Anonym
Der Heliand
Anonym

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Das Todesurteil

                        Der Gebornen bester   harrte noch in Banden
Für der Menschen Geschlecht.   Ihn umdrängte die Menge
Der Judenleute,   mit Lästerworten
Den Hohen höhnend,   der da geheftet stand.
In Geduld ertrug er,   was das Volk ihm tat
Zuleid, die Leute.

                                Da kam mit neuem Licht
Der Morgen den Menschen.   In der Menge sammelten
Sich der Juden Häupter,   mit wölfischem Herzen,
Mit verlogenem Sinn.   Der Schriftgelehrten
Fanden sich viele ein   zu früher Stunde,
Eifrige, eigensinnige,   des Unglaubens voll
Und tückischen Sinnes.   Sie traten zusammen
In den Ring zur Beratung   und ratschlagten lange,
Wie sie es anlegten   mit wahrlosen Leuten,
Mit meineidigen,   den mächtigen Christ
Auf sein eigen Wort hin   solcher Untat zu zeihen,
Daß sie ihn qualvoll   könnten versehren,
Den Tod ihm erteilen.   Doch fanden sie des Tages
Kein so widriges Zeugnis,   daß sie ihm Züchtigung
Erteilen könnten   oder den Tod erkennen,
Ihn vom Leben lösen.

                                        Da kamen zuletzt
In der Ratenden Ring   ruchloser Männer
Zweie gegangen,   die bezichtigten ihn,
Daß sie ihn selber   einst sagen gehört,
Niederwerfen woll er   das Weihhaus des Herrn,
Aller Häuser höchstes,   durch seiner Hände Macht
Und wieder aufrichten   allein durch seine Kraft
Am dritten Tage;   des sich niemand dürfe getrauen.
Er schwieg und duldete.   Was da auch gesprochen ward
Von den Leuten mit Lügen,   er wollt es mit leidigem
Reden nicht rächen.   Im Rat erhob sich da
Ein boshafter Mann,   der Bischof der Leute,
Der Vornehmste des Volks,   und fragte den Christ,
Ihn bei sich selbst beschwörend   mit starken Eiden:
In Gottes Namen heischt' er   und begehrte dringend,
Daß er ihm sagte,   ob er der Sohn wäre
Des lebendigen Gottes,   der dies Licht erschuf,
Christ, der ewige König.   »Wir können das nicht erkennen
An deinen Worten und Werken.«   Da entgegnete der wahre,
Gute Gottessohn:   »Vor diesen Juden sprichst du's jetzt
Und sagst es sicherlich,   daß ich es selber bin;
Mir glaubten diese Leute nicht   und lassen mich nicht los:
Sie würdigen mein Wort nicht.   Ich sag euch in Wahrheit doch:
Ihr sollt noch sitzen sehn   Gott zur rechten Seite
Den gewaltigen Menschensohn   in der Machtfülle
Des allwaltenden Vaters   und dann wiederkommen
Hierher in Himmelswolken,   all dem Heldengeschlecht
Sein Urteil zu erteilen   nach seinen Taten.«

Da erboste der Bischof,   mit erbittertem Sinn
Das Volk zum Richter rufend,   zerriß sein Gewand,
Zerbrach es vor der Brust.   »Was braucht ihr auf Zeugnis
Noch weiter zu warten,   da ihm solche Worte fahren,
Solche Meinrede, aus dem Munde?   Ihr Männer hört es all,
Ihr Rater in diesem Ringe,   daß er sich so mächtig rühmt,
Für Gott sich ausgibt.   Was wollt ihr Juden ihm dafür
Zum Urteil erteilen?   Ist er des Todes nicht
Würdig nach solchen Worten?«   Da wies ihm all
Das Volk der Juden,   er sei dem Tode verfallen,
Der Strafe würdig.   Doch geschah's um seine Werke nicht,
Daß in Jerusalem   die Judenleute
Dem Sohn des Herrn,   dem sündelosen,
Den Tod erteilten.

                                  Da trachteten nur
Die Judenleute,   was sie dem Gottessohne,
Dem gehefteten, möchten   zumeist zum Harme tun.
Sie umstanden ihn scharweis,   schlugen ihn an die Wangen,
An den Hals, mit den Händen,   ihm zum höchsten Hohne;
Frevelnd flucht' ihm   die feindliche Menge
Mit schmählichem Schelten.   Da stand der Sohn Gottes
Fest unter den Feinden   mit gefesselten Händen,
Ertrug in Geduld,   was ihm der tobende Troß
Auch Bitteres brachte,   entbrannte nicht in Zorn
Wider die Widersacher.


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