Theodor Wolff
Pariser Tagebuch
Theodor Wolff

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Zweiter Teil
Pariser Tagebuch

Der Sündenbock

(März 1900)

Die Leiche des Grafen Benedetti wird heute nach Bastia überführt. Wie der Polizeipräfekt Pietri und wie viele andere, die am kaiserlichen Hofe eine Rolle gespielt, war Benedetti ein Korse. Man kann sagen, daß die napoleonische Insel Frankreich beherrschte – sie lieferte dem Napoleonismus die Kreaturen und Werkzeuge, die er brauchte: diese Sorte von Beamten- und Politikertum, die in den romantisch verworrenen, auch heute noch nicht recht durchsichtigen Verhältnissen auf Korsika so gut gedeiht. Wer die Memoiren des Polizeichefs Claude und ähnliche Bücher gelesen, erinnert sich, daß fast jedesmal, wenn ein besonders verschlagener Spitzel erwähnt wird, der Zusatz nicht ausbleibt: »Er war ein Korse.« Die Korsen Zampo und Griscelli spielen in den Polizeiromanen des zweiten Kaiserreichs eine ebenso wichtige wie bedenkliche Rolle. Wenn man Monsieur Claude glauben will – was freilich nicht immer ratsam sein mag – befreiten sie den Kaiser von seiner lästig gewordenen Jugendliebe, Miß Howard, und von einigen Verwegenen, welche der schönen Eugenie nicht nur aus respektvoller Entfernung huldigen wollten. Wer Daudets »Nabob« gelesen, kennt einige andere korsische Typen: die Inselpolitiker, die auf den Pariser 150 Boulevards ihren alten heimischen Räubergewohnheiten nachleben. Überall, wo in wahren und erdichteten Geschichten ein Korse auftritt, ist er schlau und überlegen. Seit dem ersten Napoleon scheinen nur ganz geriebene Schelme auf Korsika geboren worden zu sein. Diese Insel erscheint ein wenig wie ein französisches Ithaka.

Der einzige bekanntere Korse, der nicht ein geriebener Schelm war, war der arme Benedetti. Ich glaube wenigstens, daß die größte Sünde, die man ihm vorwerfen kann, die war: er war ein Korse und doch nicht schlau. Wer die Geschichte und die geschichtlichen Persönlichkeiten nach der Darstellung der Kutschke-Lieder beurteilt und sich mit der volkstümlichen Poesie begnügt:

»Wilhelm sprach zu Benedetti:
Sie ereifern sich unnötig . . . .«

der wird wahrscheinlich in dem unglücklichen Abgesandten des Herzogs Gramont einen nichtswürdigen Schurken sehen, dem kein Ehrenmann mehr ein mitleidiges Wort gönnen darf. Aber was die Kutschke-Lieder und Geschichtslehrer in der Quarta erzählen, bedarf manchmal ein bischen der Nachprüfung. Und ich glaube, diese Nachprüfung ergibt, daß Benedetti vor allem den Fehler hatte, weniger schlau zu sein als sein großer Gegner Bismarck – daß er unendlich naiv war, als er dem Grafen Bismarck den schriftlichen Plan für die Teilung Belgiens in der Hand ließ, und daß er auch in Ems mehr tolpatschig ungeschickt als hinterlistig und ränkevoll war. Er war ein ganz kleines und ziemlich ahnungsloses Werkzeug, dessen sich bald der eine und bald der andere bediente. Ein sehr verwässerter Korse . . . .

151 Und dieser Mann war dreißig Jahre lang unglücklich und litt dreißig Jahre lang, weil er der Sündenbock, die »Tête de Turc« war und weil all die guten Pharisäer mit Steinen nach ihm warfen. Er hatte den Krieg verschuldet, er hatte Elsaß-Lothringen verloren. Als er eines Tages in die Couloirs der Kammer kam, wich alle Welt ihm aus, und die klugen Deputierten und Jonrnalisten zeigten mit Fingern auf ihn und sagten: »Dort kommt der Schuldige!« Diese klugen Leute – und auch diejenigen der früheren liberalen Opposition – hatten vielleicht gar keine besondere Berechtigung, so die Entrüsteten zu spielen, denn es war überall gesündigt worden, in Ilium und außer Ilium. Aber erst im Laufe der Jahre nahm der Haß gegen Benedetti, gegen den Sündenbock, ein wenig ab.

Von den Großen der Napoleonischen Krone sind jetzt nicht viele mehr am Leben. Von den Generälen starb zuletzt Bourbaki, in dem stillen Provinzschlupfwinkel, in dem er, als ein Dominospieler und ein Philosoph, den Tod erwartet hatte, den er einst freiwillig, aber erfolglos gerufen. Nur der Liebling der schönen Masken, der Vortänzer im Kotillon und in der Schlacht, der Marquis de Gallifet, ist noch sehr lebendig. Der alte Oberst Stoffel sitzt mir täglich im Restaurant gegenüber, immer elegant, immer peinlich sauber und immer allein, und verzehrt sein mit größter Sorgfalt gewähltes Dejeuner. Emile Ollivier, der mit so ausgesuchtem Mißgeschick dem kaiserlichen Hause am Tage vor dem Zusammenbruch zu dienen begann, tröstet sich mit seinem Sitz in der Akademie – in die er offiziell nie aufgenommen wurde – und veröffentlicht alljährlich einen 152 Band über das »Empire liberal«. Er hat die Mahnung Marc Aurels zum Motiv gewählt: »Mögen all deine Worte den Akzent heroischer Wahrheit haben!« – und es ist etwas Heroisches, wenn nicht in seinen Worten, so doch in seinem Tun: er hat seit 1871 zwanzig Bücher geschrieben, die zusammen nicht zwanzig Leser gefunden haben. Die Exkaiserin Eugenie endlich kommt mindestens einmal im Jahre nach Paris. Sie wohnt im Hotel Continental, gegenüber dem Jardin des Tuileries, und betrachtet aus ihrem Fenster den Platz, auf dem einst ihr Feenschloß gestanden hat. Die Leute fragen sich oft, »welchen Gedanken sie wohl nachhängt, wenn sie so auf den Tuileriengarten blickt.« Vielleicht aber hat diese alte Dame, die nie mehr war als eine schöne, bigotte und kokette Spanierin, weit weniger tiefe Gedanken als man glaubt.

Auch Benedetti hat nach dem Kriege geschriftstellert, wenn auch sehr viel weniger eifrig als Ollivier. Er hat »Ma Mission en Prusse« veröffentlicht, um sich vor seinen Zeitgenossen und vor der Nachwelt zu rechtfertigen. Wer aus diesem Buche noch nicht erkennt, daß der Verfasser nur ein armer, kein schlimmer Teufel war, erkennt es aus dem ersten Bande von Bismarcks Memoiren. Der Graf Benedetti galt am kaiserlichen Hofe vielleicht als ein sehr feiner Kopf, weil alle Korsen so geriebene Schelme waren. Aber der Graf Benedetti war kein sehr feiner Kopf und auch kein geriebener Schelm, sondern ein Diplomat. 153

 


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