Christoph Martin Wieland
Clementina von Porretta
Christoph Martin Wieland

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Zweiter Aufzug.


Erster Auftritt.

Der Schauplatz ist in des Jeronymo Zimmer. Jeronymo in einem Lehnstuhl.

Jeronymo. Der Bischof.

Jeronymo. Ich bin erfreut, mein liebster Bruder, daß ich Sie so wohl für meinen Grandison gesinnet sehe. Aber wie sollte es möglich seyn, diesen Mann nicht zu lieben? Wenn ist jemals an jeder Tugend, jeder großen und liebenswürdigen Eigenschaft seines gleichen gewesen? – Glauben Sie mir, Bruder, ich fühle den ganzen Stolz unseres Hauses in mir; aber ich bin darum nicht minder überzeugt, daß es uns eine Ehre wäre, einen solchen Mann den unsrigen zu nennen.

Der Bischof. Wäre er ein Katholik, liebster Jeronymo, so würde ich Ihrer Meinung seyn. Aber bedenken Sie –

Jeronymo. O, ich mag nichts denken, das meinem liebsten Wunsche zuwider ist! Mein ganzes Herz ist auf ihn gerichtet, und wenn ich wieder zu leben wünsche, so ist es, um meine Schwester in den Armen meines Freundes glücklich zu sehen. Ich bin voller Hoffnung. Er kann nicht unerbittlich seyn. Wir sind ihm das erstemal nicht begegnet, wie er es verdiente. Wir glauben ihm eine unverdiente Ehre zu erweisen, da wir ihm Clementinen unter unsern Bedingungen anboten; wir beleidigten seinen Stolz. Aber, wenn wir zeigen, daß wir ihn zu schätzen wissen, wenn seine Großmuth durch die unsrige gereizt wird, wenn die Bitten seines Jeronymo, wenn die noch rührendern Bitten, die Blicke, die Thränen seiner Clementina sein Herz zerschmelzen –

Der Bischof. Und was wird denn aus dem Grafen von Belvedere werden?

Jeronymo. Wenn ich den Chevalier nicht kennte, so wäre der Graf der Erste, den ich zu meinem dritten Bruder wählen wollte.

Der Bischof. Er ist aus einem Hause, das dem unsrigen an Ansehen und Reichthum gleich ist; er ist ein Katholik; er hat Verdienste; er ist liebenswürdig; er betet Clementinen an –

Jeronymo. Aber Clementina hat kein Herz für ihn. Das Schicksal, liebster Bruder, das Schicksal selbst hat sie meinem Grandison bestimmt.

Der Bischof. Es wird sich bald aufklären. Dieser Morgen ist zur ersten Zusammenkunft zwischen ihnen angesetzt. Wenn seine Gegenwart einen erheiternden Strahl in das entsetzliche Dunkel wirft, das ihre Seele so lange umwölkt, wenn sich ein Schimmer von wiederkehrender Vernunft bei ihr zeigt, so muß ich selbst glauben, der Himmel – Ich höre Jemand. Es ist Grandison.


Zweiter Auftritt.

Grandison. Die Vorigen.

Grandison. Vergeben Sie, gnädige Herren, daß mich das Verlangen, meinen theuren Jeronymo zu sehen, vor der bestimmten Stunde hierher führt. Wie befindet sich mein geliebter Freund?

Jeronymo. Ich habe Sie wieder gesehen, liebster Grandison, ich befinde mich wohl. Der gestrige Abend hat mehr zu meinem Besten gewirkt, als alle schmerzenlindernde Mittel der Aerzte. Seit Monaten habe ich keine so erträgliche Nacht gehabt, als diese. Es gab Augenblicke, da ich schlafen konnte, und da träumte ich von Ihnen, von Clementinen, von Allem, was ich liebe. Die angenehmsten Bilder schwebten um meine Seele, süße Ahnungen, glückliche Vorbedeutungen –

Grandison. Möchten sie erfüllt werden! Möchte Ihnen der Himmel alle Glückseligkeit gewähren, die ich Ihnen wünsche, und wenn ich sie mit der Hälfte meiner eigenen erkaufen müßte!

