Jakob Wassermann
Der Fall Maurizius
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5

Nicht bloß, daß ihn seine Tischfreunde um mancherlei Besorgungen baten, zum Beispiel er solle beim Nachhausegehen den Umweg über den Linienkeller machen und einem dort wartenden Herrn, der so und so aussehe, dies und das ausrichten, oder er möge dem Fräulein Else Grünau, Gollnowstraße 27, sagen, Heinrich Balle könne sie am Abend nicht abholen, oder er solle in den Sportpalast hinaus (da habe er gleich das Geld für die Untergrundbahn), sich den Rennfahrer Paul rufen lassen und ihm mitteilen, wenn er bis vier Uhr nachmittags nicht das Bewußte abliefere, kriege er's mit Christoph Jansen zu tun, und anderes mehr; auch Frau Bobike selbst betraute ihn mit gelegentlichen Botengängen: einen säumigen Zahler zu mahnen, einen Lebensmittellieferanten, dem sie ihrerseits Geld schuldete, zu vertrösten, einer jungen Dame, der sie vor zwei Jahren ein Grammophon auf Raten überlassen hatte und die momentan im Krankenhaus lag, zu bedeuten, daß das Instrument wegen Nichteinhaltung der Bedingungen, es waren noch zwei Raten fällig, zurückzugeben sei, ein Korsett zum Ausbessern mitzunehmen, eine Flasche Benzin aus der Drogerie zu besorgen, aufs Meldeamt zu gehen und eine Adresse zu erfragen, am Schönhauser Tor sich nach einem Predigtamtskandidaten Klapprot zu erkundigen und anderes mehr. Er tat es willig. Seine Heiterkeit blieb immer die gleiche. Er ging und ging, wohin man ihn auch schickte. Selten benutzte er ein Verkehrsvehikel, erstens wollte er sparen, zweitens fesselte ihn das Unterwegs. Er kam von belebten Vierteln, wo unzählige Menschen kalt, böse und eilig aneinander vorüberstießen, in die öden, wo Gasanstalten, Laubenkolonien, Gefängnisse, Spitäler, Fabrikschlote und Kirchhöfe den Eindruck machten, als befinde man sich in einer gigantischen Folterkammer mit gigantischen Folterwerkzeugen und daneben seien schon die Verliese und die Gräber. Er stand in Stuben, wo die Nässe von den Mauern rann, in Kellerwohnungen, wo am Abend Kerzen in Flaschenhälsen steckten und immer jemand fieberkrank auf einem mit Lumpen bedeckten Sofa lag. Er sah Kinder mit Runzeln im Gesicht, die vielleicht noch nie einen Baum, eine Wiese erblickt hatten, und wenn er mit einem von ihnen redete, war's, als mokiere er sich über sich selbst, weil er nicht ebenso verhungert und verwahrlost war. Einmal mußte er sich vor dem Hause der Heilsarmee durch eine Schar von Arbeits- und Obdachlosen drängen, und er ging durch die schauerlich stille Versammlung mit einer Miene, so arglos, als bewege er sich unter seinen Kameraden auf dem Spielplatz. Das erwähnte Fräulein Else Grünau fand Gefallen an ihm, und es bedurfte seiner ganzen List und treuherzigen Schwatzhaftigkeit, um aus der Schlinge zu schlüpfen. Es hatte alles nichts auf sich, es war nicht des Hinschauens wert, solang jede Stunde für den Mann im Zuchthaus eine mehr war. Unerbittlich wie die Uhr. Der Gedanke bewirkte, daß die Stunden zu steinernen Rädern wurden, unter deren Knirschen alles Leben der Erde seufzend verhauchte.

