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Taube Blüthen.

Taube Blüthen nennen wir am Baume die kleinen, verkommenen Blümchen, die nie zur rechten Entfaltung ihres Blüthenlebens kommen, die abfallen, ohne den Keim zur Frucht zurückzulassen, die vergebens entstanden und vergangen sind.

Auch das Menschenleben hat seine tauben Blüthen, Räthsel, welche schwachen oder grübelnden Gemüthern leicht zum Stein des Anstoßes, zum Grund des Zweifels werden können.

»Wir begreifen,« – so hören wir sagen – »daß die liebliche Blüthe abfallen muß, um der Frucht Raum zu geben, wir begreifen auch die Blumen, die nie Früchte tragen oder Nutzen bringen, ihr Lebenszweck ist die Schönheit, sie haben Herzen und Augen erfreut durch Duft oder Farbe; selbst das unscheinbare Blümchen am Rain, das Kinderhand im Spiel gepflückt, hat Vergnügen gemacht, die Blume der Wildniß noch, die kein Menschenauge erblickt, sie hat Honig gegeben für das Bienchen draußen, ein Ruheplätzchen für den irren Schmetterling, und sie selbst hat geblüht und sich gelabt in Sonnenschein und Morgenduft, – die alle haben nicht vergebens gelebt. Aber Blüthen in der Natur und im Menschenleben, die kein Herz beglücken, kein Auge ergötzen konnten, deren Dasein für sie selbst nie Genuß und Freude war, die nie etwas sein oder thun konnten für Andere, – wozu waren die erschaffen? Wenn es einen allweisen, allliebenden Vater gibt: warum hat er einen so matten Funken Seiner allbelebenden Kraft auf diese armen Wesen fallen lassen, zu wenig zum Leben, zu viel zu der glücklichen Unbewußtheit der Pflanze oder des Steins, die uns wenigstens nicht weh thun, auch wenn wir keinen Zweck ihres Daseins erkennen?

Das gläubige Gemüth ist gewiß, daß der Herr einst Antwort geben wird auf diese Frage, oder daß vielmehr Freunden und Feinden dereinst die wunderbare Harmonie all Seines Thuns so klar erscheinen wird, daß sie hinfort nicht mehr fragen. – Einige solcher tauben Blüthen habe ich am Wege aufgelesen, und ich möchte zeigen, wie weit mir auch hier schon die Bedeutung ihres farblosen Daseins klar geworden.

1.

Es war eine schwache Knospe, die abgefallen ist, ehe sie geblüht, aber sie schien in ihrem ersten Aufkeimen zu lauter Lust und Herzensfreude geschaffen: das erste Kind einer glücklichen Verbindung, mit Sehnsucht erwartet, mit Thränen des Dankes und der Freude begrüßt.

Wie wunderbar und wie lieblich kam das kleine Wesen den Eltern vor, wie schienen ihnen die Aeuglein schon so klug und in dem runden Gesichtchen die Familienähnlichkeit so ausgeprägt! Vater und Mutter waren gesund, glücklich begabt an Geist und Körper, verbunden in herzlicher Liebe, in einträchtigem Glauben und Streben, in innigem Verstehen, da mußte ja dieser erste Sprosse ein halbes Wunder werden an geistiger und leiblicher Blüthe!

Und sie saßen an der Wiege und wurden nicht müde, das schlafende Gesichtchen zu studiren, in dem andere Leute eben nur ein sehr gewöhnliches Menschenkind erblickten, sie machten im Scherz glänzende Plane, wie lieblich dieß Mägdlein erblühen werde und wie es dereinst alle Herzen gewinnen müsse. – Es ging sehr langsam mit dem Erblühen. Das erste Lächeln, auf das die Mütter so sehnlich hoffen, das sie oft so wunderbar bald schon erblicken, wollte nicht recht kommen, das Kind spielte nicht mit den Händchen, wie andere, das »Krägeln,« jene lieblichen halbbewußten Töne, die der Sprache vorangehen, so süß dem Mutterohr, – sie ließen sich nicht hören, das Kind gab kaum ein Zeichen, daß es die Mutter kannte.

Fremden fiel das bald auf, sie bemerkten den todten Blick, die ausdruckslosen Züge des langsam wachsenden Kindleins; die Mutter wollte es nicht sehen, sie wollte nicht, daß ihr Kind nicht sein sollte, wie andere Kinder; gern wollte sie, ja gern verzichten auf Schönheit und glänzende Gaben für den Liebling, es sollte sich nur entfalten wie das gewöhnlichste Kindlein, nur lernen und leben, und sich seines jungen Lebens freuen! »Es ist nur etwas langsam in seiner Entwicklung, weil es körperlich so viel zu leiden hat,« vertröstete sie sich.

Ach, und sie wußte es doch wohl! Das Mutterauge sieht schärfer und tiefer, als ein fremdes, und was uns Mutterblindheit scheint, ist oft nur ein Vorhang, den die besorgte Liebe sich selbst vor eine Wahrheit zieht, die ihr allzu weh thun würde. Sie sah es wohl, daß dieß Kind nicht war wie andere, und ihr Herz zog sich schmerzlich zusammen, wenn sie Kinder sah, um Monate jünger und doch blühender, lebensvoller und geistig aufgeweckter, als ihr armes Mägdlein, das vom Schlummer nur erwachte zu unruhigem Aechzen.