Der Bischof. Wir würden unsern Charakter verleugnen, Chevalier, wenn Ihre Großmuth nicht die unsrige erweckte. Unsere Glückseligkeit soll nicht mit der Ihrigen erkauft werden! – Es ist ein Mittel, beide auf ewig mit einander zu verknüpfen. – Erlauben Sie, daß ich den Markgrafen von Ihrer Ankunft benachrichtige. – (Er geht ab.)


Dritter Auftritt.

Jeronymo. Grandison.

Jeronymo. O mein Grandison! Was für eine Macht hat die Seele über ihren Leib! Vor Ihrer Ankunft war ich kaum noch der Schatten von mir selbst. Die wilden Schmerzen unheilbarer Wunden und die langwierigen Martern, die ich ohne Wirkung unter den Händen der Aerzte erduldete, hatten meine Lebensgeister erschöpft; die Zukunft zeigte mir lauter fürchterliche Aussichten, und das Unglück meiner Schwester vollendete mein Elend. Wie oft habe ich den Tod angefleht! Wie oft erlag meine ermüdete Seele unter ihren Leiden! Aber, seitdem ich Sie wieder gesehen habe, seitdem diese Arme meinen Freund, meinen Bruder, meinen Grandison wieder umschlossen haben, scheint eine neue Quelle von Leben in meine Adern zu fließen; ich vergesse meiner Schmerzen, das Daseyn ist wieder ein Gut für mich, und ich fange an zu hoffen. – Theurer Grandison! Wie sehr, wie sehr sind wir Ihnen verbunden! – Die Wirkungen, die ich selbst von Ihrer Gegenwart erfahre, machen, daß ich auch für meine Schwester hoffe. – O Grandison, sie liebt Sie unaussprechlich! Niemals hat eine so reine Zärtlichkeit, eine so heilige Liebe in einer unschuldigern Brust geglühet! – Mein theurer Freund, Sie müßten nicht seyn, was Sie sind, wenn Sie durch so viel Liebe bei so vielen Vorzügen nicht gerührt würden.

Grandison. Gewiß kann mein Jeronymo das Herz seines Freundes nie so sehr verkennen, um daran zu zweifeln. Aber haben Sie jemals die Schwierigkeiten meiner Stellung überdacht? Wenn Sie es gethan hätten, Sie würden mich bedauert haben. Wie sehr mußte mein Geist alle seine Stärke anwenden, die schönste, die gerechteste Leidenschaft zu unterdrücken, die das tägliche Anschauen der allzu reizenden Vorzüge Ihrer Schwester in mir nährte! – der Einzigen unter Allen, die ich je gesehen habe, von der mir mein Herz sagte, daß ich sie über Alles lieben könnte! Wie sehr mußte ich meine Zunge, meine Blicke, meine Mienen beherrschen, damit nicht die mindeste Spur von demjenigen sichtbar würde, was ich in meinem Innersten zu bewahren entschlossen war! Ein bedeutender Blick, ein verrätherischer Seufzer würde in meinen Augen ein Verbrechen gewesen seyn. Denn damals konnte auch nur der Gedanke nicht in mir entstehen, daß ich die bewundernswürdige Clementina jemals in einem andern, als in dem Verhältniß einer Schwester würde ansehen dürfen. Ich wußte zu sehr, daß, wenn auch alle andere Hindernisse gehoben werden könnten, diejenigen, die mein Vaterland und meine Religion machten, unübersteiglich wären.

Jeronymo. Ach, Grandison, Sie durchbohren mein Herz! – Und sind sie denn unübersteiglich! Ich kann, ich mag es nicht glauben! Rauben Sie mir die süße Hoffnung nicht, die Alles ist, was mich noch beim Leben erhält! – Aber ich höre, wie mich dünkt, meinen Vater und meine Mutter kommen. Ich muß es auf eine andere Gelegenheit verschieben, Ihnen den Entwurf, den ich gemacht habe, zu entdecken.


Vierter Auftritt.

Die Vorigen. Der Markgraf. Die Markgräfin. Der Pater Marescotti. Laura.

(Im Hereingehen sagt die Markgräfin Laura etwas ins Ohr, die sich sofort wegbegibt.)