Er stand täglich um sieben auf, verließ um acht das Haus und kehrte am Abend zurück, um sechs oder um sieben, bisweilen noch später. Er mußte ja die Fiktion von seiner Sekretärstellung aufrechterhalten. Man fragte natürlich, bei wem er in Dienst sei. Bei einem Schriftsteller im Westend, Kastanienallee, sagte er und nannte einen erfundenen Namen. Es war unvorsichtig, Melitta Schneevogt hatte den Schneevogtschen Einfall, im Adreßbuch nachzusehen, und fragte ihn anderntags höhnisch, wie es seinem Chef gehe. Er begriff; nur nicht rot werden, dachte er, wurde auch nicht rot und entgegnete frech, der Name sei ein Pseudonym. »Sind Sie am Ende politisch? Spitzel vielleicht?« inquirierte ihn das Mädchen finster. »Wenn ja, dann machen Sie sich dünne, eh wir Schweinereien mit der Polizei kriegen.« Nein, er sei nicht politisch, sagte er mit entwaffnendem Lächeln und entfernte sich aus dem Gesichtsfeld der unerfreulichen jungen Dame. Was tat er aber mit all der Zeit vom Morgen bis zur Speisestunde bei Frau Bobike und von eins oder halb zwei bis zum Abend? denn die übernommenen Aufträge waren immer bald erledigt. Nun, er ging und ging. Von den zwei Paar Schuhen, die er mithatte, waren nach einer Woche bei einem die Sohlen durchgelaufen, beim andern die Absätze schiefgetreten, man mußte sie reparieren lassen. Übler waren die Füße zugerichtet, die so unermüdlich drin marschierten, wund und voller Blasen, erst allmählich härteten sie sich und vernarbten. Da er vor Mitternacht nicht ins Bett kroch und dann noch in aussichtslosem Kampf gegen die Wanzen lag, hätte bei seiner zarten Konstitution diese Lebensweise seine Gesundheit schädigen müssen, wäre er nicht gespannt gewesen wie eine aufgezogene Feder. Er ging und ging, sinnierte, erwog, sammelte sich, schaute und ging. War er müde, so setzte er sich auf eine Bank vor der Charité oder im Humboldthain oder bei Regenwetter in einem der vielen Bahnhöfe. Manchmal zog er seine griechischen und Lateinhefte aus der Tasche und lernte, manchmal sagte er Gedichte vor sich hin, die er auswendig kannte, Verse von Rilke und George, manchmal las er in einem Band Melchior Ghisels. Aber es hatte was Quälendes plötzlich, daß das nun kein körperloser Geist mehr war, daß ein erreichbarer Mensch dahinterstand, den er, wenn er nur den Entschluß faßte, noch heute sehen, vielleicht sogar sprechen konnte. Aber er dachte an den Besuch bei Ghisels, wie der Gottgläubige an eine Wallfahrt denkt, sich »entschließen«, das war schon zu klein, das mußte sein wie willenloser Flug, wie hingeschwemmt von einem Element – nur so verlosch die Furcht davor, dies Lampenfieber der Liebe; das Auge eines solchen Mannes war ja das Auge des Himmels selbst.

Unter Frau Bobikes Kostgängern befand sich auch ein verkrachter Student namens Schirmer. Er war eine Zeitlang Hilfslehrer an einer freien Schule gewesen, dort hatte man ihn wegen einer Skandalgeschichte davongejagt, nun suchte er Brot und Unterkommen. Er war am selben Tag wie Etzel Speisegast des Hauses geworden und saß mit ihm am selben Tisch, ein blonder, untersetzter, ziemlich versoffen und nicht sehr intelligent aussehender Mensch mit braunen Bartstoppeln im Gesicht, die wie Unreinlichkeit wirkten. Er war Feuer und Flamme für den »kleinen Mohl«, wie sie ihn alle nannten, und wenn Etzel eine seiner trockenen Bemerkungen machte, sich über Weltzustände verbreitete, eine seiner Possen vollführte, zum Exempel einen schlecht aufgelegten Omnibusschaffner, einen stotternden Zeitungsausrufer nachahmte, stieß Schirmer ein wieherndes Gelächter aus, schlug mit der Faust zehnmal dröhnend auf den Tisch und schaute sich, gleichsam Applaus einsammelnd, im ganzen Raum triumphierend um. Wenn solch ein Anfall vorüber war, wischte er sich mit einem riesigen blauen Taschentuch die Tränen aus den Augen. Eines Mittags, es war gerade eine Woche verflossen, seit Etzel das Kosthaus frequentierte, brachte Schirmer im Gespräch mit dem Marinefachmann etwas selbstgefällig ein lateinisches Zitat an. Etzel lachte und ergänzte es durch die zweite Zeile des betreffenden Distichons, es war ein Horazisches, was in dem Fall ganz witzig war, freilich nur für ihn und den Studenten verständlich. Schirmer bekam den habituellen Verzückungsausbruch, dann sagte er: »Mohl, mir scheint, Sie haben die Schulbank doch nicht umsonst gedrückt, schad um Ihre Talente.« – »Warum schade?« erwiderte Etzel, »wenn man sie hat, können sie einem doch nicht schaden. Ich kann noch mancherlei«, fügte er mit leidlich gut gespielter Großtuerei hinzu, »ganze Gedichte aus dem Catull kann ich zum Beispiel aufsagen. Wollen Sie mal hören?« – »Achtung, meine Herren«, rief Schirmer und wischte sich mit der Papierserviette den Mund ab, denn man war schon beim letzten Gang, »Achtung, der kleine Mohl wird ein lateinisches Gedicht deklamieren. Also los!« Etzel lächelte seltsam und fing an:

»Quid est Catulle? quid moraris emori?
sella in curuli Struma Nonius sedet,
per consulatum perierat Vatinius,
quid est, Catulle? quid moraris emori?«

Die Zuhörer machten verdutzte Gesichter, es klang ihnen wie Hindostanisch, und hätten sie auch verstehen können, daß hier Catull sich selbst aufforderte zu sterben, weil Vatinius ungestraft Meineide schwören durfte, was hätten sie sich dabei denken sollen? Aber der Knabe fuhr fort, und seine Wangen flammten, als könne er sich, im Sinne des Gedichts, vor Staunen nicht fassen:

»Risi nescio quem modo e corona
qui, cum mirifice Vatiniana
meus crimina Calvus explicasset
admirans ait haec manusque tollens:
di magni, salaputium desertum . . .

ihr Unsterblichen, was hat der Knirps für ein Maulwerk!« übersetzte er gleich die letzte Zeile, und da grinsten sie ihm alle anerkennend zu, während der alberne Schirmer nicht fertig wurde mit Bravoschreien und lärmendem Händeklatschen. Ach Gott, hätt ich nur jetzt eine Brille! dachte Etzel, und er hatte Ursache dazu: der »Professor« wandte wieder wie neulich das Gesicht zur Seite, nur ein wenig weiter noch, und wie neulich malmte sein erschreckender Unterkiefer. Allein das flüchtige Interesse, das die wunderliche Szene vielleicht in ihm erweckt hatte – für gewiß konnte man es nicht sagen –, schien nur von kurzer Dauer; ein paar Sekunden später hatte er sich wieder in sein Buch versenkt. Und wieder ein wenig später – er hatte seine Mahlzeit beendet und erhob sich vom Stuhl – stand Etzel vor ihm und redete ihn an. Er wolle gern englische Stunden bei ihm nehmen, der Herr Professor sei ihm von vielen Leuten empfohlen worden, er habe die Absicht, im nächsten Jahr auszuwandern, vorher wolle er sich eine gründliche Kenntnis der Sprache aneignen; zu welchem Preis der Herr Professor den Unterricht erteilen würde? Waremme-Warschauer richtete die schwarzen Brillengläser so langsam gegen das Gesicht des Knaben, als suche er mit einem Opernglas erst das Objekt im Blickfeld. »Eine Mark die Stunde«, sagte er mit einer geschnittenen, etwas heiseren Stimme, wieviel Stunden wöchentlich der junge Mann zu haben wünsche? Drei? Vier? Gut; Montag, Mittwoch von vier bis fünf, Sonnabend von vier bis sechs. Der Name? Mohl? M-O-H-L? Gut. Auf Wiedersehen.

Es sieht aus, dachte Etzel geknickt, als hält er sich bis jetzt nicht einen Pfifferling um mich gekümmert.

