Frank Wedekind
Mine-Haha
Frank Wedekind

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Gegen den Herbst hin verfiel ich eine Zeitlang des Nachts in ganz eigentümliche Zustände. Plötzlich erwachte ich über einem entsetzlichen Getöse und dann hörte ich nichts als Brausen und Donnern um mich her. Die ersten Male schrie ich laut auf vor Angst. Die Mädchen fuhren alle sechs von ihren Betten auf und waren dann natürlich böse über mich, die ich sie für nichts und wieder nichts gestört hatte. Es waren die leisesten Geräusche, eine Mücke im Zimmer oder das Plätschern des Brunnens vor dem Haus, die mir immer lauter und lauter in den Ohren klangen, bis es mich wie ein Sturm umtoste. Dazwischen vernahm ich die Melodien, die ich auf der Geige spielen gelernt hatte, aber so gellend und schrill, als hätte man mir den Resonanzboden gegen das Ohr gehalten. Wenn ich nur den Kopf auf den Kissen bewegte, so tönte es wie fernes Donnergrollen.

Blanka und Pamela waren damals sehr lieb gegen mich. Sie wechselten an meinem Bette ab und unterhielten sich im Flüsterton mit mir, bis ich ruhig geworden war. Dabei schlief Blanka, die die ganze Nacht getanzt hatte, einmal selber an meinem Bette ein. Als ich sie am Morgen so dasitzen sah, nahm ich mir vor, nichts mehr zu sagen. Die Anfälle wiederholten sich noch oft, aber ich ertrug sie so gut es ging.

Auf einem Spaziergang durch den Park hatte mir Pamela indessen auch einmal das Theater gezeigt. »Nächstens muß ich dort tanzen, wenn Blanka nicht mehr tanzt«, sagte sie. Das Theater lag etwa hundert Schritte vom Weißen Haus entfernt. Es war aus gelben Backsteinen gebaut. Eine dreistockhohe kreisrunde Mauer mit einem Dach darüber, aber ohne Fenster und Türen. Das fiel mir aber damals gar nicht auf. Ich dachte, es werde wohl auf irgendeiner Seite einen Eingang haben.

Der wilde Wein wurde dunkelrot. Unser Haus funkelte in der Abendsonne wie ein Rubin. Unter den hohen Baumgruppen im Park war die Wiese mit gelben Blättern bedeckt und abends legte sich dichter, weißer Nebel darüber, der manchmal bis an unser Haus reichte. Auf dem Badeplatz beeilten sich alle so sehr als möglich. Ich hatte nun auch Schwimmen gelernt. Wir sprangen nur rasch ins Wasser, schwammen eine Strecke den Bach hinauf und kleideten uns wieder an. Wenn wir dann Arm in Arm nach Hause gingen, glänzte der Himmel rings um uns her in den zartesten Farben. Zwanzig Jahre später, wenn ich ein Kleid zu erfinden hatte, das zu arbeiten mir Freude machte, dann vergegenwärtigte ich mir immer die Himmelsbilder von damals. Die schönsten Harmonien von Grün, Rosa und Blauschwarz habe ich auf diese Weise zuwegegebracht. Eine blendendweiße Haut gehört freilich dazu, um ein solches Kleid tragen zu können. Aber ich wüßte niemanden von meinen Klientinnen, die die nicht gehabt hätte. Allmählich wurde das Wasser dann wirklich zu kalt und der Badeplatz blieb leer und verlassen.

Auf der hölzernen Galerie vor unserem Schlafzimmer war ein Eimer mit einer Brause aufgehängt. Morgens, wenn wir aufstanden, trat eine um die andere durch die Glastür hinaus und ließ sich das Wasser über den Kopf rieseln. Nur wenn es draußen fror, brachte man uns einen Kübel mit Wasser ins Schlafzimmer herein, wo es immer sehr warm war, da wir unserer sieben zusammenschliefen.

Eines Abends ging ich allein durch den Park. Es war kurz vor dem Nachtessen. Viele Bäume um mich waren schon kahl. Mein Auge hing am Horizont, der sich stetig veränderte. Alle drei Schritte drehte ich mich um, um mir nichts entgehen zu lassen. Dabei erinnere ich mich, daß mich ein tiefer Schmerz überkam, etwas wie Sehnsucht, wie ich sie noch nie empfunden, hinauszukommen, weit fort, in die große Welt hinaus. Wie ich so weiterging, stand ich unversehens vor dem Weißen Haus und sah etwas, das mich wie gebannt hielt und woran ich mich lange nicht satt sehen konnte. Es war ein leichter eleganter vierrädriger Wagen mit einem Pferde davor. Ich hatte schon mehrere Pferde gesehen an den Lastwagen, die durch den Park fuhren und vor jedem Hause hielten, um es zu verproviantieren. Sie wurden von älteren Mädchen in kurzem Wams, Pluderhosen und Stulpstiefeln geführt; aber nie hatte mich eines jener Tiere im geringsten zu interessieren vermocht. Hier wurde mir ganz seltsam. Ich sah die Augen und fühlte, daß ich ein menschliches Wesen vor mir hatte. Mein nächster Gedanke war Gertrud. Diese Stellung der Füße war Gertrud. Diese stolze Haltung hatte ich nur an Gertrud gesehen. Dieses sprühende Feuer in den Blicken, die Art, den Kopf zu schütteln, alles rief mir Gertrud vor Augen.