Der Markgraf. Ich bin sehr von Ihrer Gütigkeit gerührt, Herr Grandison! Diese letzte und stärkste Probe derselben, Ihre Wiederkunft in mein Haus, hat mich Ihnen ganz eigen gemacht. Ich danke dem Himmel, daß in meiner ganzen Familie keine undankbare Seele ist!

Grandison. Sie beschämen mich, gnädiger Herr! Es ist eine Folge Ihrer großmüthigen Art zu denken, daß Sie –

Der Markgraf. Nein, Herr Grandison! wir haben weder nach unserm Herzen, noch nach Ihren Verdiensten gehandelt. Aber Sie sind edelmüthig; Sie empfinden die Schwierigkeiten unserer Lage und können uns entschuldigen.

Grandison. Sie benennen mit einem verdienstlichen Namen, was auf meiner Seite bloße Gerechtigkeit ist. Ich würde mich selbst hassen, wenn ich eines eigennützigen Wunsches fähig wäre, der das mindeste Opfer von Ihnen forderte.

Der Markgraf. Nein, Grandison! So gering müssen Sie nicht von uns denken, daß wir Sie bei so großen Verbindlichkeiten, die wir Ihnen haben, unbelohnt lassen sollten. Sie müssen belohnt werden, und auf eine Art, wodurch alle Welt überzeugt werde, daß wir Ihre Verdienste und Ihre Freundschaft zu schätzen wissen.

Die Markgräfin. Ich besorge nur, mein Theuerster, die einzige Belohnung, die dem Herzen des Chevalier angenehm hätte seyn können, sey seiner nicht mehr würdig. – Die arme Clementina! ehemals war sie eines Fürsten würdig! Jedermann liebte sie, man pries uns ihretwegen glücklich, man beneidete uns – Jetzt – Ach Grandison! ihr Anblick wird Ihnen durch die Seele gehen! – Sie haben ein zärtliches Herz. Sie sind – ich hoffe, Sie sind nicht gleichgültig gegen meine Clementina!

(Grandison antwortet der Markgräfin blos durch einen stummen und mit Mühe zurückgehaltenen Ausdruck der tiefsten Rührung.)

Jeronymo. Der Chevalier fühlt mehr, als er sagen kann. Er leidet mit uns, und vielleicht mehr als wir selbst. Lassen Sie uns hoffen, beste Mutter! Alles kann noch gut werden. Clementina –

Die Markgräfin. Ich weiß nicht, warum sie so lange verzieht. Ich habe Lauren befohlen, sie zu fragen, ob sie ihren Jeronymo besuchen wolle. Sie haben ihr gesagt, daß Sie hier seyen, Chevalier, aber sie glaubt es nicht. Man hat sie aus unbesonnener Zärtlichkeit zu oft hintergangen, als daß sie trauen sollte. Das arme Kind! sie wird kaum ihren eigenen Augen glauben!

Jeronymo. Sie sind traurig, liebster Grandison! – Wie gütig sind Sie!

Grandison. Wenn Sie wüßten, oder wenn ich Worte finden könnte, das zu beschreiben, was in meiner Seele vorgeht, Sie würden Mitleiden mit Ihrem Grandison haben.

Die Markgräfin. Ich kann nicht länger warten. Ich fürchte – O, wie furchtsam ist ein mütterliches Herz! – Ich will selbst nach Clementinens Zimmer gehen.

(Indem sie bei Grandison vorbei geht, sagt sie leise zu ihm:)

Sie müssen mein Sohn seyn, wenn ich wieder eine Tochter haben soll.

(Grandison antwortet mit einer tiefen Verbeugung. Seine Miene und Stellung ist traurig und tiefsinnig.)

(Die Markgräfin geht ab.)


Fünfter Auftritt.

DerBischof. Die Vorigen.

Der Bischof zum Markgrafen. Gnädiger Herr, ich habe einen Brief von meinem Bruder, dem General, erhalten; seiner Anzeige nach ist er auf dem Wege nach Bologna. Er weiß nicht, daß der Chevalier schon hier ist, und scheint ungeduldig zu seyn, ihm zuvorzukommen.

