Theophil Zolling
Die Million
Theophil Zolling

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XXIX.

Schon mehrere Wochen dauerte der Ausstand, und noch war kein Ende abzusehen. Angesichts der Nachgiebigkeit der Arbeitgeber, die bereits den Zehnstundentag bewilligt hatten, wurden vom Strikeausschuß immer neue Forderungen erhoben und der Lohnkampf mit Absicht verlängert. Eine große Niedergeschlagenheit, durch seinen häuslichen Kummer vertieft, hatte sich Hans bemächtigt, der den stolzen Bau seiner sozialen Reform kläglich zusammenbrechen sah. Doch aller Ärger und Gram vermochte seine Herzensgüte nicht in Galle zu verwandeln, und darum ließ er auch die Insassen des Fischerhauses ruhig in ihren Wohnungen. Zu arbeiten brauchten sie nicht, die Strikekasse, die Pinzger immer bei sich trug, war dank der Unterstützung der Genossen von Fern und Nah fürs erste leidlich gefüllt, Holz und Kohlen für Küche und Ofen stahl man im Fabrikhof, und so lebte es sich ganz angenehm im süßen Nichtsthun, dem man ein hübsches sozialpolitisches Mäntelchen umhängen konnte. »Herr Lenz,« sagte der sich furchtbar langweilende Spinnmeister, der auch seinen Jakob nicht gerne so lang unthätig sah, »wenn die Tagediebe nicht exmittiert werden, so zweifelt der Ausschuß noch immer an unserem Ernst und verbreitet das Märchen, daß wir bald zu Kreuz kriechen müssen. Also raus mit der Bagage!«

Hans sträubte sich vor dieser grausamen Maßregel, weil er trotz allem auf baldigen Frieden hoffte und zum Wiederbeginne seine Arbeiter gleich bei der Hand haben wollte, aber nun drangen Heller und der Konsul ebenfalls in ihn und bestätigten die Schädlichkeit dieser übel angebrachten Milde. So mußte er also die armen Leute wirklich ausweisen! ... In einem langen Zuge, Frau Mila mit Mann und Tochter an der Spitze, verließen sie bei Eis und Schnee den Fabrikhof, der mit seinen Gebäuden und Lagerplätzen bald wieder so öde wie damals stand. Indes war nicht alles Leben erloschen. Täglich wurde die Dampfmaschine geheizt und der ganze Betrieb in Gang gesetzt, um das Rosten der Maschinen zu verhindern. Hitschold hatte schweren Herzens seine Pferde verkauft und brütete nach wie vor mit Hans über den Büchern. Hinnen und Sohn widmeten sich der Kaninchenzucht, wofür ihnen Fabian aus einer alten Bobinenkiste einen Stall gezimmert hatte. Janko machte sich wie in seinen jungen Jahren mit Mauerpinsel und Mörtelmulde auf, um Spinnsäle und Treppenhaus frisch zu weißen. Zobel flickte auf leisen Sohlen das schadhafte Fabrikdach. Lux hütete das Thor, denn er war nur Portier, aber was für einer! ... Auch die Familie Fabian ging nicht müßig. Außer ihrem eigenen Hausstande besorgte die Frau noch immer des Spinnmeisters Junggesellenwirtschaft, die einen so unerwünschten Zuwachs erhalten. Fabian aber hatte seinen Photographenapparat hervorgeholt, nahm mit Lene alle Teile der Fabrik und die Villa auf und versuchte sich aus Freundschaft oder gegen billige Bezahlung auch in Bildnissen.

In diesen Tagen kehrte Hugo Mila aus dem Krankenhause zurück. Es war ein Sonntagmorgen, als Lene in ihrem Zimmerchen ein lautes Pochen auf der Treppe vernahm. Wer kommt da in Holzpantinen am Sonntag? fragte sie sich. Und da klopfte es schon an ihre Thür, und fahl und abgezehrt, ein Bild des Jammers, stand der Krüppel vor ihr. »Hugo! Um Gotteswillen!« schrie sie auf und wollte unwillkürlich ihn stützen.

»Laß mich,« sagte er mit mattem Lächeln, »sonst fall' ich lang hin.« Mühsam humpelte er auf seinen Krücken zum nächsten Stuhle. Kein trauriges Wort kam über seine Lippen, aber sein Antlitz war für sie schon Vorwurf genug, »Du siehst, nun ist bei mir alles wieder im Trab, Lene. Freilich, militärtauglich bin ich nicht mehr, und gerade auf die Kommißhosen habe ich mich so mächtig gefreut.«

»Hugo, Hugo,« rief sie aus, »warum hast Du das gethan?«

»Warum? Na, Dir darf ichs jetzt sagen, denn vor Gericht werde ich anders reden. Um den Schlosser-Nante reinzulegen! Ich habe den Streit gesucht und ihn unter die Maschine gedrückt, damit sie ihn zerschmettern soll wie eine Laus. Aber der Kerl war stärker, und als ich sah, daß ich ihn nicht unterkriegen konnte, da bin ich mit Absicht ins Rad gefallen. Ich hatte gehofft, zu sterben und ihn lebenslänglich ins Zuchthaus zu bringen. Nu liege ich bei der Geschichte ins Essen, aber ich belaste ihn im Kriminal so, daß er mir schon ein paar Jahre brummen soll.«

»Welche Sünde, Hugo!« rief sie unter Thränen.