Sie sah es und sie wollte lange nicht, daß es so sei, ihr Herz erhob sich in heißer Bitte, in ungeduldiger Klage, aber zum Murren wurde die Klage nicht, sie fragte nicht: Herr, warum hast du uns das gethan? sie lernte ihre Seele stillen vor Gott. Wenn die dankbare Freude, einem angesehenen, geachteten, geistig begabten Geschlechte anzugehören, sich zu verzeihlichem Stolze gesteigert hatte, so ward ihr Herz jetzt allmälig gar stille und demüthig, sie fühlte erst recht, wie so gar nichts unser eigen, wie wir alles, alles von Gott empfangen haben, und es ward ihr gegeben, mit neidlosem Herzen auf andere Kinder zu sehen, die glücklich und fröhlich heranwuchsen.

Die Freude an dem Kinde war zu Leid geworden. Der unaussprechliche Jubel, mit dem Eltern jeden Tag eine neue Entdeckung machen, einen neuen Faden finden zu dem Bande, das das Kind an's Leben knüpft und an's Elternherz, die Hoffnung, daß das gebundene Leben doch noch sich befreien, noch erwachen werde in der kranken Hülle, schwand mehr und mehr, nur das Leid war geblieben um das getäuschte Hoffen, nur Sorge und mühevolle Pflege bei Tag und Nacht, denn das arme kleine Geschöpf wurde mehr und mehr kränklich und leidend, und – die Liebe war geblieben: geduldige, selbstvergessene, hingebende Liebe, der nicht eine Freude, nicht ein Dank, nicht ein Lächeln zum Lohne wird, und die doch unermüdet bleibt in zarter Sorge, innig und klagelos, Liebe, die allein aus dem reinsten Quell der Gottesliebe stammt.

»Und wenn es ein elendes Kindlein bleibt, schwach am Körper und arm am Geiste, übersehen, gemieden von den Frohen, Blühenden und Lebensvollen, es soll doch reich sein in unserer Liebe, und was seinem armen Leben werden kann, das wollen wir ihm geben!« Zu diesem Gelübde gaben sich die Eltern die treue Hand, in diesem Vorsatz fanden sie Frieden.

Das arme Kind sollte nicht lange dieser Liebe genießen, die es doch wohl unbewußt empfand, wie ein krankes Vögelein das Sonnenlicht; die trüben Aeuglein schlossen sich für immer, die Mutter, die es nie hatte schmücken dürfen für ein fröhliches Maienfest, hüllte es in sein weißes Sterbekleidlein, und es that ihr wohl, die stillen Züge unter den lieblichen Blumen zu sehen, die ihr Kindlein im Tode schmückten, das im Leben sich keiner Blüthe hatte freuen dürfen.

»In unseres Vaters Hause sind viele Wohnungen,« da mag es auch noch mildere Himmelsstriche geben, wo geschlossene Knospen, die keine Erdensonne entfalten konnte, sich öffnen dürfen in Licht und Freude. Andere fröhliche, gesunde und glücklich begabte Kinder sind in dem Hause aufgeblüht, aus dem man jenen kleinen Sarg getragen, heiteres Lachen und Scherzen füllt seine Räume; mit inniger Freude sehen die Eltern, wie junges, frisches Leben um sie aufblüht, wie neue geistige Elemente die traute Heimat beleben und sie selbst jung erhalten und heiter. Das kleine Grab draußen liegt stille und Niemand weiß mehr, wen es deckt.

Niemand? – Doch ja, ein Vater- und ein Mutterherz weilen in stiller Wehmuth an der vergessenen Stätte, sie kommen nicht oft dazu, den kleinen Hügel zu besuchen und zu bepflanzen; das Leben macht so viele Ansprüche. Aber wenn sie mit tiefem, demüthigem Danke ihre Kinder erblühen sehen, gesund an Geist und Körper, wenn sie gelernt haben, jede kleine Freude unmittelbar aus Gottes Händen zu nehmen, wenn sie streben, sich immer fester, immer inniger zu gründen im Glauben an die ewige Liebe, in deren unermeßlichem Reiche nichts verloren geht und nichts vergeblich ist; wenn so alle ihre Freude gehoben und geheiligt worden ist durch frühes Leid mit Gott getragen: – so sind das alles Blumen von jenem kleinen Hügel, unter dem das Kindlein schläft, das vor Menschenaugen abgefallen ist als eine taube Blüthe.

2.

In einem bitter-armen Hause, das kaum Raum und Brod hat für seine gesunden Kinder, ist neben diesen eines jener armen verkürzten Wesen aufgewachsen, die uns komisch erscheinen würden, wenn es nicht so unendlich traurig wäre, die edle Menschengestalt, das schöne Menschenantlitz, das Ebenbild Gottes, in so jämmerlicher Karrikatur zu sehen.