Jeronymo. Ich zittere vor dieser Ungeduld und vor der Unruhe, die uns seine allzu große Hitze verursachen könnte. Er hat die Sache des Grafen von Belvedere zu der seinigen gemacht, er liebt ihn –

Der Markgraf. Ich lieb' ihn auch; aber ich liebe meine Tochter noch mehr, ich habe nur eine Clementina. – Ich Unglücklicher! ich habe sie gehabt, sollte ich sagen! Ich muß das marternde Andenken dessen, was sie gewesen ist, verbannen, um nicht völlig unter meinem Gram zu ersinken.

Jeronymo. Der General macht mir Kummer! Er kennt meinen Grandison nicht, wie wir ihn kennen. Er hat Vorurtheile wider ihn; er ist von einem Andern eingenommen; ich besorge –

Grandison. Besorgen Sie nichts, liebster Freund! Ich verehre die Verdienste des Herrn Generals, ohne seine Hitze zu scheuen. Wenn er Vorurtheile hat, so ist seine Hieherkunft das beste Mittel, sie zu heben. Und was auch endlich sein Betragen gegen mich seyn möchte, so bin ich meiner selbst so gewiß, daß es niemals in seiner Gewalt seyn wird, mich vergessen zu machen, was ich dem ersten Sohne des Markgrafen von Porretta schuldig bin.

Der Markgraf. Und er müßte nicht mein Sohn seyn, wenn er dem Chevalier Grandison anders begegnete, als es sein Charakter und seine Freundschaft gegen uns verdienen.


Sechster Auftritt.

Die Markgräfin. Die Vorigen.

Jeronymo. Sie kommen ohne meine Schwester, gnädige Frau?

Die Markgräfin. Ach, Jeronymo! Deine arme Schwester – kommt nicht! Sie ist wieder in ihr voriges Stillschweigen verfallen. Sie antwortete mir auf keine Frage, die ich an sie that. Sie saß unbeweglich wie eine Bildsäule, den Kopf auf ihren Arm gestützt. Ihre Seele schien ganz in sich selbst zurückgezogen. Sie empfand meine Thränen nicht, die auf ihre Wangen tröpfelten. Endlich nannte ich ihren Jeronymo. Dieser Name weckte sie. Sie schlug ihre Augen auf, deren heitern Glanz Trübsinn und Schwermuth so lange schon ausgelöscht haben. Ein Blick, der meine Seele durchbohrte, und ein Seufzer, in welchem sie die ihrige auszuhauchen schien, war Alles, was sie mir antwortete. Ich konnte es nicht länger aushalten – Ach, Grandison! was für ein Schicksal liegt auf uns! – Meine Clementina ist unschuldig; Sie sind ein rechtschaffner Mann; ich glaube, ich hoffe, wir sind alle rechtschaffen. Warum, warum müssen wir denn so sehr unglücklich seyn? – Sie, Herr Pater Marescotti, Sie sind nicht nur ein frommer Mann, Sie sind ein Heiliger; Ihr verdienstliches Gebet sollte schon allein vermögend gewesen seyn, uns vor einem Kreuze zu bewahren, welches zu schwer ist, ertragen zu werden!

P. Marescotti. Eben darum, weil es Ihnen aufgelegt ist, wird es erträglich seyn. Es ist, wie Sie sagten, gnädige Frau, ein Schicksal, ein unbegreifliches Schicksal in dieser Sache. Doch die Züchtigungen des Himmels werden allezeit durch ihre Folgen gerechtfertiget. Vielleicht (o, dürfte ich mich dieser Hoffnung überlassen! – Aber der allmächtigen Gnade ist Alles möglich!), vielleicht ist die Bekehrung dieses vortrefflichen Mannes die Absicht und die Folge der Widerwärtigkeiten, die Ihnen jetzt so unerträglich scheinen.

Der Markgraf. Ein Engel spricht aus Ihrem Munde, mein ehrwürdiger Vater! Möcht' es eine gute Vorbedeutung seyn! – Ja, Herr Grandison, wenn dieses die Folge unsers Unglücks wäre, so würde ich mich für Alles, was ich seit einem Jahr gelitten habe, dreifach belohnt halten.

Jeronymo. Und wir hätten Hoffnung, wieder die glücklichste Familie zu werden.

(Grandison antwortet auf Alles dieß mit Stillschweigen und den äußerlichen Merkmalen einer großen Gemüthsbewegung und Verlegenheit.)