»Nicht halb so groß wie seine. Er hat das Ärgste verdient, der Hund. Und daß ich ein Krüppel wurde, ist mir egal! Wenn ich nur meine Rache habe.«

»Und Deine Schwester?«

»Die wird ohne ihn nicht fertig, trotzdem er ihr bloß alles Geld wegnimmt und noch obendrein Prügel gibt. Sitzt er aber im Kahn, so wird sie schon wieder nach Hause kommen und ordentlich werden.«

»Ich bin nur froh,« sagte sie, »daß ich an Deinem Unglück nicht schuld bin, wie sie alle in der Fabrik sagten, um mir wehe zu thun.«

»Nein,« tröstete er sie. »schuld bist Du nicht, aber mir lag nichts mehr am Leben ohne Deine Liebe, und so wollte ich es wegwerfen. Einen Tod kann der Mensch ja bloß sterben. Wer weiß, wenn Du anders gewesen wärst zu mir, ob ichs gethan hätte.« Sie erblaßte und starrte mit ihren großen Augen gramvoll vor sich hin. »Na, jetzt ist es ja erst recht aus zwischen uns. Ich bin kaum noch zum einarmigen Leierkasten gut genug und im Gesicht auch nicht schöner geworden.« Sie blickte auf und bemerkte erst jetzt die Schrammen und Narben in dem aufsprossenden Bart. »Verzeih mir, Lene, daß ich nicht gestorben bin.«

»Nein, nein, Du armer Mensch!« rief sie unter neuen Thränen. »Herr Hans hat mir versprochen, daß er für Dich sorgen wird. Ist der Ausstand vorbei, so nimmt er Dich wieder in Arbeit.«

»Zum Spinner bin ich verdorben,« entgegnete er. »Ich kann doch nicht mit den Krücken hinter dem Fahrstuhl hin und her humpeln, nicht wahr? Was anderes aber hab' ich nicht gelernt und kann ich auch nicht. Daran ist die Maschine schuld, die Arbeitteilung, die uns jede andere Handfertigkeit verwehrt und uns dumm und ungeschickt macht. Jeder Bauer braucht mehr Grütze, als unsereins.«

»Weißt Du was, Hugo,« unterbrach sie sein verbittertes Sinnen, »ich will mit Vatern reden. Vielleicht bildet er Dich zum Cylindermacher aus.«

»Ja,« gab er zurück, »das wäre ein sitzender Beruf, wie so'n Invalide ihn braucht.«

Er schwieg und sah sie lang und innig mit seinen hundetreuen Augen an, welche das Siechtum tief eingefurcht und schwarz umrändert hatte ... Von nun an waren sie täglich zusammen. Der alte Fabian weihte ihn in die Geheimnisse der Cylindermacherei ein, und gelegentlich photographierten und retouchierten sie mit einander. Nur die Fahrten auf der Spree hatte man aufgeben müssen, denn er konnte nicht mehr ins Schiff steigen. War er mit ihr ausgesöhnt, so hatte sie aber für sich selbst keine Verzeihung. Wie eine lebendige Anklage erschien er ihr, und sie verachtete und haßte sich. Aber sollte sie ihr Herz bezwingen und ihm Liebe heucheln? Ach, sie sehnte sich weg aus der Welt, wie sehr sie auch ihre Eltern liebte, vor allem ihren geschickten und doch so unbeholfenen Vater. Aber ihr war, als dürfte sie nicht fort, als hätte sie noch eine große Aufgabe, eine heilige Pflicht, die sie vor ihrem Tod erfüllen sollte oder mit ihrem Tode.

Da Hinnen-Lotz, der bisherige Vermittler zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, zu schroff war und die Unterhandlungen nur erschwerte, so gebrauchte Hans zu diesem schwierigen Amte jetzt gerne den geschmeidigeren Hugo, der ihm auch alsbald bessere Nachrichten brachte. Die aus dem Fischerhaus Ausgewiesenen, vor allen seine energische Mutter, suchten täglich den Ausschuß heim, um ihm ihre Not zu schildern und die Wiederaufnahme der Arbeit zu fordern. Die verheirateten Frauen waren jetzt ohne Ausnahme für die Beendigung des Lohnkampfes, wurden jedoch durch ihre arbeitscheuen Männer abgehalten, denen die erzwungene Unthätigkeit zur Gewohnheit geworden. In ihrer Destille merkten sie ja wenig von der wachsenden Not zu Hause.

Eines Abends erschien Frau Mila im Fabrikhofe. Sie sah abgemagert aus, die Entbehrung der altgewohnten Arbeit hatte sie schwermütig gemacht, und ein Keuchhusten förderte den jahrelang eingeatmeten Wollstaub zu Tage. Sie verlangte den Chef zu sprechen und klagte ihm in ihrer derben, wortreichen Art ihre Not. Der Mann immer betrunken, Hugo arbeitunfähig, Lore verkommen, Marie krank, kein Geld, keine Feuerung, all ihr Hausrat versetzt oder verkauft. Hans hörte sie an, sah sich vorsichtig um und zog sie in das Lager des Konsumvereins, wo er ihre Schürze mit Würsten, Speck, Mehl, Reis füllte. Leider wurde er von Hinnen-Lotz beobachtet, der im Hof hinter seiner Kaninchenkiste kauerte.

»Das sind mir schöne Geschichten!« rief er und schwang drohend einen Karnickel. »Der Herr unterstützt seine strickenden Arbeiter und verlängert also ihren Widerstand! Mit Verlaub, das heiß' ich ein Sozialdemokrat!«

Hans zuckte die Schultern über den Philister. Als ob man ein Parteimann sein müßte, um mit den Armen und Niedrigen zu fühlen! Hatte nicht auch der junge Kaiser, ein echter Geusenkönig wie jeder Hohenzollern, den westfälischen Bergarbeitern seine Teilnahme bezeugt?