6

Warschauer bewohnte im dritten Stock desselben Hauses ein einziges Zimmer, allerdings ein so großes, daß es durch eine Schiebetür in zwei Räume geteilt worden war. Hinter der Tür, in einem fensterlosen Alkoven, befand sich das Bett. An den Wänden waren in säulenartigen Stößen zwei- bis dreihundert Bücher geschichtet, meist broschierte Exemplare, und zwar auffallend viele Spezialwerke über jüdisches Altertum, semitische Sprachwissenschaft, hebräische Lexika, Talmudausgaben, Bibelexegesen, Jahresberichte orientalischer Gesellschaften und kabbalistische Schriften. Regale gab es nicht. Da war keine Atmosphäre, die ein »Heim« andeutet; es war ein Magazin von anscheinend nicht zusammengehörigen, zufällig zusammengeratenen Gegenständen. An der Decke und in den Ecken hingen Spinnweben. Die Fensterscheiben waren so lange nicht gewaschen worden, daß sie kaum noch durchsichtig waren. Zierat, Bilder, irgendwelche bequeme Behelfe, außer einem alten zerschlissenen Sofa, schienen dem Bewohner unbekannt. Es war das traurigste, verwahrlosteste, stallähnlichste Quartier, das Etzel je gesehen hatte. Nachdem er sich durch einen stockfinstern Gang durchgetastet, an dem noch fünf oder sechs Parteien hausten, ein Kolporteur, eine Waschfrau, ein Krankenpfleger, ein Photograph mit kinderreicher Familie, hatte er angeklopft, niemand hatte sich gerührt, und er stand dann in der Mitte der öden Stube wie ein Pilz in einem Möbelwagen. Nach einer Weile trat Warschauer aus der Schiebetür und nickte dem neuen Schüler mit einer Freundlichkeit zu, die das lehmig-fahle Gesicht für mehrere Sekunden dem eines grinsenden alten Weibes ähnlich machte.