Groß und plump, mit ungefügen Gliedern, die zu keinerlei Gebrauche tauglich sind, ohne die leiseste Fähigkeit, Etwas zu begreifen oder zu thun, mit einem gesunden Appetit, der zwei Taglöhnern Ehre machte, scheint das unglückliche Wesen nur gerade zur Plage der Eltern geschaffen zu sein, die mit saurer Mühe das Brod für die gesunden Kinder erwerben und sehnsüchtig warten, bis diese im Stande sind, auch nur das Salz zu ihrer ärmlichen Suppe mit zu verdienen. Fast ist es Schade um den schönen Namen Marie, den das arme Geschöpf führt, das mit stierem Blick und blödem Lachen auf der Bank vor der Thüre sitzt, wohin sie am Morgen der Vater getragen. Gar mancher Vorübergehende seufzt bei sich: »Wozu ist denn auch die erschaffen! wie sind doch die armen Leute gestraft mit der Kreatur!«

Die armen Leute selbst scheinen nicht so zu denken, es hat sie noch Niemand klagen hören über diese wahrhaft schwere Heimsuchung. Der Vater muß früh fort an die Arbeit, die Mutter hat nicht viel Zeit, sich um die Blödsinnige zu bekümmern, aber so oft sie an ihr vorbeigeht, hat sie ein freundliches Lächeln, ein gutes Wort für sie oder steckt sie ihr ein Stückchen Brod, eine Kartoffel oder ein wenig dürres Obst in die Hand und freut sich des beifälligen Lachens, mit dem jederzeit der kleinste, wie der größte Bissen aufgenommen wird: »du liebe Zeit, sie hat ja sonst nichts Gutes!« sagt sie entschuldigend zu den Nachbarsweibern, denen das Luxus dünken könnte, »man muß ihr zu lieb thun, was man kann.«

Gegen elf Uhr scheint sich einiges Leben in den stumpfen Zügen der Blöden zu regen und mühsam dreht sich der ungefüge Kopf nach der Seite des engen Gäßchens, von wo der Weg aus der Schule führt. »Wer ist z'erst bei der Marie?« hört man den kleinen Christian von ferne schreien; »ich! ich!« rufen dreierlei Stimmen, und in athemlosem Wettlauf rennen drei Buben und ein Mädchen herbei, triumphirend hält sich das erste an der Schürze der Marie, die in unartikulirten Tönen ihre Freude zu erkennen gibt.

Selten kommt eines der armen Kinder nach Hause, ohne etwas für die Marie mitzubringen, sei es ein Apfel oder ein Stückchen Oelkuchen, das sie von einem wohlhabendern Kameraden erbeutet, sei's ein Streifen buntes Papier, ein Bildchen oder nur ein farbiger Glasscherben. »Die Marie versteht's gerade nicht, aber es freut sie doch!« belehren sie einander mit überlegener Einsicht, und die Blödsinnige ist vergnügt darüber, spielt eine Weile damit und läßt es dann fallen. »Und sie weiß, was zum Essen ist und was zum Spielen,« rühmt Christian als einen Beweis ihres Verstandes, »sie hat nur ein einzigs Mal einen Glasscherben in's Maul geschoben; es gibt viel rechte Kinder, die das noch nicht wissen: der Schuhmacherin ihr Kätherle hat einmal, wie's dunkel war, ihren Brei auf den Kopf geschmiert, statt in den Mund!«

Die Kinder wissen wohl, was jetzt die Marie will, wenn sie den Kopf nach einer andern Seite dreht; »sie merkt's! sie merkt's!« rufen sie wieder, als ob sie eine besondere Probe von Scharfsinn abgelegt hätte; auf dieser Seite steht nämlich ein Kinderwägelchen, das der Vater selbst ziemlich roh zusammengezimmert, gerade stark genug, um die plumpe Gestalt der Blödsinnigen zu tragen.

Nun handelt sich's darum, einen mitleidigen Nachbar oder Vorübergehenden zu gewinnen, daß er die Schwester hilft in's Wägelchen heben, denn die Kinder, selbst wenn die Mutter mithilft, kommen damit nicht zu Stande. »Sie ist gar schwer, wie der schwerst' Mann,« sagt Bruder Gottlieb wichtig, als ob sogar das noch eine Art von Ruhm wäre.

Nun aber lacht die Blöde und die Kinder mit, wenn sie im Wägelchen sitzt; zwei schieben und zwei ziehen, und je schneller es geht, je ärger das mangelhafte Fuhrwerk über die Steine holpert und poltert, desto lauter und fröhlicher wird das Lachen, als ob da ein besonderes Glück eingekehrt wäre; unermüdet ziehen und schieben die kleinen Buben und nur die mächtige Stimme des Vaters vermag sie zum Essen zu rufen.

Wer aber auch sonst mit Ekel und Widerwillen sich von der Blödsinnigen abwendet, der muß doch eine Freude haben, sie zu beobachten, wenn sie den Vater kommen hört, dessen Schritt sie aus allen kennt, besser als die gesunden Kinder. Da lacht das ganze Gesicht, da versucht sie die lahmen Arme zu heben, um ihre Freude auszudrücken, und einmal, meint man, müssen die Freudentöne, die sie ausstößt, zum wirklichen menschlichen Laute werden. Der Vater ist ein rauher Mann, aber diese rührende Freude des armen Geschöpfes ist der beste Beweis, daß sie, die er mit seinem sauren Schweiß nähren muß, ohne je den kleinsten Dienst, die geringste Hilfe von ihr hoffen zu dürfen, daß sie nie ein hartes Wort, eine rohe Begegnung von ihm erfahren durfte; – er lacht selten, aber sein Auge wird oft feucht, wenn er seine arme Marie liebkosend auf den Kopf patscht, wie unbegreiflich auch Andern hier eine Liebkosung erscheinen mag.