Nur die sozialdemokratische Ordnung hielt den Ausstand noch aufrecht und beinah tägliche Vorträge und Zusammenkünfte belebten den Trotz und die Hoffnung. Hinnen sann auf ein Mittel, um dem. verderblichen Einflusse dieser Versammlungen zu wehren. Ihm schwebten Rednerschulen vor, wo man das öffentliche Sprechen, sowie die Gewöhnung an Zwischenrufe und Tumulte und das witzige und schlagfertige Debattieren lernen könnte, um die Wirkung der Hetzreden zu beeinträchtigen. Leider fanden sich unter den Gutgesinnten nur wenige geeignete Kräfte, Er selber stand mit dem verwünschten Schriftdeutsch noch immer auf Kriegsfuß und wollte sich nicht gern öffentlich mit »lernen« und »lehren« blamieren. Sein Jakob besaß zwar auch Anlagen zum zweiten Baß, aber kam zu leicht ins grobe Fluchen und Lärmen hinein. Fabian war zu schüchtern, und Hitschold hatte nur für die Rosse Sinn. Die drei Hausknechte konnten zwar im Notfall unschätzbare Dienste mit ihren Fäusten leisten, doch war höchstens der gesprächige Landwehrmann Zobel wegen seines volkstümlichen Witzes zu gebrauchen. Der beste war noch Hugo, der die Zungenfertigkeit seiner Mutter geerbt hatte, die auch eine schätzbare Kraft war. Sonst fehlte es den Weibern an parlamentarischer Zucht, und die wortbehendeste unter ihnen, die rote Lise, war eine wütende Sozialdemokratin.

»Nächsten Sonntag,« meldete Hugo eines Morgens dem Spinnmeister, »ist in Zeiselers neuem Saale Versammlung. Die Weiber wollen nichts mehr vom Feiern wissen, und fast alle Hasplerinnen drohen damit, die Arbeit wieder aufzunehmen. Um das zu hintertreiben und die Frauenzimmer einzuschüchtern, hat die Partei nun diese Versammlung ausgeschrieben.«

Hinnen-Lotz beschloß, mit seinen Getreuen dort zu erscheinen, um die Weiber und ihren versöhnlichen Standpunkt zu verteidigen und die Versammlung durch Zwischenrufe und Schabernack zu stören. Leider wurde seine Kampflust durch den Chef gemäßigt, der von jedem störenden Lärmen abriet. Der Gegner müsse durch vernünftige Gegengründe bekehrt werden, und er selbst sei bereit, der Versammlung beizuwohnen und sich nach dem Vortrag an der Diskussion zu beteiligen. So wurde also eine gemeinsame Teilnahme beschlossen, und als der große Abend kam, zog das Häufchen Gutgesinnter in die an allen Anschlagsäulen verkündigte Arbeiterversammlung.

Zeiseler, der aus Wut über des Spinnmeisters Ungnade und die Konkurrenz der Kantine, der Theestube und des Konsumvereins ein Mitanstifter des Ausstandes gewesen, war längst dem sozialdemokratischen Gastwirtvereine beigetreten. Bei ihm war jetzt die Zahlstelle von freien Hilfskassen, lagen die Parteiblätter auf und gingen verbotene Flugschriften von Hand zu Hand. Er hatte in seinem Hof einen scheunenartigen Bau errichtet, dessen Saal er zu Versammlungen und an Vereine abendweise vermietete. Auch eine Charlottenburger Liebhabertheatergesellschaft benutzte ihn gelegentlich, zu welchem Zweck am Ende der Schmalwand eine kleine Bühne aufgeschlagen war. Auch heute sah man das Proszenium, die Koulissen gehörten indeß zu einem Salon, während der Hintergrund eine frischgemalte Waldlandschaft zeigte, von deren grünen Bäumen und blauen Bergen sich die zwei roh gezimmerten Tische von Tannenholz und einige Wiener Strohsessel an der Rampe abhoben. Eine gußeiserne Gaskrone erhellte den Saal so unzulänglich, daß auf dem Tische rechts, wo die Glocke des Einberufers stand, und auf dem zur Linken, für die überwachende Polizei bestimmt, noch je zwei flackernde Unschlittkerzen die Beleuchtung verstärken mußten.

Hans und seine Getreuen wurden von den schon zahlreichen Arbeitern beim Eintritte mehr oder minder freundlich begrüßt ... »Da kommen unsere Ausbeuter!« rief der Tiroler. »Aber kommt nur! Wir fürchten Euch nicht. Hier könnt Ihr was lernen!«

Besonders Hinnen-Lotz wurde mit freundlichen Zurufen beehrt ... »Arbeiterschinder!« hallte es ihm von allen Seiten zu. »Spitzel! Kapitalistenfritze! Bismarck!« Der Spinnmeister bekam zwar darob einen dunkler gefärbten Kopf als gewöhnlich, nahm jedoch die Sache mit Humor auf. Lächelnd blickte er um sich, und salutierte militärisch; weil aber zu viel Bekannte anwesend waren, so spendete er einen Kollektivgruß, indem er seinen Hut lustig im Kreise schwang: »Guten Abend, miteinand'!« Den Arbeitern gefiel die Keckheit, und ihr anfangs höhnisches Lachen klang um einen Ton sanfter und gemütlicher.