So wüst und schmutzig seine Umgebung ist, so peinlich sauber ist er an seiner Person. Bisweilen steht er auf, greift nach einer Bürste, die an der Wand hängt und schabt über Rock und Weste. Alle fünfzehn bis zwanzig Minuten verschwindet er durch die Schiebetür, wäscht sich umständlich die Hände, dann begibt er sich wieder, mit dem Altweibergrinsen, auf seinen Platz, legt die fetten weißen Hände, die so kurzgeschnittene Nägel haben, daß sich die Fingerkuppen wie Hütchen darüber wölben, mit prälatenhafter Bedachtsamkeit auf seine Knie und fährt im Unterricht fort. Seine Methode ist einfach und praktisch. Er legt das Hauptgewicht auf Lautgebung und lebendige Mitteilung, die Grammatik exemplifiziert er beiläufig. Er bezeichnet Sichtbares, Hörbares und schreibt einzelne Vokabeln mit Kreide auf eine Tafel, die auf einem Gestell neben dem Tische lehnt. Er merkt nach kurzer Zeit, daß er einen jungen Menschen von humanistischer Bildung vor sich hat, das verdoppelt seine grimassierende Freundlichkeit, an der nur die Epidermis Anteil hat, und da er Fundamente voraussetzen darf, wird sein Verfahren abkürzend. Er weist auf etymologische Wurzeln hin und auf Eigenschaften der Engländer, deren Resultate die Gedrungenheit von Wort und Sprache sind. Das prägt sich ein. Es fallen Bemerkungen wie achtlos hingestreute Kleinmünze eines Millionärs. Aber was er sagt, ist ohne Augen gesagt, ohne Blick; die schwarzen Brillengläser sind wie äußere Bestätigung davon. Ich möcht ihm die Brille herunterreißen, denkt Etzel, es ist ja, wie wenn er einen vexieren wollte. Sein Lerneifer und seine geistige Schnelligkeit setzen Warschauer in ein Erstaunen, das offenbar erheuchelt ist, es macht manchmal sogar den absurden Eindruck, als wolle er die Begeisterungsausbrüche des lächerlichen Schirmer parodieren. Etzel fühlt sich befangen, das jesuitische Getue ärgert ihn, in der zweiten Stunde fragt er, warum ihn der Professor verhöhne, er bilde sich ja auf seine spärlichen Kenntnisse nichts ein. Erschrocken-beschwörende Geste Warschauers, zu deuten: um Gottes willen, junger Mann, was denken Sie von mir, wie käm ich dazu, ich, wer bin denn ich? Aber es ist Komödie. Wie alles andere. Je mehr Etzel sich um ihn bemüht, je mehr nimmt seine scheinheilige Jovialität zu. Er merkt natürlich, daß das kein gewöhnlicher Junge ist, die gute Kinderstube ist unverkennbar, seine Artigkeit und Gefälligkeit verraten geheime Absicht; wo kommt er her? was hat er im Sinn? Doch es ist nicht beunruhigend, wenn einem ein Hündchen um die Beine schnuppert, mag es schnuppern, zu dem Fußtritt, der es verscheucht, ist immer noch Zeit; indessen wirft man ihm ein Stückchen Zucker und hie und da mal einen Knochen hin, mag es schnuppern, mag es nagen. Das ungefähr drückt Waremme-Warschauers Wesen aus, Etzel versteht es gut genug. Trotzdem gelingt es ihm, sich in die Lebensgewohnheiten des Mannes einzuschmeicheln, einzuzwängen; er macht es wie der Parasit, der seinen Wirt zur Domestikation bringt. Die schmarotzerischen Manöver beginnen damit, daß er zehn Minuten, zwanzig Minuten vor der ihm anberaumten Stunde kommt, auch wenn ein anderer Schüler noch beim Unterricht sitzt (allzu viele Schüler hat der »Professor« nicht), und daß er nach der Stunde noch bleibt, auch wenn Warschauer sich an seine Arbeit begibt. (Soviel Etzel ergründen kann, ist er im Auftrag eines Museumsdirektors und unter dessen Namen mit einer Zusammenstellung von Schriften über arabische Bildwerke beschäftigt, für erbärmliches Honorar, denn der Direktor, eine Berühmtheit in seinem Fach, könnte es ja selber tun, wenn er ein wenig mehr Zeit hätte.) Etzel hat sich mit den Büchern zu schaffen gemacht, auf denen millimeterhoher Staub liegt, er reinigt sie, ordnet sie, beschließt, einen Katalog anzufertigen, und fragt erst nicht lang, ob es Warschauer recht sei. Er beobachtet, daß Warschauer, der weder trinkt noch raucht, eine Vorliebe für starken schwarzen Kaffee hat, den er auf einer kleinen Kochmaschine selbst bereitet. Er nimmt ihm die Verrichtung ab. Der Zufall, dessen Bündniswillen er dabei wieder anzuerkennen hat, hilft ihm weiter. Warschauer tritt sich einen Nagel in den Fuß und kann mehrere Tage das Zimmer nicht verlassen. Er hat niemand zur Bedienung (das Sonderbare ist, daß er trotz seiner elenden Umstände nicht arm oder gar bettlerhaft erscheint, es macht im Gegenteil oft den Eindruck einer Inszenierung zu irgendeinem geheimnisvollen Zweck, was freilich auf Täuschung beruht), sein Bett macht er selbst, seine Schuhe putzt er selbst. Etzel holt ihm das Mittagessen aus Frau Bobikes Küche, den kalten Abendimbiß aus einem Geschäft drüben in der Demminer Straße. Er ändert natürlich seine Tageseinteilung nach den veränderten Umständen, aber die Tage haben ja nur gewartet, von hier aus regiert zu werden. Er besorgt Verbandstoff und Lysol aus der Apotheke, wäscht die Wunde, verbindet sie sachgerecht und zeigt sich so geschickt, als hätte er unlängst einen Sanitätskurs absolviert. Die Gespräche, die sie führen, denn es ist klar, daß sie bei so angenäherter Lebensweise nicht wie zwei Klötze nebeneinander existieren können, werden immer regsamer von Etzels Seite, er wird geradezu zum unermüdlichen Schwätzer, während Warschauer sich beinahe verlegen in unzugänglichere Hintergründe zurückzuziehen scheint. Er erschöpft sich in gleisnerischen Danksagungen, gleisnerisch entsetzter Abwehr, als ob eine Person wie er solcher Guttaten, solcher Opfer in keiner Weise würdig sei. Es gibt aber Momente (Etzel kann nicht umhin, zu erschrecken, bis ins Innerste zu zittern, wenn sie eintreten, obwohl er sich gleichzeitig sagt – wie einer, der mit zusammengebissenen Zähnen in einen brennenden Ofen langt, um eine Kostbarkeit herauszuholen –, daß nichts seiner Sache förderlicher sein kann), Momente der Zärtlichkeit, die allerdings in nichts anderem besteht als in einem Betastungsversuch, einem Auffunkeln der Augen hinter den schwarzen Gläsern, dem komischen leeren Malmen des hypertrophischen Unterkiefers. Es ist Etzel zumute, als ob ein Golem aus Lehm erwache und schnaufend um sich greife, weil sich ein Appetit nach Menschenfleisch in ihm meldet. Eines Tages plaudert er in seiner halb angenommenen, halb ihm eigenen harmlosen Bubenart darüber, was er unternehmen wird, wenn er in Amerika sein wird (unter dieser Fiktion nimmt er ja bei Warschauer Unterricht). Er will zunächst Cowboy werden, sich späterhin so viel erarbeiten, daß er sich ein großes Landgut mit Wassern und Wäldern und Vieh und Wild kaufen kann, dort will er in Freiheit leben. »In Freiheit leben«, es hat in seinem Mund einen Klang von entschlossenem Enthusiasmus. Warschauer hebt den Kopf empor und läßt ein dumpfes Kichern hören. Er streckt den Arm aus, zieht den Knaben zu sich heran, so nahe, daß Etzel in einer Mischung von Abscheu, instinktivem Sträuben und zweckbewußtem, zweckbesessenem Gewährenlassen den Atem des Mannes über seine Stirn streichen fühlt, und sagt, pagodenhaft nickend: »In Freiheit leben? dort? dort in Freiheit? Junge, Junge, Junge . . .« Und lacht, gleichsam in den Eingeweiden drinnen, gallig amüsiert. Etzel reißt sich los und zuckt unwillig die Achseln. »Ich weiß schon«, knurrt er, »ich weiß schon . . . Sie . . .« und stockt trotzig, steht trotzig da und schüttelt die Haare zurück. Die Augen hinter den schwarzen Gläsern sind mit jenem Ausdruck auf ihn gerichtet, den Etzel bei sich menschenfresserisch nennt, obwohl weder etwas Grausames noch etwas Böses in ihnen ist, nur diese seltsame schlaftrunkene Lüsternheit des aufwachenden Golems. Es sind vielleicht uralte Märchenerinnerungen, die in seiner Seele umgehen, vorgestern war er noch ein Kind . . .