Der Vater trägt ohne Mühe die schwere Last hinein und setzt sie an den Tisch, den sie abermals mit wohlgefälligem Lachen begrüßt. Es geht oft schmal her an dieser Tafel, auch sind die Kinder des Hauses keineswegs Engel und man hört manchmal schreien: »Der Christian hat mehr als ich! Die Hanne hat schon zweimal gehabt und ich erst einmal! Der Peterle hat von mei'm Brod genommen!« wie denn solch mißtönendes Konzert zu Zeiten von Kindern sehr gebildeter Häuser aufgeführt wird, die ganz und gar keinen Mangel leiden. Aber wie sparsam auch die Bissen sein mögen, die Marie hat jederzeit ihren Teller voll. »Seht, ihr seid gesund, ihr könnt laufen und springen,« stellt die Mutter den Kindern vor, »ihr könnt euch an allerlei freuen, die Marie hat gar nichts auf der Welt, was sie freut als das Essen!« Und die Kinder sehen das vollkommen ein, nicht ein einzig Mal hat Eins von dem Antheil der Schwester begehrt oder neidisch darnach gesehen.

Auch mit der Kleidung der Familie ist es überaus sparsam bestellt: geflickt werden die Kleider, aber auf dieselbe Couleur kann man durchaus keine Rücksicht nehmen; die Beinkleider der Buben sind oft eine wahre Musterkarte, und an dem Werktagsröckchen der Hanne ist der Urstoff kaum mehr zu erkennen; die Ellbogen der Wämser werden nach guter alter Sitte mit ledernen Herzen etwas gesichert und Schuh und Strümpfe im Sommer nur am Sonntag getragen; die Marie aber hat jederzeit ein sauberes Gewand von starkem Barchent, im Winter sogar von grobem Biber und gute Schuhe und Strümpfe. »Nu das kommt mir unnöthig vor, Nachbarin,« meinte die Schlosserin von drüben, »bei dem ›Dakel‹ (Cretin) – Sie nimmt mir's nicht übel – ist's ja doch nicht angelegt, da würd' ich das neue Zeug doch lieber an meine gesunden Kinder wenden.« »Sieht Sie, Nachbarin,« entschuldigt sich die arme Frau, indem sie die Kränkung verbeißt über diese verächtliche Benennung ihres armen Kindes, »so ein arm' Geschöpf ist ohnedem von Jedermann gering angesehen und die Leute haben einen Daulen Ekel, Widerwillen. davor, da will ich sie doch ordentlich kleiden, daß ihr Anblick nicht noch widerlicher wird; meine Andern sind gesund und sauber, gottlob! und wenn sie groß gewachsen sind, so fragt kein Mensch mehr, was sie als klein zerrissen haben; und die Marie merkt's, sie merkt's, Nachbarin, wenn sie ein neu Gewand an hat, sie streicht dann ganz vergnügt daran hinunter.«

»Nun, es ist schön von Euch, daß ihr's so geduldig annehmet,« sagte die Nachbarin mit der rücksichtslosen Geradheit, mit der das Volk wunde Flecke berührt, »eine schwere Heimsuchung bleibt's doch, so ein Kind zu haben!«

»Mag sein, Nachbarin,« gibt die Mutter zu, »aber das Aergste ist's noch lang nicht. Da hat der Herr Regierungsrath drüben einen Sohn, das ist ein schöner junger Herr, stattlich und wohlgestalt mit seinem guten Verstand. Von dem haben sie aber nichts als Jammer, seit er zum Studieren fort ist: das eine Mal kommt er heim mit einer Schmarre im Gesicht, das andere Mal kommt er gar nicht; Schulden soll er haben, daß es ein Graus ist, und kein Examen kann er nicht machen. Nein, Schlosserin, so bittre Thränen, wie ich die arme Frau habe weinen sehen, da drüben an dem hintern Fensterlein, das zu uns herüber geht, so hat mich meine arme Marie noch keine gekostet. Unser Leid ist eins von Gottes eigener Hand, das ist leichter zu tragen.«

»'s ist wahr,« gab die Schlosserin zu, »Ihr könnet nichts dafür, wiewohl's auch Leute gibt, die meinen, man müsse sich besonders versündigt haben …«

»Hat mir auch gewurmt im Anfang,« sagte die Mutter, »wie ich gesehen hab', daß das arme Ding nicht wird, wie andere Leute, aber da verdank' ich's dem lieben Heiland tausendmal, daß er das Wort von dem Blindgebornen gesprochen hat: ›Es hat weder dieser gesündigt, noch seine Eltern, sondern daß die Werke Gottes offenbar würden an ihm.‹ Wie nun der liebe Gott an dem armen Tropfen dereinst sein Werk offenbaren wird, das ist Seine Sache, da brauch' ich mich nichts darum anzunehmen.«

»Ist Alles noch gut, so lange Ihr lebet,« war wieder das Bedenken der Nachbarin, »aber wenn Ihr vor dem Mädle sterben müßtet …«

»Am liebsten möcht' ich sie freilich einmal mit mir nehmen,« sagte die arme Mutter mit nassen Augen, »aber das weiß ich auch, so lang meine Andern ein Stück Brod haben, so lange kriegt die Marie auch ihren Theil daran. Ich hab's ihnen schon oft gesagt: wer einmal die Schwester nimmt, der übernimmt den Segen mit ihr. Und sie haben's auch schon miteinander ausgemacht: der Christian der lernt ein Handwerk und nimmt sie zu sich, die Andern legen dann zusammen zu einem Kostgeld, so thun Alle etwas an ihr.«