Die Markgräfin. Sie schweigen, Herr Grandison?– Sie geben uns keine Hoffnung? Ach, wie können Sie – Aber, nein! es ist unmöglich, daß Sie dem Anblick dieser schuldlos Unglücklichen widerstehen! Sie haben sie noch nicht gesehen! Wie sehr werden Sie erstaunen, sie so verändert zu finden! –


Siebenter Auftritt.

Laura. Die Vorigen.

Laura. Gnädige Frau! die junge Gräfin ist aus ihrem Zimmer gegangen. Sie lehnt sich stillschweigend an Camillens Arm und geht mit langsamen Schritten auf dieses Zimmer zu.

Der Markgraf (aufstehend). Ich getraue mir nicht, diesen Auftritt auszuhalten.

P. Marescotti. Ich begleite Sie, gnädiger Herr.

(Sie gehen ab.)


Achter Auftritt.

Die Markgräfin. Grandison. Jeronymo. Der Bischof. Clementina. Camilla.

(Grandison steht nach einem kleinen Stillschweigen voller Unruhe auf und sagt vor sich:)

Und wie werde ich ihn aushalten können!

(Er setzt sich wieder; indem Clementina herein tritt, steht er wieder auf, als ob er auf sie zugehen wollte, tritt aber sogleich wieder zurück und scheint nicht zu wissen, was er thut.)

Jeronymo (leise). Setzen Sie sich, liebster Grandison! Wie erfreut bin ich, Sie so gerührt zu sehen!

(Clementina nähert sich, an Camillens Arm gelehnt, mit kleinen Schritten und auf den Boden gehefteten Blicken. In der Mitte des Zimmers bleibt sie einige Augenblicke stehen, ohne darauf Acht zu haben, daß Jemand gegenwärtig sey. Darauf mach sei eine Bewegung, als ob sie wieder zurück gehen wolle; aber Camilla zeigt ihr einen Stuhl zwischen ihrer Mutter und dem Bischof und spricht:)

Camilla. Hier, gnädige Gräfin, hier!

(Clementina setzt sich, ohne die Augen aufzuheben. Alle Personen, außer ihr, drücken ihre Betrübniß auf verschiedene Art aus.)

Die Markgräfin (nimmt sie bei der Hand uns sagt). Schaue doch auf, meine Liebe – Siehe deinen Jeronymo – er weint.

(Clementina bleibt noch immer in der gleichen Stellung, ohne sich zu bewegen.)

Der Bischof. Liebste Schwester, schlagen Sie doch Ihre Augen auf. Sehen Sie uns an! Verschmähen Sie uns nicht! Sehen Sie Ihre Mutter und Ihren Jeronymo in Thränen! – Lieben Sie Ihren Jeronymo nicht mehr?

(Clementina schlägt die Augen auf und erkennt zuerst ihre Mutter. Sie umfaßt mit ihren beiden Händen derselben Hand und beugt ihr Haupt auf selbige; hierauf dreht sie ihren Blick langsam gegen Jeronymo und erblickt Grandison, welcher höchst gerührt ist. Sie stutzt über diesen Anblick; sie schaut zum zweitenmal nach ihm, als ob sie ihren Augen nicht traue, und stutzt wieder; dann läßt sie plötzlich ihrer Mutter Hand los, steht auf, schlägt ihre Arme um Camillen und ruft:)

O Camilla! –

(In diesem Augenblick steht Grandison in einer heftigen Bewegung auf, als ob er auf sie zugehen wolle; er wird aber von Jeronymo zurück gehalten.)

Jeronymo. Bleiben Sie auf Ihrem Stuhle, liebster Grandison! Lassen Sie uns die Wirkungen beobachten, die ein so unverhoffter Anblick auf das Herz des lieben Kindes macht.

(Clementina sieht indessen wieder unverwandt nach Grandison und ruft endlich mit aufgehobenen Händen:)

O Camilla, treue gute Camilla! – Nun endlich haben sie mir die Wahrheit gesagt! – Er ist es! er ist es!

(Nachdem sie dieß gesprochen, lehnt sie ihr Gesicht an Camillens Arm, ihre Thränen zu verbergen.)

Die Markgräfin (steht auf und nimmt Clementinens Hand). Siehe hier, mein Kind, den Chevalier, den Freund deines Bruders und den unsrigen! Willst du ihn nicht in Bologna willkommen heißen?