»Doch ein verfluchter Kerl, der Schweizer,« sagte der schon stark angeheiterte alte Mila zu dem neben ihm an der Rampe sitzenden Kaselowsky und zündete sich eine neue Zigarre an, während die Ankömmlinge ganz vorn am nächsten Tische Plätze fanden, die Fabian, Jakob und Hugo für sie belegt hatten. Da saß der Chef mitten unter seinen Arbeitern und an einem Tische mit Hinnen, Jakob, Fabian, Lene, und auch Hugo setzte sich zu ihnen und stellte seine Krücken hinter sich. Jetzt musterte Hans die Anwesenden. Es waren nicht nur Angestellte aus seiner Spinnerei, sondern der Mehrheit nach fremde Arbeiter, die sich wie auf eine Verabredung lange vor Beginn eingefunden hatten, um den unsicheren Kantonisten den Platz wegzunehmen. Einige von ihnen trugen trotz des Sonntags ihre blauen Blusen oder Kittel voller Schutt und Maschinenölflecken zur Schau, und der immer mißtrauische Hinnen schwor darauf, daß es gar keine Arbeiter seien. Jedenfalls kannten sich fast alle untereinander, denn Grüße und Zurufe flogen von Tisch zu Tisch. Da waren schwächliche, brillentragende Zwerge in halb bürgerlicher Tracht mit lichtblonden Haaren und träumerischen Augen, und neben diesen unpraktischen Schwärmern, denen fremdes Leid näher ging als die eigene Not, sah man Männer von grobknochigem Körperbau und eckiger Schädelbildung, ganz ehrenwerte Arbeiter, die sich in politische und soziale Hirngespinnste verrannt hatten, wilde Gesellen mit entschlossenem Gesichtsausdruck und verbittertem Zug um den Mund, rücksichtlose Anarchisten, die lachend in den Tod gingen, anrüchige Bursche, verschmitzt und in alle Kniffe eingeweiht, um die Überwachungsbehörden zu hintergehen, und unter Umständen ebenso eifrig als Lockspitzel der Polizei. Zwischen all diesen Männern verschwanden fast die Weiber, so zahlreich sie auch erschienen waren und unermüdlich plauderten. Dicht vor dem Podium hatte sich der ganze Haspelsaal niedergelassen. Frau Mila strickte an einem Strumpf, aber auch ihr Mundstück ruhte nicht, womit sie ihre Genossinnen zu energischer Opposition gegen die Partei aneiferte. Ihre Tochter Marie, die in der Fabrik die Bleichsucht bekommen und im Ausstande sich etwas erholt hatte, saß verschüchtert und gelangweilt vor ihrem Glas Echten, andere kokettierten mit den Männern an den nächsten Tischen. Sie waren überhaupt viel umworben, die strikemüden Damen, und freuten sich dessen; aus mancher Weißbierkufe wurde ihnen zugetrunken, und der Tiroler hatte bereits mit dem Aufgebote seiner ganzen Liebenswürdigkeit versucht, sie »herumzukriegen« und von ihrem sträflichen Vorhaben abzubringen. Er wurde aber von Frau Mila, die strenges Regiment führte, mit Hohn abgewiesen. Die anderen Weiber, die mit der Partei gingen, hatten sich um die rote Lise geschart; es war ein gar kleines Häufchen, alles Unverheiratete und nicht eine Hübsche unter ihnen. Sie wurden auch viel weniger umschwärmt, schon weil man ihrer sicher war.

Der Tabakqualm lag wie ein Nebelmeer in der heißen Luft, und das Gedränge wurde größer. Da und dort im Saal und an den Thüren tauchten die blanken Helme der Schutzleute auf, und Hans wunderte sich nicht wenig über dieses bewaffnete Aufgebot gegen eine friedliche Versammlung. Einer dieser Thürhüter erklärte den Saal, worin schon Hunderte mit Stehplätzen verlieb nehmen mußten, für gefüllt, worauf gegen den Ansturm neuer Ankömmlinge, die durchaus noch hinein wollten, die Thüren zugestoßen wurden. Plötzlich erhob sich eine laute Stimme vom Podium her. Es war der überwachende Leutnant, ein großer, behäbiger Mann, der den Hasplerinnen gut gefiel, und in seinen Mantel gehüllt trat er bis an die Rampe vor.

»Der Mittelgang muß frei bleiben!« rief er in die Menge hinab und wies wie ein Feldherr gebieterisch auf die zu räumenden Punkte. Sofort erhob man sich in der Saalmitte von den Plätzen. Tische und Stühle wurden gerückt. Ein Bierglas fiel in dem Sturm und Drang zu Boden und goß seinen Inhalt auf die Jacke der roten Lise, die kreischend und schimpfend zur Seite sprang. Die Männer lachten, die Weiber kicherten, zuletzt war die Gasse in vorgeschriebener Breite gebildet, und die eng aneinander gerückten Tische besetzten sich wieder. Gleich darauf ertönte eine laute Glocke, und man sah auf der Bühne den Einberufer, Saalaufseher Kindermann. Er nahm sich mit seinem glänzenden Gummikragen und der schwarzen Halsbinde sehr ehrwürdig aus, trotzdem er seinen Bratenrock nicht zu schließen vermochte. Überhaupt drückte ihn das ungewohnte Kleidungsstück unter den Armen und am Hals, und das machte ihn noch linkischer, als gewöhnlich.

»Ich bitte um Vorschläge zur Bureauwahl!« rief er mit schwacher Stimme und neigte seinen dichtbehaarten Kopf gegen die Zuschauer, um die Stimmen besser zu hören. Aus der Menge wurden nun verschiedene Namen gerufen, aber da plagte den Spinnmeister der Teufel, und getreu seinem Vorsatze, die Versammlung möglichst zu stören, dröhnte sein zweiter Baß in den Tumult hinein:

»Erster Vorsitzender: Genosse Kindermann, zweiter: Genosse Pätow. Schriftführer: Genosse Pinzger, der bekanntlich nicht schreiben kann!«

Ein lautes Gelächter, besonders von der Seite der Haspeldamen, folgte dem Scherz, aber der Tiroler nahm ihn sehr übel auf. »Und ich,« schrie er, »schlage vor, gewisse berufsmäßige Radaumacher lieber schon jetzt, als erst später an die Luft zu setzen. Übrigens gehört der Vorredner gar nicht in eine Deutsche Arbeiterversammlung. Erstens ist er kein Reichsbürger ...«