Ein Segen unter dem niedrigen Dache ist in Wahrheit dieß arme Geschöpf, das so Vielen erscheinen könnte als ein Fluch; wenn auch nicht ein Segen, der sich zählen und messen läßt. Ein Segen ist schon die Uebung uneigennütziger Liebe, und selbst in den kümmerlichsten Zeiten haben die armen Leute das Vertrauen auf Gottes Durchhilfe nicht verloren, »der liebe Gott thät's doch der armen Marie nicht zu Leid, daß wir Noth leiden müssen,« war ihr getroster Glaube, »die kann ja nichts dazu thun.«

»Ich möchte so gern auch oft ein besondres Gebet sprechen für unser armes Kind, beim Morgen- oder Abendsegen,« hatte die Mutter einmal ihrem Beichtvater geklagt, »aber ich finde kein paßliches Gebet, den Habermann und das Starkenbuch habe ich schon aus und ein gesucht, aber da kommt nichts für unsere Umstände.« Der Geistliche setzte ihr ein kurzes Gebet auf, das wurde nun mit besonderer Andacht jedesmal nach dem Abendsegen gesprochen: »Lieber Heiland, nimm unter die Flügel Deiner ewigen Erbarmung auch unser armes Kind, das Herz und Hände nicht zu Dir erheben kann. Dein Geist wolle sie vertreten mit unaussprechlichem Flehen und Seufzen. Uns aber laß nicht müde werden in Geduld und Liebe, auf daß wir freudige Herzen haben am Tage Deiner Zukunft, wenn uns Dein verborgener Rath dereinst offenbar wird.«

Und so oft sie diese Worte sprechen und hören, zieht durch die einfältigen Herzen eine Ahnung der seligen Zukunft, wo auch die ängstlich harrende Kreatur wird erlöst werden zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.

Und wenn diese taube Blüthe einst abfallen wird vom Lebensbaume, können wir dann sagen, daß das arme Wesen, das nie ein Lebensgefühl gekannt, das nie geblüht und keine Frucht getragen, können wir sagen, daß es vergebens gelebt?

3.

In goldener Sommerfrüh führten sie einen Sarg hinaus, reich bedeckt mit Blumen und Kränzen, all das traurige Schwarz war überkleidet mit der bunten Herrlichkeit, ein Zug blühender junger Mädchen folgte dem Sarge; es war ein Mägdlein von sechzehn Jahren, das sie zur Ruhe geleiteten.

Sechzehn Jahre! wer denkt sich da nicht eine liebliche Rosenknospe? ein blühendes, fröhliches Geschöpf, so recht in der ersten, hellen Lust und Freude des Daseins, und blickt mit tiefer Wehmuth der Schlummernden nach, die so frühe scheiden mußte, so lange ihr das Leben noch so schön war.

Ach, dem ist nicht so, und wer das Kind gekannt hat, der seufzt: wie gut hat's doch der liebe Gott gemacht, daß er das arme Geschöpf heimgerufen hat!

Wer den Werth des Lebens nur in dem sucht, was er genossen und was er gethan hat, für den ist dieß Leben ein vergebliches gewesen, denn die, die sie nun einsenken unter dem Gesang:

Ei wie so selig schläfest du
Nach manchem schwerem Stand,

die hat nichts genossen hienieden und nichts gethan, – sie hat nur gelitten. Doch nein, das wäre zu viel gesagt, sie hat auch geliebt und hat Liebe genossen, darum ist sie freilich kaum eine taube Blüthe zu nennen. So früh hatte die Leidensschule begonnen für die arme Gertrud, daß sie sich nie einer Zeit erinnerte, wo sie gesund und fröhlich gewesen wäre, nie einer Stunde ganz frei von Schmerzen. So lange sie wußte, lag sie im Bette oder saß im Lehnstuhl, gekrümmt, gelähmt, von Gliederweh oder von Brustschmerzen gequält. Die Mutter wußte wohl, daß sie einst ein liebliches kleines Kindlein gewesen, weiß und roth mit blauen Aeuglein, den klaren blauen Augen, die auch bis zum Tode noch die einzige Schönheit des schmerzverzogenen Gesichtchens blieben. Aber früh hatte das Leiden angefangen: die englische Krankheit, und wer weiß, was für andere Krankheiten noch, hatten gar bald das zarte Kind befallen, und das einzige Wunder war nur, wie es so lange hatte leben können.

Und doch hat sie nicht geklagt und doch hatten die schmalen Lippen ein Lächeln, die blauen Augen einen freundlichen Blick für Jeden, der an ihr Schmerzenslager trat. Nicht einmal hatte sie gefragt: »Mutter, warum muß ich so viel leiden?« sie fragte nur: »Mutter, warum sind denn alle Leute so gut gegen mich?« und wenn die Mutter fragte: »Warum klagst Du denn nie, arme Gertrud, wenn Du so viel Schmerzen hast?« da antwortete sie lächelnd: »ei, das wäre langweilig für Euch, wenn ich immer seufzen wollte, da käme Niemand mehr gern zu mir! Dir allein sag' ich's wohl, Mütterlein,« und sie ließ das müde Haupt an der Mutter Brust sinken: »Du bleibst doch bei mir.«

Die Mutter freilich, die wachte über ihr mit doppelter Liebe und war unermüdet, alles aufzufinden, was ihr Leiden lindern, die einförmigen Tage erheitern konnte; fröhlich konnte nun die arme Kranke wohl nicht sein und ein lautes Lachen hatte man nie von ihr gehört, aber heiter konnte sie werden und ihr Lächeln hatte etwas unbeschreiblich Liebliches, wenn es einem auch die Thränen in die Augen trieb.