Auf dem Bock saß ein sehr hübsches Mädchen. Wie sie mich so versteinert dastehen sah, schnalzte sie leise mit der Zunge und das Pferd ging vorwärts. Sie führte es vor der Säulenhalle langsam im Kreis herum. Ich lief nebenher. Der Anblick verwirrte mich. Wie kam dieses Vorderteil mit dem Hinterteil zusammen. Das waren zwei verschiedene Geschöpfe, die nicht zueinander paßten. Oder vielleicht doch, gerade. Das Hinterteil schien mir häßlicher als das Vorderteil. Das Vorderteil zog mich mehr an, infolge seiner Eleganz; der schmale Ansatz der Beine; das hatte niemand von uns. Aber das Hinterteil des Pferdes war so riesenhaft, so übermenschlich, ich fühlte mich ganz beklommen. Und doch, abgesehen von den Augen und der ganzen Haltung, war es das Hinterteil, was am meisten an Gertrud erinnerte. Sie hatte die nämliche einfache, ruhige Bewegung in den Hüften, diese ruhige sichere Kraft, und auch die Art und Weise, wie sich die Schenkel aneinander rieben. Unwillkürlich dachte ich mir Gertruds schlanken Oberkörper über der mächtigen Croupe, aber dann gehörten auch ihre Füße dazu. Und plötzlich sah ich in dem Vorderteil die Knaben wieder, mit denen wir bei Gertrud zusammen Springen und Laufen gelernt. Die Sinne vergingen mir. Ich schlich müde nach Hause.

Beim Nachtessen erzählte Irene, daß vier von ihren Altersgenossinnen auserwählt worden seien. Irene war den gleichen Nachmittag im Weißen Haus gewesen. Sie hätten eben Musikunterricht bei Kairula gehabt, da seien zwei Damen in langen weißseidenen Kleidern in den Saal getreten. Simba sei mit ihnen hereingekommen. Sie hätten sich dann eine um die andere vor den Damen entkleiden müssen, und hätten eine nach der andern langsam vor ihnen durch den Saal gehen müssen. Nachher hätte jede noch tanzen und dann musizieren müssen. Wie sie alle dreißig Kinder in einer Reihe gestanden, hätten die Damen Olesia, Thekla und noch zwei andere zu sich gerufen. Sie hätten die vier Mädchen von oben bis unten untersucht. Dann seien sie mit ihnen und Simba wieder fortgegangen.

Pamela erzählte dann vom vorigen Jahr, wo die Auswahl bei ihnen stattgefunden. Sie hätten alle schon im voraus gewußt, daß es Isabella treffen werde. Blanka, die uns eben das Fleisch vorlegte, sagte, sie wisse auch schon, wen es im nächsten Jahre treffen werde. Pamela, Irene, Melusine und Filissa sahen auf Wera. Wera wurde dunkelrot bis unter die Haare. Sie warf Blanka einen Blick aus ihren schönen Augen zu, sah aber gleich wieder auf ihren Teller nieder. Ein feines Lächeln lag auf ihren geschlossenen Lippen.

Ich weiß, daß ich niemanden mehr gefragt habe, wozu man Olesia und Isabella auserwählt und was mit Wera nächstes Jahr werden würde. Aber ich weiß nicht, ob ich es aus Furcht nicht tat, oder ob ich nachgerade wie die anderen fühlen lernte. Blanka war die älteste von uns, sie hatte ihr dreizehntes Jahr zurückgelegt, und sie wußte gerade so wenig wie ich. Das sagte ich mir, wenn mir ein Gedanke kam. Ich erinnere mich auch nicht, in den späteren Jahren noch irgendwie von Neugierde geplagt worden zu sein. Während des letzten Jahres, das ich im Park verlebte, sah ich mindestens ebenso gleichmütig und ruhig meinem Austritt entgegen, wie es Blanka jetzt tat.