»Ihr etwa?« höhnte Hinnen zurück. »Wir sind ja alle Internationale!«

»Und zweitens ist er kein Arbeiter!«

»Ich antworte darauf, daß der Herr Hinnen-Lotz allerdings nicht zu den sogenannten Proleten gehört, die sich für Arbeiter ausgeben, bloß weil sie nicht arbeiten wollen!«

»Stier von Uri!«– »Pinzgauer!« ... Der Streit artete in Beschimpfungen aus. Heftig schwang der Einberufer die Glocke, und endlich verstummte alles Gelächter und sogar Jakobs froh angestimmtes Spottlied: Die Pinzgauer wollten wallfahrten gehn ...

»Die Versammlung,« rief Kindermann, »hat in der Mehrheit dem ersten Vorschlage zugestimmt, und ich ersuche die Genossen Pätow und Kaselowski am Tische des Hauses Platz zu nehmen. Das Wort hat der Referent Reichstagsabgeordneter Dr. Flemminger.«

Während das »Bureau« sich dem Polizeileutnant vorstellte, begrüßten laute Hochrufe den Redner, der mit schnellen Schritten die Bühne betrat und zuerst einen Blick auf seine Taschenuhr warf. Die Weiber murmelten wohlgefällig, denn seine Erscheinung gefiel ihnen: ein stattlicher, breitschulteriger Mann mit Brille und wallendem Demokratenbart, schwarz wie sein zugeknöpfter Rock, der kein Endchen weißer Wäsche sehen ließ, und ohne Trauring, also ein interessanter Junggeselle. Er sprach mit dem starken Organ und den heftigen Gebärden des Volksredners und übte mit seinen Gemeinplätzen einen offenbaren Zauber auf seine Zuhörer aus, die ihn von Zeit zu Zeit mit einem »Bravo!« unterbrachen, was er stets dazu benutzte, um nach seiner Uhr zu sehen. Er sprach über die Ausstände in Belgien, schilderte das Elend und die Not zumal der dortigen Arbeiterinnen und donnerte gegen die verstockte und entmenschte Bourgeoisie – in Belgien. Und niemals fiel er aufreizend und hetzend aus der Rolle oder wies allzu deutlich auf unsere Zustände im Reich hin; er machte aber die Sache so bequem, daß jeder den Nachsatz: »ganz wie bei uns« von selbst hinzufügen und die gehörigen Schlüsse daraus ziehen konnte. Seine Rede war auch gerade kurz genug, um die Aufmerksamkeit nicht zu ermatten. Mitten in einem Satze zog er seine Uhr und schloß plötzlich, worauf er unter allgemeinem Beifall seinen Platz verließ. Er hatte große Eile, denn er mußte heut Abend denselben Vortrag noch in zwei Brudervereinen wiederholen ...

Die allgemeine Diskussion war eröffnet, und da wurde es lebhafter und lauter. Verschiedene Redner traten auf, und besonders Pinzger benutzte die Gelegenheit, um die – belgischen Genossinnen zum Ausharren im Lohnkampf aufzumuntern und seiner Sympathie zu versichern. Erst die rote Lise fiel in ihrer Einfalt aus der Rolle und rief mit ihrer heiseren, aber doch laut schmetternden Stimme:

»Mitschwestern, wir wollen streiten und striken! Selbst ist die Frau! Wir haben die ganze Nation hinter uns!« Man lachte sie aus, worauf sie mit Frau Mila in wildes Zanken geriet, so daß man ihr das Wort entzog.

Erst als Hans sich zum Worte meldete, trat etwas Ruhe ein.

»Hoch, Genosse Lenz!« rief Pinzger ironisch, der jetzt hinter seiner Weißen neben Frau Mila saß.

»Kapitalisten raus!« donnerte es plötzlich vom Ende des Saales. Der Tiroler erhob sich, um nach dem Schreier zu sehen. »Prosit, Schlosser-Nante!« rief er über die Köpfe weg und trank ihm aus seiner Kufe zu. Alle sahen sich um, und im Nu verbreitete sich das Gerücht, der Schlosser sei aus der Untersuchungshaft entlassen, und seine Sache stehe so gut, daß er gewiß freigesprochen werde. Hugo schlug wütend mit der Hand auf den Tisch, daß die Gläser wankten.

Die Glocke des Vorsitzenden ertönte. »Herr Fabrikbesitzer Lenz hat das Wort!«

Unter dem Beifall seiner Anhänger sprang Hans auf seinen Stuhl und von dort auf allgemeines Verlangen auf die Bühne, um besser gehört zu werden. Der Leutnant betrachtete neugierig diese feine, bewegliche Gestalt mit dem bleichen Gesicht und Christusbart. So, schien er zu denken, das ist also der sonderbare Heilige, der seine ausständigen Arbeiter durch Überredung und Güte ködern will! Dann warf er einen gelangweilten Blick auf die Menge und ihre ihm wohlbekannten Berufslärmer und spitzte langsam seinen Bleistift. Und dem Glockengeläut und Tumult entstieg sieghaft der herzwarme Vollklang von Hans' Stimme.