Auch einförmig dünkte ihr das Leben nicht, das Andern so unendlich trostlos erschien; sie erlebte gar viel und mancherlei: eine neue rosenrothe Bettdecke schon war ein erfreuliches Ereigniß, alle kleinen Familienfeste wurden vor ihrem Bette gefeiert, sie selbst mit ihren schwachen Händchen ordnete die Geburtstagsbescherung und lächelte glückselig über die Ueberraschung des Beschenkten. Zu Ostern wurden die bunten Eier in ihrem Stübchen versteckt, sie saß dann meist schneeweiß angekleidet in dem bequemen Lehnstuhl, den ihr die Großmutter geschickt, und vergaß für eine Weile ihre Schmerzen in dem Interesse, mit dem sie den kleinen Geschwistern zuschaute beim Suchen, bis endlich die verborgenen Schätze gefunden waren. Auch für sie selbst fanden sich immer noch kleine Ueberraschungen, obschon all der Schmuck des Lebens, all die kleinen Bedürfnisse, um die sich Mädchenwünsche sonst drehen, für sie nicht vorhanden waren. Sie brauchte kein neues Kleid, keinen Sommerhut mit Rosabändern, keine künstlichen Blumen und seidenen Schleifen, kein Sonnenschirmchen, kein Arbeitstischchen mit zierlichem Geräth, – aber sie brachten ihr schöne Blumengläser mit immer frischen Blumen, Kleinigkeiten zum Schmuck ihres Zimmers, ein goldgelbes Kanarienvögelchen in einem glänzenden Käfig, hübsche Bilder und Bücher. Vor allem Bücher! Da glänzten ihre blauen Augen und das lieblichste Lächeln erhellte ihr mattes Gesicht, wenn ein neues Buch kam; »ach lieber Gott,« konnte sie aus tiefster Seele sagen, »wie gibt es doch so viel Gutes und Schönes!«

Aber all diese kleinen Freundlichkeiten können doch nur kurze Sonnenblicke werfen in ein so trauriges Dasein, von ihnen konnte das Friedenslicht nicht ausgehen, das über diesem kranken Antlitz lag. Es war auch nicht immer so gewesen. Die Krankheit hatte früher noch Zwischenräume gelassen, in denen die Hoffnung auf Gedeihen und Genesung wieder auflebte, und die Mutter hatte Liebe und Zärtlichkeit, hatte aufopfernde Pflege für sie, – Ergebung in des Kindes Leiden hatte sie nicht. Sie wollte dieß Leben gewaltsam dem Leiden abringen, sie gebrauchte Aerzte, Hausmittel, Wundermänner, Kuren aller Art, in jede setzte sie wieder ihre Hoffnung und weckte diese Hoffnung bei dem Kinde selbst; sie kaufte ihr hübsche Kleider und legte sie bereit, daß sie darin ausgehen könne, wenn es nun bald besser werde, sie erzählte ihr von allen Freuden der Welt, die für die Gesunden blühen, um sie zu erheitern und ihre Hoffnung zu beleben, – vergeblich; auf gute Tage folgten wieder schlimme Wochen und Monate, sie mußte Kleid und Hütchen wieder in den Kasten tragen, damit ihr Anblick das arme Kind nicht betrübe. Das Alles erhielt die Kranke nur in peinlicher Aufregung und die Mutter war nahe daran, die Vorsehung anzuklagen, die dem armen Kind auch nicht die kleinste Freude gönne; Gertrud selbst wurde mitunter verstimmt und übellaunig, verbittert gegen die Frohen und Gesunden.

»Wir wollen beten, Gertrud, recht ernstlich beten,« sagte endlich die bekümmerte Mutter, »ach, ich habe ja so oft schon vergeblich gebetet um Deine Gesundheit, nun wollen wir es miteinander thun; ist ja doch verheißen in der Bibel: wenn Zwei unter euch Eins werden um was sie bitten wollen von meinem Vater, das wird er euch geben – so muß er's doch gewähren.« Und sie beteten heiß und inbrünstig, Mutter und Kind; von der Zeit an begann Gertrud, deren Geist sich unter allen Leiden früh entwickelt hatte, selbst in dem heiligen Buche zu lesen und zu forschen, aus dem sie gerne bis jetzt den einzelnen Geschichten und frommen Sprüchen gelauscht hatte.

Auf kurze Besserung folgte wieder ein trauriger Rückfall. Mit unsäglicher Herzensbitterkeit saß die arme Mutter, als der heftige Anfall vorüber war, an dem Schmerzenslager des Kindes: »es ist alles vergeblich,« sagte sie mit tonloser Stimme und ihr trüber Blick sah erstaunt auf dem bleichen Gesichtchen ein so liebliches, friedevolles Lächeln, wie nie zuvor.

»Ist Dir's besser, arme Gertrud?« fragte sie.