Warschauer will heute abend zum erstenmal ausgehen, in einer Bierhalle am Stettiner Bahnhof findet eine Volksversammlung statt, da will er hin; Etzel hat vorgeschlagen, ihn zu begleiten, weil der Professor doch noch nicht ganz sicher auf seinen Beinen ist. Für alle Arten von Menschenzusammenrottungen hat Warschauer eine Leidenschaft, ob es nun Umzüge, öffentliche Schaustellungen, Streikdemonstrationen oder gewöhnliche Straßenaufläufe sind, die Masse zieht ihn unwiderstehlich an; am wohlsten fühlt er sich in geschlossenen Räumen, wenn er unter Tausenden von Menschen eingekeilt ist und wortgewandte Redner die Menge zu fanatischen Kundgebungen aufpeitschen, das macht ihn vollkommen glücklich, und er hat Etzel auseinandergesetzt, daß es ein Anonymitätsrausch ist, ein Entpersönlichungsglück. Etzel hat es nicht ganz kapiert, aber jener wird wohl noch öfter darüber sprechen, tröstet er sich. Um halb neun wollen sie aufbrechen, vorher soll Etzel noch den kalten Aufschnitt aus der Demminer Straße holen. Pfeifend, die Hände in die Taschen versenkt, tritt er den Weg an, auf dem Rückweg kann er nur die eine Hand in der Tasche behalten, die andere muß das Paket tragen, das ziemlich umfangreich ist, weil er auch ein Pfund Kirschen gekauft hat, aber am Pfeifen hindert ihn das nicht.