»Arbeiter, der Vortragende hat in brennenden Farben ein Bild des sozialen Elends der belgischen Brüder und Schwestern entworfen, aber die Nutzanwendung auf deutsche Verhältnisse, die er verschwieg, ich will sie geben. Dort ein in pfäffischer Mißwirtschaft aufgewachsenes, ungebildetes Volk und eine schwache, selbstische Regierung, die wider Willen den besten Beweis liefert, daß der Ultramontanismus unfähig ist, die soziale Gefahr zu bannen. Bei uns aber ist ein tüchtiger, aufgeklärter Arbeiterstand, der zwar auch seine Schattenseiten aufzuweisen hat, aber sich bewußt ist, daß er im friedlichen Meinungsaustausch und an der Wahlurne mehr erreicht, als im Umsturze des Bestehenden, und eine Regierung, die zu allererst und mit heiligem Eifer die Lösung der sozialen Frage in die Hand genommen hat.«

»Sozialistengesetz!« schrie der Schlosser-Nante, und seine Anhänger brachen in schallendes Gelächter aus, doch Hans nahm sofort den hingeworfenen Handschuh auf.

»Ich bin ein Feind aller Ausnahme- und Polizeigesetze!« rief er aus. »Es liegt im Interesse einer friedlichen Entwicklung der Dinge, ein Gesetz aufzuheben, das jede freie Meinungsäußerung einer Partei unterdrückt und deutsche Bürger von Haus und Hof, von Frau und Kind trennt und rechtlos macht. Wer von der Polizei verhindert wird, seine Meinung zu äußern, wird mit Naturgewalt in die Geheimniskrämerei hineingetrieben, und da er das Unschuldigste öffentlich nicht thun kann, so treibt er im geheimen das Schuldigste. Ein Gesetz aber, das auf die Willkür der Polizei gegründet ist und dessen Kampfmittel vor der Gerechtigkeit nicht bestehen, kann unmöglich aufkommen gegen ewige Ideen und den heiligen Drang, das Los der Armen zu verbessern.«

In Begeisterung waren diese Worte seinem Herzen entströmt und mit seinem schwärmerisch erhobenen Blick und dem vom braunen Haar und Bart umrahmten zarten Gesichte, glich er jetzt einem jener gotterleuchteten Schwärmer und Weltverbesserer, die der Menschheit mit einem neuen Evangelium vorangehen. Und doch enthielten seine Worte wenig überschwängliches, aber gerade weil hier der gesunde Menschenverstand des Kaufmanns und Arbeiterfreundes freimütig und tapfer sich aussprach, war die Wirkung seiner allgemein nachempfundenen Worte so gewaltig. Die Schürer und Hetzer waren erstaunt, daß derjenige, den sie als ihren Widersacher bekämpfen wollten, so mutige Worte zu ihrem Schutz und gegen ihre Verfolger fand, und daß er ungescheut öffentlich sagte, was sie nur scheu dachten und höchstens in ihren geheimen Konventikeln einander zuflüsterten. Seine Anhänger und die Frauen aber, die zur Wiederaufnahme der Arbeit bereit waren, freuten sich doppelt über die Gerechtigkeit, die Wahrheitliebe und den Mut ihres Chefs und stimmten jubelnd und vertrauensvoll in das herausfordernde Triumphgeschrei all der Führenden und Geführten, der Unzufriedenen von Beruf und aus Hunger ein. Nur die Sicherheitsbeamten blieben stumm. Der dicke Wachtmeister, der an der Thür stand, warf den in gemessenen Abständen ihn umgebenden Kameraden einen bedeutungsvollen Blick zu. Kein Zweifel, jetzt würde die längst erwartete Auflösung kommen, und dann alle Mann auf Posten! Aber er täuschte sich. Der Leutnant, seiner Weisung eingedenk, den einflußreichen Fabrikherrn kräftig zu unterstützen, begnügte sich mit einigen Kurzschriftaufzeichnungen in sein Protokoll und einem halblauten Mahnwort zur Mäßigung, das in all dem Lärmen nur von Hans, dem es galt, verstanden wurde. Er verbeugte sich kurz und fuhr, als der Lärm sich gelegt, in seiner Rede fort:

»Arbeiter, es gab eine Zeit, wo ich den Quell aller Not in der Maschine erblickte, die aus freien Handwerkern Hörige des Fabrikanten gemacht. Aber nun sehe ich ein, daß ich im Unrechte war. Die Maschine mit ihrer alle menschliche Kraft besiegenden Leistungsfähigkeit ist kein Feind, weil sie Menschenhände und Menschenarbeit überflüssig macht und dadurch vielen das Brot entzieht. Die Maschine ist eine Wohlthäterin, die Freundin des sozialen Gedankens, die stärkste Mitkämpferin für die Ideale der Gleichheit und Brüderlichkeit. Sie regelt das ganze Dasein des Arbeiters mit festen Verpflichtungen, stellt ihn auf den Tageslohn und gibt ihm seine bestimmte Tagesarbeit, so daß er sich nicht von ihr losreißen kann. Sie hat den vierten Stand organisiert und die soziale Bewegung geschaffen. Sie vereinigt und einigt die Arbeiter und macht sie stark und zu einer Macht. Aber der Mensch wächst mit seinen höheren Zwecken, und das gilt nicht bloß für den Gebildeten, sondern auch beim Arbeiter. Der größte unserer Fehler war, daß wir in engherziger Ängstlichkeit glaubten, den Arbeitern das vorenthalten zu sollen, worauf sie nach dem Zuge der geschichtlichen Entwickelung ein naturgesetzliches Recht haben, nämlich eine Organisation als Stand, als Klasse; daß wir sie zwingen, sich mit Gewalt etwas zu erkämpfen, was zu verweigern wir nicht das Recht und auf die Dauer auch nicht die Macht haben; daß wir uns einer elementaren Bewegung widersetzen und glauben, Naturgewalten durch Gesetze fesseln zu können. Dadurch allein wird es erklärt, daß Hunderttausende dem Gesetze den Gehorsam aufkündigen und nachdem einmal seine Autorität gebrochen ist, zu einer ernsten Gefahr für Staat und Ordnung werden. Aber so geht es nicht weiter. Dem berechtigten Streben der Arbeiter nach wirtschaftlicher Besserstellung muß der Staat mit ganzer Kraft gerecht zu werden suchen, damit die gewaltigen Errungenschaften unserer Zeit zum Heil und nicht zum Unsegen werden. Doch die Stunde der Erlösung ist nicht mehr fern. Dann, Arbeiter, gilt es den schwersten Sieg, den über Euch selbst, denn wenn Ihr übermütig werdet und Euch zu Gewaltthaten hinreißen lasset, dann werdet Ihr niedergeworfen auf ein Menschenalter hinaus. Also Maß in den Forderungen, Vertrauen zur Regierung, freundschaftlicher Anschluß an die Arbeitgeber!«