»O viel besser in meinem Herzen,« sagte die Kranke leise, »es war nicht vergeblich gebetet, Mutter.«

»Aber Du bist ja schwächer als je, Du armes Kind!«

»Der Herr hat mir doch keinen Stein gegeben für Brod,« sagte Gertrud mit sanftem Lächeln, »ich weiß nun, daß er mir etwas Besseres geben kann, als Gesundheit, es ist mir so wohl im Herzen, o Mutter, jetzt kann ich gerne warten, bis ich gesund werde, oder – bis ich heim darf.«

»Aber Er hat unser Gebet doch nicht erhört!« warf die Mutter ein, die für das sanfte, geduldige Kind noch viel heißeres Mitleid fühlte, als zuvor für das klagende.

»Wir haben nicht so gebetet, wie der Heiland selbst, mit dem Schlusse: nicht wie ich will, sondern wie Du willst!« sagte Gertrud, die in den letzten Tagen gar viel über das alles nachgedacht.

»Aber der Herr hat alle Kranke geheilt, alle! kann er das nicht jetzt noch?« beharrte die Mutter mit dem Eigensinn eines kranken Herzens, während es ihr doch süß und wunderbar klang, sich trösten, ja belehren zu lassen von dem Kinde, das so schwach und hilflos vor ihr lag.

»Das war ja zu der Zeit, wo sie alle noch nicht wußten, daß es der Herr war,« sagte Gertrud mit der zweifellosen Sicherheit eines gläubigen Herzens, »da mußten sie Ihn erst erkennen lernen; wir wissen das jetzt alles gewiß und brauchen kein neues Wunder mehr, wir können wohl Geduld haben, wir sind ja sicher, daß ein seliger Himmel auf uns wartet.«

Und dieser süße Friede blieb dem Kinde eigen durch alle Leidenstage, die sie noch zu durchleben hatte; jetzt erst, nun sie ihre Seele und all' ihr schmerzliches Geschick ganz in Gottes Hand gelegt, fand sie auch die Fähigkeit, sich am Kleinsten zu freuen, und die Geschwister, die sonst nur aus Pflichtgefühl mit einer gewissen Scheu sich der kranken Schwester genaht hatten, fühlten unbewußt die reine höhere Lebensluft, die das kranke Kind umwehte, und ihr Stübchen wurde allmälig der liebste Sammelplatz der kleinen Familie.

Arbeiten konnte sie selten; die wenigen Kleinigkeiten, die ihre verkrümmten Fingerchen mühsam zu Stande gebracht, wurden mit bewunderndem Jubel aufgenommen und wie Kleinode verwahrt. »Das hat unsere Gertrud gemacht!« rühmten die Geschwister und konnten nicht begreifen, daß Andre nicht in gleiches Erstaunen über diese kümmerlichen Arbeiten geriethen. Aber lernen wollte sie, mehr als für ihre schwache Kraft zuträglich war; mit ihren hellen klugen Augen sah sie so verständig in die Augen des Lehrers, machte so eingehende, ernste Fragen, daß der meinte: »man muß sich wahrhaftig zusammennehmen bei dem kleinen Mädchen.« Man gestattete ihr nur wenige Lehrstunden mit Rücksicht auf ihre zarte Gesundheit, aber sie hatte so gut Zeit zum Nachdenken und that das in jedem etwas schmerzfreien Augenblick. »Warum plagst Du Dich denn mit Lernen, Gertrud?« fragte der Bruder, dem Grammatik und Wörterbuch keineswegs als Genußmittel erschienen, »Du brauchst's ja nicht, Du kommst doch nicht unter die Leute, an Deiner Stelle thät' ich nur unterhaltende Geschichtenbücher lesen!«

»Weißt Du«, sagte Gertrud, »ich habe einmal gelesen, all' unsere Stunden seien Fruchtkörner, uns gegeben, daß sie verarbeitet werden zu Brod, das uns nähre und stärke in Zeit und Ewigkeit, da denke ich denn, wenn ich gar nichts thue, so ist's, wie wenn ich das Korn auf den Boden werfen würde, wo es verdirbt, darum will ich lieber probiren, Brod daraus zu gewinnen.«

Neben all' der kindlich rührenden Freude, mit der sie an den kleinsten Gaben des Lebens sich ergötzen konnte, lebte eine tiefe, geduldige Sterbenssehnsucht in dem Kinde; das war natürlich, aber es ist nicht so bei allen Leidenden; Gertrud jedoch war ganz und vollkommen daheim mit ihren Gedanken in der seligen Heimat, die sie erwartete, war fertig in jedem Augenblick zu gehen! Und doch wurde sie nicht so bald gerufen!