Schon auf der Stiege hört er Warschauers sonore, träge, tiefe Stimme, oho, denkt er, der Professor hat Besuch. Jedoch es ist nur Paalzows Junge, Paalzow ist der Photograph von nebenan. Paalzows Junge ist genau so alt wie Etzel, aber er ist ein verkommener Geselle, der bereits einigemal mit dem Jugendgericht zu tun gehabt hat. Er ist am Vormittag schon dagewesen, Warschauer hat es ärgerlich angedeutet, er will Geld haben, und zwar aus einem Anlaß, der mit zynischer Dreistigkeit vom Zaun gebrochen ist, Warschauer bezeichnet es empört als einen Brandschatzungsversuch. Er hat vor ein paar Tagen eine Büchersendung von dem Museumsdirektor erwartet, mußte ausgehen und wollte vorher die Mutter Paalzow bitten, sie möge, falls der Bote in der Zwischenzeit komme, die Bücher für ihn in Empfang nehmen. Es war aber niemand bei Paalzows zu Hause, die Stube war leer. So viel ist an der Sache richtig; Paalzows Junge behauptet aber, der Professor habe bei dieser Gelegenheit die Türe von Paalzows Stube offengelassen, und infolgedessen seien ihm ein Paar Schuhe gestohlen worden, die ihm der Professor ersetzen müsse, er verlange nicht den vollen Wert dafür, sondern bescheidenerweise bloß drei Mark. Aber »'nen Taler« müsse er kriegen, sonst mache er ekligen Krach und werde es dem Professor schon versalzen. Als Etzel eintrat, stand er mit untergeschlagenen Armen im Zimmer, den Hut schief auf einem Ohr, und forderte frech »seinen« Taler. Warschauer saß am Tisch, hielt die Feder in der Hand und schaute nur schief zur Seite, wo der Bursche stand. Er war bei solchen Überrumpelungen lächerlich feig. Etzel ging hinter Paalzows Jungen zum Fenster, das geöffnet war, es war ein warmer Maiabend, legte das Eßpaket, nachdem er sich eine Handvoll Kirschen genommen, auf die Brüstung und beugte sich hinaus, als wolle er zu verstehen geben, daß ihn die Angelegenheit nicht zu kümmern habe und er nach keiner Seite hin Partei ergreifen wolle. Tief unten im Hof stand ein leeres Holzkistchen, senkrecht unter dem Fenster, und er beschäftigte sich eine Weile damit, die Kirschenkerne in das Kistchen hineinzuspucken, was aber nicht gelingen wollte. Indessen wurde Paalzows Junge immer unverschämter, das verachtungsvolle Schweigen Warschauers flößte ihm Mut ein, und im grellsten Berliner Jargon schrie er, er werde sein Geld schon zu bekommen wissen, und wenn er die blödsinnige Studierbude da anzünden müsse. Da drehte sich Etzel um, schritt auf ihn zu, stieß ihn mit dem Ellbogen an und sagte: »Nu mach mal, daß du rauskommst.« Paalzows Junge fuhr herum wie gebissen und starrte ihm giftig ins Gesicht. »Draußen werden wir mal die Sache vernünftig besprechen«, fuhr Etzel augenzwinkernd fort, als ob er den Professor für einen Idioten halte, es aber nicht merken lassen dürfe und hier angestellt sei, um seine Geschäfte, namentlich ein so schwieriges wie das mit Paalzows Jungen, gentlemanlike zu regeln. Als er den Krakeeler vor der Tür hatte, sagte er: »Hör mal zu, Paalzow. Die Geschichte stinkt. Mir brauchst du nichts vorzumachen. Ich verstehe, daß du da ein nettes Ding drehen willst, aber einen ganzen Taler ist das Ding nicht wert; gleich dich mit fünfzig Prozent aus, da hast du eine Mark fünfzig, das verrechne ich mit dem Professor, und jetzt verdufte.« Zögernd, mißtrauisch, nicht recht wissend, was er von dem Knaben halten sollte, alles in allem unbehaglich berührt, nahm Paalzows Junge das Geld und schlurrte mit finsterer Miene stiernackig über den Gang davon.

