, menschliche Leidenschaft ist wie die Verteidigungsfärbung eines Tiefseetiers, der Gedanke des Lebens zersetzt sich und verdunstet, der Tod wird greifbare Wirklichkeit und Gestalt, Woge und Wind, Himmel und Stern sind das absolut Herrschende, ob man es liebt oder haßt, es begreift oder fürchtet, hat nichts zu bedeuten, nur daß es und wie es seine schicksalserzeugende Macht erweist.

Das ist antik. Es ist aber zugleich im höchsten Grade modern, ja ein Zukunftssignal. Die Entgötterung, die es voraussetzt, ist letztlich nur eine scheinbare. Der Mensch wird recht klein unter seinen Maschinen, Retorten und Apparaten, recht unbeträchtlich, das ist wahr, aber eben daraus erwächst ihm vielleicht neues Bild und neue Welt, Begriff einer neuen Lebenssituation. Es tritt damit ein Eros in Bewegung und Erscheinung, der schließlich auch die Maschine und die Retorte in sich begreift, in diesem Fall Segel und Kompaß, Steuerrad und Rudergeschirr. An einigen, freilich seltenen Stellen schlägt dieser erotische Strom in die Diktion hinüber: »Ich sagte, wir haben noch nie soviel Wind gehabt, seit wir die Reede verließen. – Es ist auch Herz darin, brummte er (der Steuermann) weise; es war die Bemerkung eines Seemanns, der vollkommen bei gesundem Verstand ist.« Das Auge, das hier schaut, besitzt die untrügliche Schärfe einer Zeißlinse, und die seelische Registratur, wenn ich mich so ausdrücken darf, ist von der unerschütterlichen Nüchternheit, wie sie nur den großen Historikern und den großen Kriminalisten eigen ist. Der große Schriftsteller braucht die Nüchternheit als Maske. Je mehr Welt und Weltgeschehen er in seinen Ring legt, je entschlossener und ungerührter muß er sie zusammenfassen. Die Anglisierung des Slawen hat wahrscheinlich bewirkt, daß er diese geistig-formale Verpflichtung unter dem Gesetz der Polarität bis zur Askese emportreiben mußte, woraus wieder einmal erhellt, wie sehr Sittliches und Handwerkliches, Kunst und Schicksal ineinander verwoben sind. Conrad gehört zu den rein darstellenden Dichtern, er ist ohne ethische Tendenz, er verschmäht moralische Nutzanweisungen, seine Bücher sagen nichts aus, es sei denn durch Bild und Figur, sie haben keine ideelle Zielsetzung, sie sind zwecklos, wie von der Natur gemacht, tragen aber, zumal die »Schattenlinie«, den Stempel der hinter ihnen stehenden Persönlichkeit so markant und unverwechselbar, daß man ihre Lust noch atmet, in ihrem Rhythmus noch schwingt, auch wenn ihr Inhalt, Fabel und Szene, längst in der Erinnerung verblaßt ist. Es ist nicht ohne weiteres zu erklären, wie es kommt, daß ein Schriftsteller von Conrads Sprödigkeit und schwer zugänglicher Dunkelheit nicht nur eine ständig sich vergrößernde Gemeinde von Anhängern und Bewunderern hat, sondern daß auch der Einfluß, den er übt, noch jetzt, Jahre nach seinem Tod, im Wachsen begriffen ist. Das bestätigt ihn eigentlich über alle Kritik und die Schätzung der Kenner hinaus. Es muß sehr viel Magisches um einen Dichter sein, wenn er nicht nur die Phantasie der Zeitgenossen, sondern auch den Geist der Nachgeborenen beschäftigt. Vielleicht handelt es sich dabei um ein Geheimnis, das nicht im einzelnen Werk, auch nicht in der Gesamtheit des Geschaffenen, das im Menschen, im unsterblichen Teil eines besonderen Menschenwesens ruht. Dadurch erst, will mir scheinen, spricht solch ein Genius mit unüberhörbarer Stimme zur lebendigen Welt, und demgegenüber sind selbst seine gewaltigsten Werke nur ein hilfloses Schweigen.


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