Der Tod kehrte ein in dem Hause, er nahm nicht das müde, sterbensfreudige Kind, die Mutter war es, die heimgerufen wurde inmitten ihres Tagewerks, die mit schwerem, sorgenvollem Herzen den Kreis ihrer Kinder überblickte, vor allem ihr Schmerzenskind, dem sie noch so nöthig war. »O, ich wollte, ich könnte Dich mit mir nehmen!« seufzte sie aus tiefstem Herzen, wenn die arme Gertrud sich mühsam an ihr Lager geschleppt hatte und durch die strömenden Thränen sie so innig liebevoll ansah. »Bitte Gott, daß ich bald kommen darf!« war alles, was Gertrud erwidern konnte. So wie die Andern konnte sie nicht klagen und jammern an der Leiche der Mutter, sie mußte es ihr gönnen, daß sie schon heim durfte, Sterben dünkte ihr so schön! Sie klagte nie über das Vermissen all' der kleinen Liebesdienste, die ihr die Mutter geleistet, auch war ein freundlicher Wettstreit unter den Geschwistern, sie nichts vermissen zu lassen, und das kranke, schwache Kind wurde allmählig zur geistigen Autorität des Hauses. »Gertrud ist so gescheidt,« wurde oft mit Stolz von ihr gerühmt, wenn sie einen Ausspruch Gertruds erzählten. In Gertruds Stübchen wurde die Morgen- und Abendandacht gehalten, Getrud überhörte geduldig alle Schulaufgaben und half nach bei Aufsätzen. »Zu viel darfst Du mir nicht helfen,« meinte zwar die Schwester, »weißt, was Du mir sagst, ist gleich so schön, dann merkt der Herr Maier, daß ich's nicht selbst gemacht!« Alle kleinen Anliegen und Sorgen des mutterlosen Hauses wurden Gertrud vorgetragen, weil Gertrud so gescheidt war! »Sagt mir's nur am Abend,« bat sie, »dann kann ich mich bei Nacht darüber besinnen.« Das arme Kind genoß selten eine Stunde ruhigen Schlafs! Und am Morgen hatte sie sich dann besonnen, gab lächelnd ihre Meinung ab, und freute sich innig, wenn ihr Rath gut und brauchbar gefunden wurde. Sie redete nicht viel von der verstorbenen Mutter, aber sie schien in stetem Verkehr mit ihr zu leben, in geduldiger Hoffnung, ihr bald zu folgen; nichts machte sie betrübt, als die Bemerkung des Doktors, die sie einst gehört: daß Leute wie sie steinalt werden können.

Eine zweite Mutter kam in das verwaiste Haus, ein jugendlich anmuthiges Gesicht beugte sich über die arme Kranke und versprach ihr, mit mütterlicher Treue ihrer zu pflegen. Sie hat Wort gehalten und mit inniger Liebe rankte sich das schwache Pflänzchen an der neuen Stütze empor. Mit frischem Muthe begann die junge Mutter allerlei Versuche, dem Kinde aufzuhelfen – es war vergeblich, aber Gertrud empfand die Liebe darin und schmiegte sich glückselig an die schöne, junge Mutter, wenn sie hie und da an ihrer Seite in's Freie fahren durfte. »Es ist so schön, daß Du da bist,« sagte sie, »so haben wir eine Mutter im Himmel und eine auf Erden, und wenn ich sterbe, so sind die andern nicht allein.«

Es blieb nicht lange so. Die junge, blühende Frau mußte ein neues Leben mit ihrem eignen erkaufen, und das leidensvolle Dasein der armen Gertrud sollte noch nicht enden! Sie war fast noch schmerzlicher betrübt, als bei dem Tode der ersten Mutter, sie konnte es dießmal viel schwerer begreifen, warum es so kommen mußte; »aber ich werde es bald erfahren,« sagte sie endlich in stiller Ergebenheit.

Allzu lange durfte sie nicht mehr warten, doch sie mußte noch den Kelch des Leidens bis auf die unterste Hefe leeren. Aber sie blieb geduldig und ergeben, freudig in ihren lichten Augenblicken, in seliger Erwartung des nahen Zieles.

Die schönste der Blumen, Grandiflora, die Königin der Nacht, die nur wenige Stunden inmitten der Nacht ihre stille Schönheit enthüllt, schließt die weißen Blätter über dem goldnen Kelch, ehe sie welkt, und nie hat ein irdischer Morgen ihre strahlende Lieblichkeit gesehen.

Diese Blüthe, deren verborgene Schönheit kein irdisches Auge gesehen, schloß sich auch noch vor dem Welken, ihre letzten Stunden waren unbewußt, unbewußt wenigstens der Leiden, der schweren Kämpfe, welche endlich die schwache Hülle sprengten; ob die Seele in diesen dunklen Stunden geheime Zwiesprach gehalten mit dem Herrn, der ihr nun die Pforten der ewigen Heimat offen hielt – wir wissen es nicht.

Wird sie nun wohl ihr trübes Dasein beklagen, wird sie eines der jungen Wesen beneiden, die in frischer Blüthe und gesunder Kraft, in fröhlichem Genusse des jungen Lebens, in heiterer Erwartung künftiger Freuden neben ihr aufgeblüht sind? – ich glaube nicht.

»Ach, wie gut ist's, daß der arme Tropf endlich gestorben,« meinten so Viele, »wozu hat sie aber gelebt? War doch ihr Leben nichts als ein Leiden für sie selbst und eine Plage und Mühe für Andere!«

Die werden nicht so fragen, die den verborgenen Reichthum dieses Herzens, den tiefen Frieden dieses leidensvollen Daseins erkannt, die nicht, denen an diesem Schmerzenslager die Wahrheit einer höhern Welt klar geworden, die an diesem stillen Grabe um Kraft gebetet, auch solchen Frieden zu erringen.

Sie hat nie geblüht in Lebenslust und Freude, sie hat nie wirken und schaffen können für sich und Andere – eine taube Blüthe in Menschenaugen, und doch hatte der Herr den Keim zu köstlicher Frucht in sie gelegt.



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