Ein Murren im Saale beantwortete diese Wendung, womit der schon wieder bedenklich gewordene Polizeileutnant offenbar ganz einverstanden war, denn er legte seinen Bleistift hin und kreuzte seine fetten Hände behaglich über seinem Bauch, indessen die Aufregung und die lärmenden Zurufe überhand nahmen.

»Wo die Arbeitgeber nach Möglichkeit entgegenkommen,« fuhr Hans unbeirrt fort, »ist es ein Verbrechen, den Kontraktbruch des Ausstandes aufrecht zu erhalten und Not und Elend über alle zu bringen, denn jeder Strike ist ein Unglück, für Arbeiter und Arbeitgeber. Der Arbeiter hat unbestreitbar das Recht, Forderungen der Unternehmer abzulehnen und eigene Forderungen aufzustellen und durchzusetzen, aber andere darf er nicht vergewaltigen und von der Arbeit abhalten. Wer das thut, handelt als Feind gegen seine Klasse und schädigt deren Sache; er verletzt jedes politische, moralische und soziale Recht!«

Ein wütendes Geheul antwortete aus allen Ecken des Saales: »Pfui! Schluß! Runter! Blech!« aber viele applaudierten, und besonders die Frauen jubelten. Als die Sozialdemokraten sahen, wie der Beifall immer mächtiger und die Anhängerschaft von Hans immer größer wurde, beschlossen sie die Versammlung zu sprengen. Pinzger that mitten in den Lärm hinein einen gellenden Juchzer, der alles übertönte, und als man aufhorchte und lachte, rief er laut: »Ich stelle den Antrag, die Versammlung zu vertagen, denn der Saal faßt zu wenig Personen und der Wille der Partei kommt nicht zum Ausdruck!«

Er wurde verhöhnt, und das Toben begann wieder.

»Ihr habt doch auf Euer Banner geschrieben: Freier Meinungenaustausch!« rief Janko mit seiner Donnerstimme. »Betragt Euch doch sozialdemokratisch!«

Nun lachten wieder die Leute von der Partei, »Oho!« und »Sehr richtig!« wurde geschrien, und Hinnen Vater und Sohn, die aus dem johlenden Lachen gar nicht herauskamen, folgten mit ironischem: »Aha!«

»Wir wollen Arbeit!« rief Frau Mika. »Wir haben den Strike nicht gewollt. Man hat uns nicht gefragt. Wir nehmen die Arbeit wieder auf!«

Die Frauen klatschten und trampelten. Dazwischen klingelte die Präsidentenglocke unaufhörlich und beschwor den Sturm doch nicht. Man sprang auf Stühle und Tische, um Beifall und Widerspruch wirksamer zu machen. Die Zwischenrufe mehrten sich, Flüche, Drohungen wurden ausgestoßen, und schon erhob sich der Polizeileutnant und griff nach seinem Helm, um die Versammlung auf Grund des Sozialistenparagraphen neun für aufgelöst zu erklären.

Da drängte sich plötzlich der Schlosser-Nante durch den Mittelweg der Tribüne zu und sprang auf den Tisch, an dem Hinnen-Lotz und sein Anhang saßen. Sein Rock war ihm aufgegangen, und man sah nun seine von einem blauen Hemde bedeckte mächtige Brust.

»Genossen,« schrie er, daß der Orkan sich auf einen Augenblick legte, »hört nicht auf unsere Ausbeuter! Sie haben kein Herz für die Arbeiter. Derselbe Herr, der eben von Menschenliebe und Versöhnung spricht, er hat mich wegen meiner sozialistischen Überzeugung brotlos gemacht. Er ist ein falscher Freund der Arbeiter. Und wollt Ihr sehen, was seine Maschine, deren Lob er singt, aus uns macht? Da schaut her!«

Mit wuchtigen Armen faßte er den still auf seinem Stuhle kauernden Hugo, und hob ihn hoch über die Köpfe weg, um ihn der Menge zu zeigen. Aber dem Krüppel war es noch gelungen, eine seiner Krücken zu erhaschen, und statt sich ruhig zur Schau ausstellen zu lassen, ließ er sie rücksichtlos auf den Kopf des Schlossers niederfallen.

»Er lügt! er lügt!« schrie er wild. »Er hat mich zum Krüppel und meine Schwester zur Dirne gemacht! Der Hund! Schlagt ihn tot den Hund!«

Die Arme, die ihn emporhielten, sanken, um das Gesicht vor den Stockschlägen zu schützen. Er schwankte eine Weile hilflos in der Luft und wäre ohne Zweifel auf den Tisch und zu Boden gestürzt, wenn die Riesenfäuste des herbeieilenden Janko ihn nicht aufgefangen hätten. Aber als ihm der Krüppel entging, fand der rasende Schlosser seinen anderen Todfeind. Er schwang sich auf die Bühne, wo neben dem Leutnant das ganze Bureau ratlos im Sturme stand, und zog Hans mit einem nervigen Griff vom Podium und mitten ins Getümmel des Saales hinein.