Grandison (nähert sich ihr, nimmt kniend eine von ihren Händen, die wie leblos ausgestreckt hängen, und drückt sie an seine Lippen). Verzeihen Sie mir, gnädige Gräfin Clementina –

(Clementina scheint, indem Grandison sich ihr nähert, vor allzu heftiger Bewegung beinahe ohnmächtig zu werden und lehnt sich an Camilla zurück; sie erholt sich aber wieder und blickt Grandison mit Augen voll Liebe und Zärtlichkeit an, ohne etwas Andres sagen zu können, als:)

Ach, Chevalier!

(Hierauf geht sie langsam nach der Thüre, dreht aber im Hinausgehen den Kopf um, um so lange, als ohne still zu stehen möglich ist, nach Grandison zu sehen. Die Markgräfin und Camilla folgen ihr.)


Neunter Auftritt.

Grandison. Jeronymo Der Bischof.

Grandison. Theure, englische Clementina! O, warum darf ich meinem Herzen nicht – Verzeihen Sie mir, gnädige Herren, – meine innerste Seele ist verwundet! – Diese Mischung von Martern und Entzückungen ist mehr, als das männlichste Herz ertragen kann!

Der Bischof (aufstehend). Wenn uns noch ein Zweifel übrig gewesen wäre, so würden wir jetzt wenigstens gewiß seyn! – O Chevalier! Sie sind meiner Schwester Alles! Sie müssen, Sie werden der Unsrige werden!

Grandison. Sie erweisen mir eine Ehre, gnädiger Herr, die ich wünsche verdienen zu können.

Jeronymo. Unser Glück, unsere Ruhe, mein Leben, Clementinens Leben ist in Ihrer Hand, Grandison! Sie haben es gesehen, wir Alle haben es gesehen, wie wichtig Sie diesem liebenswürdigen Geschöpfe sind.


Zehnter Auftritt.

Die Vorigen. Der Pater Marescotti.

Jeronymo (zu Marescotti). Sie. Herr Pater, müssen die Hand meiner Schwester mit der Hand dieses würdigsten unter den Männern vereinigen. Sie kann und soll keines Andern werden! Er ist der Erste, der jemals ihr Herz gerührt hat, und er allein verdient ein solches Herz zu besitzen.

P. Marescotti. Möchte doch ein Strahl vom Himmel eine Seele erleuchten, die für ihn gemacht ist! Möchten Sie, Herr Grandison, in die mütterlichen Arme der Kirche zurück kehren, die mit Sehnsucht nach Ihnen ausgestreckt sind. Wie glücklich würden Sie dadurch uns alle machen! – Ich komme diesen Augenblick von dem Markgrafen. Er hat die Veränderung schon erfahren, die mit der jungen Gräfin vorgegangen ist. Er hoffet, die Folge derselben –

Grandison. Lassen Sie uns den Himmel erflehen, ehrwürdiger Marescotti, daß diese Folgen glücklich seyn mögen! – Liebster Jeronymo, so empfindlich mein Herz ist, so sehr es gerührt ist, so bin ich doch unveränderlich entschlossen, ihm nicht den geheimsten Wunsch zu gestatten, solange die Gesundheit der theuren Clementina zweifelhaft ist. Ich bin über die anscheinende Hoffnung entzückt, die Sie von ihrer Wiederherstellung haben. – Möchte ich doch, wenn Jemand unter uns unglücklich seyn soll, der Einzige seyn, der es wäre! Ich würde mich bestreben, mein Unglück wenigstens erträglich zu machen; und der Gedanke, daß diejenigen glücklich wären, die ich am meisten liebe, würde es versüßen.


Eilfter Auftritt.

Camilla. Die Vorigen.

Camilla (zu Grandison). Gnädiger Herr, meine junge Gräfin wünscht Sie zu sehen. Sie macht sich Vorwürfe, daß sie das Zimmer so schleunig verlassen, ohne Sie willkommen zu heißen. Sie fürchtet, Sie beleidigt zu haben. Eilen Sie zu ihr, gnädiger Herr! Sie werden sie in dem kleinen Saale antreffen. Die Markgräfin ist allein bei ihr. (Sie geht ab.)