Als Etzel ins Zimmer zurückkam, hatte Warschauer die Gaslampe über seinem Schreibtisch angezündet, und man hörte das kratzende Geräusch seiner Feder. Durch das offene Fenster drangen gedämpft, über die Häuserdächer herüber, das Bellen der Autohupen und die Glockensignale der elektrischen Tram. Etzel setzte sich auf einen Bücherstoß, und mit den Beinen baumelnd fing er wieder an, Kirschen zu essen. Auf einmal wandte sich Warschauer auf seinem Sitz um und fragte: »Sie haben ihm Geld gegeben, dem Lumpen?« Etzel nickte lebhaft. »Warum? Es ist dumm und schlecht, solch erpresserischer Kanaille Geld zu geben. Warum also? Haben Sie's denn so dick?« Etzel spuckte ein paar Kerne in weitem Bogen durchs Fenster und erwiderte:»Ich hab's gar nicht dick. Aber erstens soll hier kein Krawall sein. Zweitens, was heißt Lump? was heißt Kanaille? Ein armseliger Kerl. Den kann man ja um den Finger wickeln für eine Mark fünfzig. Wollte sehen, ob er wirklich so ein armseliger Kerl ist. Das ist das ganze Positive an ihm, drei Mark mit fünfzig Prozent Rabatt. Bin ich schuld?« – Warschauer rückte etwas weiter auf seinem Stuhl herum. »Das Positive, wie meinen Sie das?« fragte er. Etzel spuckte emsig Kerne. »Na ja, was man eben Positives braucht, wenn man nicht draufgehn will«, versetzte er gleichmütig, »ein kleines Ideal zum Beispiel, einen Glauben, einen Menschen, eine Sache. Das haben die alle nicht.« Er machte eine vage Handbewegung zur Tür hin, um gewissermaßen die sämtlichen Paalzows Jungens zu bezeichnen, die draußen nach »Positivem« schmachteten.

Warschauer schwieg und kehrte sich wieder seiner Arbeit zu. Allein nachdem einige Minuten verflossen waren, legte er die Feder hin, wandte sich abermals um, stützte den rechten Ellbogen auf die linke Hand, bedeckte Kinn und Mund mit der rechten und schaute so Etzel eine Weile an, der sich nicht im geringsten gestört zu fühlen schien. »Der Teufel soll mich holen, wenn ich aus Ihnen klug werde, Mohl«, sagte er endlich leise. »Am Ende heißen Sie auch ganz anders, wie? Na also, heraus mit der Farbe!« Es klang nicht argwöhnisch oder drohend, sondern wohlwollend, gleisnerisch betulich, und hatte wieder den »menschenfresserischen« Unterton.

Etzel sprang mit einem Satz von dem Bücherstapel herunter. »Vielleicht heiß ich ebensowenig Mohl wie Sie Warschauer heißen«, antwortete er frech, »vielleicht. Wer weiß!«

Warschauer erhob sich sehr langsam. Er ging sehr langsam auf den Knaben zu. »Hallo, Junge?« kam es aus seiner Brust herauf, mit einer neuen Stimme, einer gleichsam versunken gewesenen, »hallo, Junge?«

»Ich sag bloß: vielleicht«, beharrte Etzel, um eine Schattierung blasser, und hielt dem schwarzen Funkeln der Brillengläser mit dem dringlichen Blick stand, den seine Kurzsichtigkeit erforderte, »vielleicht heiß ich . . . wie könnt ich nur heißen? vielleicht heiß ich Maurizius. Es gibt ja noch welche, die so heißen. Warum kann ich nicht Maurizius heißen . . .?«

Warschauer-Waremme sah aus, als hätte jemand von der Straße, weit über die Dächer herüber, nach ihm gerufen. Seine Züge verkrampften sich zu einem düster lauschenden Ausdruck des Nachdenkens. »Maurizius –?« wiederholte er grübelnd. Er strich sich mit der fetten weißen Hand langsam über die Stirn. Plötzlich machte er noch einen Schritt auf Etzel zu, nahm seine Brille ab und schaute ihm mit befremdeter Neugier starr ins Gesicht. Zum erstenmal sah Etzel seine Augen, wasserblasse, lichtlose, fast gestorbene Augen.


 << zurück weiter >>