»Raus mit ihm!« schrie der Sinnlose und zerrte Hans an den Boden, bevor er ihn emporhob, doch Lene vertrat ihm den Weg, noch ehe die anderen Sozialisten sich auf das Opfer gestürzt.

»Memme! Memme!« schrie sie und warf sich zwischen die Kämpfenden. »Ihr wollt Arbeiter sein? Feiglinge seid Ihr!«

Der Schlosser wollte sie zur Seite schieben. »Platz, dummes Ding! Der da gehört mir!«

Sie wankte nicht und streckte alle zehn Fingernägel wie Krallen gegen sein Gesicht. »Wag's man! Wag's man!« schrie sie. »Mädchenverführer! Kein Arbeitgeber ist so feig und schlecht wie Du!«

Vor ihren Händen weniger als ihrem übermenschlichen Flammenblick wich er zurück und wurde durch eine Schar herandrängender Schutzleute von Hans und Lenen getrennt. In dem Aufruhr stand er mit einem Male vor dem Spinnmeister.

»Aha, der Herr Hinnen-Lotz!« rief er frohlockend, und ehe dieser sich besinnen konnte, hatte der riesige Schlosser ihn schon gepackt und hoch über alle Köpfe hinweg gehoben. Hundert Fäuste griffen nach ihm und trugen ihn puffend und schlagend weiter, im Nu war er an der Thür und draußen, und sein Jakob flog ihm nach. Ein wildes Hohngelächter hallte hinter ihnen her.

Der Polizeileutnant rückte unterdessen ruhig an seinem Säbelgurt und knöpfte seine weißen Handschuhe, als ginge ihn der Lärm nicht das geringste an. Das Bureau sprach eifrig auf ihn ein und warf ihm vor, die Versammlung aufgelöst, statt nur auf zehn Minuten vertagt zu haben. »Die schöne Versammlung! Und ohne Resolution und Sammlung für die Strikekasse! Die Kosten ganz umsonst!«

Der Leutnant ließ Pätow und Kindermann ruhig jammern und zuckte geringschätzig die Schultern. »Beschweren Sie sich!«

Aber die gereizte Stimmung wuchs wie ein Sturm, und bald umgaben ihn drohende Gestalten. Man sah in all dem Rauch und Staub geschwungene Fäuste und erregte Gesichter. In das Geschrei der Weiber mischten sich Hochrufe auf die Sozialdemokratie. Der Leutnant trat an die Rampe und gestikulierte den eindringenden Schutzleuten zu, die sich mit widerspänstigen Schreiern balgten und da und dort einen aus der Menge herausrissen und abführten. Er selbst verhaftete einen Schreier, der die Anarchie leben ließ, und brachte ihn auf der Bühne in Sicherheit. Doch die Menge drang unter Anführung des Schlossers auf die Beamten ein: »Geben Sie den Mann frei! Pfui! Bluthunde! Garibaldi!« Von allen Seiten umdrängt, zog der Leutnant seinen Degen und bahnte sich einen Weg, indes der Arrestant der Obhut des Wachtmeisters entschlüpfte. Überall tauchten jetzt die Pickelhauben auf, und ob auch der Lärm in das Gebrüll der Arbeitermarseillaise überging, das Geschrei der Weiber, das Schimpfen Zeiselers und seiner um die Zeche bangenden Kellner fortdauerten, der Saal entleerte sich langsam.

Doch draußen unter dem dunklen Himmel begann die Hatz. Schutzleute und Gendarmen zu Pferd und zu Fuß säuberten den Fahrweg und suchten die widerspänstigen Massen zu zerteilen und zurückzudrängen. Als des Polizeiinspektors Aufforderung zum Auseinandergehen nicht gleich befolgt wurde, sprengten die Reiter mit niedersausenden Klingen in die Menge. Steine flogen, ein wilder Kampf begann. Der Schlosser-Nante forderte laut zum Aufruhr auf und gab als alter Kavallerist die Belehrung, die Berittenen nur von links anzugreifen, weil sie nicht über den Pferdekopf weg hauen können. Dann hörte Hans Hochrufe, tosendes Gebrüll, Befehle der Polizisten, markerschütterndes Hilfegeschrei, dazwischen Pferdegetrappel, Säbelklirren, ein Sturmlaufen von Flüchtenden und Verfolgenden ... Und mit einemmale verlor sich das Wutgeschrei in einem aufbrausenden Gesang, und die Nacht erdröhnte von dem gewaltigen Chor. Es war nicht die Arbeitermarseillaise, aber Hans erkannte es wieder, sein Freiheitlied, trotzdem der sanfte Text Fabians gefälscht und verzerrt war zum Sturmliede des Aufruhrs, zum Lobgesange der Zerstörung, zu Tigergebrüll und Hyänengeheul ...

»Wer da Beil und Hammer schwingt,
Wer am Spinnstuhl schaffen kann,
Wer dem Boden Erz entringt,
Schließt sich rotem Banner an!
Männerkraft
Wunder schafft,
Reißt auch unsre Sklavenketten,
Zwingt zu teilen Arm und Reich,
Macht dem morschen Staat ein Ende,
Alle Menschen frei und gleich!«

Und wo die Arbeiter sich trotzig gegen die Reiter zusammenscharten, prasselte es auf, das Freiheitlied eines Ringenden, das zum Zorn- und Kampfliede der Enterbten geworden, und brausend tönte es aus dem Wut- und Schmerzgeheul durch die tiefschwarze, sternlose Nacht:

»Macht dem morschen Staat ein Ende,
Alle Menschen frei und gleich!«


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