Jeronymo. Ich besorge, aus einem Traum zu erwachen, so erwünscht und über Alles, was ich hoffen durfte, sind die Veränderungen, die in dieser kurzen Zeit vorgegangen sind.

Grandison. Ich werde Sie wieder sehen, gnädige Herren, ehe ich den Palast verlasse. (Er geht ab.)


Zwölfter Auftritt.

Die Markgräfin. Clementina. Camilla.

Die Markgräfin. Fürchte dich nicht, mein Kind! du hast ihn nicht beleidigt. – Der Chevalier liebt dich, meine Clementina, du kannst ihn nicht beleidigen –

Clementina. Er liebt mich, sagen Sie? – O nein, nein, das thut er nicht! Und warum sollt' er mich lieben? – Aber, gnädige Mama, denken Sie nicht auch, daß der Chevalier undankbar ist?

Die Markgräfin. Undankbar? – Warum glaubst du das, mein Kind?

Clementina. Er wußte, wie unglücklich ich war, er wußte, wie grausam Laurana mit mir umging, er sah es und wollte mich nicht retten. Wie oft bat ich ihn! ich warf mich zu seinen Füßen, mit Thränen beschwor ich ihn; aber er hörte mich nicht! – Die unbarmherzige Laurana! sie hassete mich – aber jetzt – arme Unglückliche! sie ist dahin, und ich bete für ihre Seele.

Die Markgräfin (für sich). O mein Kind! o meine Clementina, wie zerreißest du mein Herz! – (Zu Clementinen.) Schaue auf, meine Liebe! siehe den Chevalier –


Dreizehnter Auftritt.

Grandison. Die Vorigen.

Grandison. Verzeihen Sie, gnädige Frauen! Ihre Erlaubniß macht mich so kühn – Wie befindet sich die theure Gräfin Clementina?

(Clementina steht auf, da sie Grandison erblickt, und schaut aufmerksam nach ihm – Darauf wirft sie ihre Arme um Camillens Hals und verbirgt ihr Angesicht, als ob sie sich schämte. Alsdann wirft sie wieder einen verschämten Blick auf Grandison, dann auf ihre Mutter, wechselsweise, als ob sie nicht schlüssig werden könnte. Endlich geht sie mit sachten Schritten gegen ihn, kehrt aber gleich wieder um, schlägt einen Arm um ihrer Mutter Hals und sieht Grandison mit einer holdseligen Unschlüssigkeit an.)

Grandison (indem er sich zu ihren Füßen wirft). Sehen Sie, gnädige Gräfin, den Mann, den Sie ehemals mit dem Namen ihres vierten Bruders beehrten – Kennen Sie den dankbaren Grandison nicht mehr, den Ihre ganze Familie mit ihrer Achtung beehrt hat?

Clementina. O ja, ja! ich kenne ihn. – Aber wo sind Sie diese ganze Zeit gewesen?

Grandison. In England, gnädige Gräfin, und ich bin erst kürzlich gekommen, Sie und Ihren Jeronymo zu besuchen.

Clementina. Der gute Jeronymo! – Ich habe ihn lange nicht gesehen. – Und Sie lieben ihn? Sie kommen, ihn zu besuchen? Das ist sehr gütig!

Die Markgräfin. Der Chevalier ist der beste, der großmüthigste Mann, mein Kind!

Clementina. Denken Sie das, gnädige Mama? – Aber mich dünkt, Sie sind sehr lange weggewesen, Chevalier! Warum kamen Sie nicht eher?

Grandison. Es war unmöglich, gnädige Gräfin! Ich hoffe, Sie halten mich keiner Undankbarkeit fähig. Das sehnlichste Verlangen meines Herzens ist allezeit gewesen, Sie und Ihren Jeronymo glücklich wieder zu sehen.

Clementina. Glücklich? – O, das kann niemals, niemals seyn! – Aber setzen Sie sich zu mir, Herr Grandison, ich habe Ihnen vieles zu sagen, sehr vieles –

Die Markgräfin. Wie entzücken mich diese Sonnenblicke der wiederkehrenden Vernunft! – Rede, liebstes Kind. Was hast du dem Chevalier zu sagen?