Der Winter war hereingebrochen. Es regnete jeden Tag. Wenn wir ausgingen nach dem Weißen Haus, nahmen wir schwere Mäntel über aus dunkelbraunem Tuch. Auf dem Kopf trugen wir Mützen aus Schwanenpelz. Im übrigen war unsere Kleidung die gleiche wie im Sommer. Des Abends saßen wir um den Kamin, in dem dicke Holzklötze brannten. Wir rückten auf unseren niederen Taburetts dem Feuer so nahe wie möglich; meistens hockten wir innerhalb der Kamineinfassung. Wera tanzte gewöhnlich mitten im Zimmer und Filissa schlug das Cymbal dazu. Draußen hörten wir die Raben krächzen, den Sturm heulen und die Bäume knarren. Schnee fiel nur wenig und wenn es einmal schneite, blieb er nicht lange liegen. Um so ärger war der Morast draußen im Park. Man sank auf den Wegen ein und kam oft ohne Schuhe in die Tanzstunde. Dabei gewahrte ich jetzt erst, daß der Park außer uns Mädchen noch andere Bewohner in seinen Mauern hegte. Alle hundert Schritt sprang ein Hase über den Weg und die Rehe kamen in der Abenddämmerung ans Haus heran und fraßen uns aus der Hand. Eines Abends, es mochte schon mitten im Winter sein, da sagte Blanka, die am Nachmittag im Weißen Hause gewesen, als wir uns zu Tisch setzten, zu Pamela, sie könne nicht mehr tanzen. Pamela bat sie, sie diesen Abend noch ins Theater zu begleiten. Nach dem Nachtessen nahmen beide ihre Mäntel über und gingen zusammen fort in die dunkle Nacht hinaus. Am anderen Tag hatte Pamela viel zu schwatzen, von dem Kostüm, das man ihr angezogen, von dem taghellen Licht, von Simba, von der dröhnenden Musik und von den Kostümen der anderen Mädchen. Am Abend ging sie allein fort und Blanka blieb mit uns zusammen. Als wir oben im Zimmer vor dem Kamin saßen, schnitt sie sich auf ihren Knien ein Stück Leinen zurecht, das sie dann selbst zusammennähte. Ein Muster hatte sie mitgebracht. Es lag vor ihr auf dem Fußboden. Über dem Leib war ein Durchzug darin zum Zubinden und unter dem Leib um jedes Bein eine handbreite Spitze. Sie war blaß und schläfrig und ging früh zu Bett.

Pamela war, während der Winter zu Ende ging, täglich übervoll von ihren neuen Erlebnissen im Theater. Bei Tisch gab es keine andere Unterhaltung. Sie sprach meistens mit Blanka und wir übrigen hörten aufmerksam zu. Sie war infolge des allnächtlichen Tanzens von früh bis spät in ununterbrochener Aufregung. Einmal fielen ihr bei Tisch Messer und Gabel aus der Hand und sie sank hintenüber. Des Morgens fuhr sie aufgeschreckt vom Bett auf, vollkommen wach, als hätte sie sich eben erst niedergelegt. Manchmal sah sie uns scheu von der Seite an, als kennte sie uns nicht mehr recht.

Blanka übte nach wie vor tagsüber mit uns, was jede gerade im Weißen Haus lernte. Sehr eifrig tanzte sie mit Wera zusammen. Beide wetteiferten in Grazie und Gewandtheit. Wera bot, wie sie sich zeigen mochte, einen entzückenden Anblick. Aber Blanka konnte mehr. Manchmal tanzten sie um die Wette, wer sich länger auf den Füßen halten konnte. Bald gewann die eine, bald die andere. Nachher sanken sie um wie die Fliegen. Natürlich ging Blanka immer noch jeden siebenten Tag ins Weiße Haus zu ihren eigenen Übungen mit ihren Altersgenossinnen, von denen, wie Pamela erzählte, gleichfalls eine um die andere aufhörte, abends im Theater mitzutanzen. Pamela gewöhnte sich allmählich daran. Sie wurde munterer und blickte wieder frei um sich her.

Im Park keimten die ersten Schneeglöckchen. Viele Tage und Nächte lang brauste ein schwerer feuchter Wind durch die nackten Bäume. Wir sperrten die Fenster auf, ließen unsere Mäntel zu Hause und kehrten oft barfuß von unseren Spaziergängen heim. Die ersten Sonnenstrahlen blendeten so furchtbar, daß wir mit geschlossenen Augen gingen, bis alsgemach ein Baum nach dem andern grün wurde und schließlich alles wie neuerschaffen aussah. Und eines Nachmittags, als Blanka ins Weiße Haus gegangen war, kam sie nicht wieder zurück.

Acht oder vierzehn Tage lang waren wir nur unserer sechs. Im Schlafzimmer rückte jedes um ein Bett hinauf und bei Tisch präsidierte Pamela. Einmal hatten wir uns gerade zum Abendessen gesetzt, als vor dem Haus eine Kiste abgeladen wurde. Wir eilten ins Schlafzimmer, wo man die Kiste aufstellte. Auf dem Deckel stand die Nummer unseres Hauses und der Name Betty. Pamela nahm den Schlüssel und schloß auf. Es trat ein nacktes Mädchen heraus.


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