Clementina. Sie müssen wissen, Herr Grandison – Was wollte ich doch sagen? – Ach, mein Kopf! (Sie legt die Hand auf die Stirne.) Wohl! – aber Sie müssen mich jetzt verlassen – es ist etwas nicht recht – Verlassen Sie mich! – Ich kenne mich selbst nicht.

Grandison. Ich will mich entfernen, weil Sie es befehlen.

Die Markgräfin. Bleiben Sie noch, Chevalier! es ist eine Phantasie, die ihr bald wieder vergehen wird.

(Clementina sitzt eine Weile mit niedergeschlagenen Augen, wie in tiefen Gedanken; dann steht sie plötzlich auf, als ob sie fortgehen wollte.)

Die Markgräfin. Wo willst du hingehen, mein Kind?

Clementina. Ich will zu dem Pater Marescotti gehen – aber hier ist ja Camilla – Gehen Sie, Camilla, suchen Sie den Pater Marescotti – melden Sie ihm –

(Sie hält inne, als ob sie sich besinne.)

Melden Sie ihm, ich habe ein Gesicht gesehen – Er solle für uns Alle beten! (Camilla geht.)

(Nach einer kleinen Pause fährt sie fort.)

Sie weinen, liebste Mama? – Sie sehen mich traurig an, Herr Grandison? Sie verbergen Ihr Gesicht? Betrübe ich Sie? – O ich Unglückselige! warum lebe ich noch! ich mache Alle unglücklich, die mich kennen – und doch liebe ich alle Menschen, – auch die grausame unerbittliche Laurana, die kein Erbarmen mit mir hatte, ob ich sie gleich niemals beleidigt hatte. – Mir ist nicht wohl, gar nicht wohl; ich muß in mein Zimmer gehen – Folgen Sie mir nicht, Chevalier. Ihre Hand, gnädige Mama! Vergeben Sie Ihrem Kinde, haben Sie Mitleiden mit ihm! – O, Sie wissen nicht, was meinem armen Kopf ist! Ich bin nicht mehr ich selbst, nicht mehr die Clementina, die Sie liebten, die Jedermann liebte – Ach, Grandison!

Die Markgräfin. Du bist meine geliebte, meine theure Clementina; du bist es allezeit gewesen und jetzt mehr als jemals. Ich will dich in dein Zimmer führen. Du hast Ruhe vonnöthen. Leben Sie wohl, Chevalier, wir werden uns bald wieder sehen.

(Clementina sieht Grandison mit einem zärtlich traurigen Blick an und geht mit ihrer Mutter ab.)


Vierzehnter Auftritt.

Grandison allein.

Und kann ich endlich meinen Empfindungen den Lauf lassen? – Es ist Zeit! Der Anblick dieses leidenden Engels, ihre Unschuld, ihre Zärtlichkeit, ihr Unglück – und der entsetzliche Zwang, den mir eine grausame Pflicht auflegt, zerdrücken mein Herz! – O Clementina! Niemals haben meine Lippen dir gesagt, wie sehr ich dich liebe! – Hartes Verhängniß! grausame Nothwendigkeit! Ich darf weder reden, noch schweigen! Ich bin gezwungen, diejenige unglücklich zu machen, die ich liebe, und mich selbst eines Gutes zu berauben, für welches ich Welten hingäbe! – Warum, ach, warum wurden meine ersten Vorschläge nicht angenommen? Verwünscht sey dieser betrogne Eifer, der so viele Unglückliche macht! – Doch mein Schmerz macht mich unbillig! – Sie handelten nach ihren Grundsätzen, wie ich nach den meinigen. Sie halten sich berechtigt, ein Opfer von mir zu verlangen – kein geringeres, als mein Vaterland und mein Gewissen. – Ich kann keinen Augenblick unentschlossen seyn – Ach, Clementina, geliebte Clementina, theurer als mein Leben, theurer als Alles, was diese Welt geben oder nehmen kann, könnte ich deine Ruhe mit meinem Blut erkaufen! – Ich kenne, ich fühle ihren ganzen Werth, ich liebe sie, ich verehre sie. – Aber! o meine Religion! o mein Vaterland! ich kann, ich kann euch nicht entsagen! Was kann dieses kurze Leben versprechen, was kann es geben, das genug wäre, solch ein Opfer zu ersetzen?

 


 


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