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Neuntes Kapitel

Unter seinen Schülern tauchte eine sonderbare junge Dame auf. Sie erzählte phantastische Sachen von sich, die man nicht kontrollieren konnte. Sie stellte sich als Olga Janina vor und behauptete, eine Tscherkessengräfin zu sein. Angeblich war sie in der Ukraine geboren, ihre Familie ungeheuer reich; mit vierzehn Jahren wurde sie die Frau eines Kosakenoffiziers, einige Jahre später ließ sie sich wieder von ihm scheiden. Sie war reich und unabhängig und wollte Klavierkünstlerin werden. Franzi wohnte neben der Kirche Santa Francesca Romana, als sich die Tscherkessengräfin bei ihm meldete. Die neue Schülerin spielte ihm auch vor, sie fiel über die cis-moI1-Polonaise von Chopin her, aber in ihrer fürchterlichen Verlegenheit griff sie dauernd daneben.

»Der Fehler liegt nicht in Ihrer Begabung«, sagte der Meister schlechtgelaunt, »sondern darin, daß auf dem Klavier die Tasten zu nahe beieinanderliegen.«

»Sie weisen mich ab, Meister?« fragte die junge Dame, dem Weinen nahe.

»Von mir aus können Sie kommen, wann Sie wollen. Jeden Freitagnachmittag kommen meine Schüler, dann können auch Sie kommen.«

»Sie nehmen mich also an, Meister? Ich bekomme Unterricht? Ist denn so ein großes Glück möglich?«

»Nein, so ein großes Glück ist nicht möglich. Ich bin kein Klavierlehrer und gebe keine Stunden. Ich arbeite höchstens mit einem meiner jüngeren Freunde wöchentlich einmal zusammen. Ich sage Ihnen ja, Sie können auch kommen. Nicht, weil Sie so begabt wären, aber weil Sie so hübsch sind. Ich sehe häßliche Menschen nicht gerne um mich.«

Die Tscherkessengräfin Olga Janina war tatsächlich hübsch. Jung, schlank und sehnig, schwarzhaarig, Mund, Backenknochen und die stumpfe Nase ausgesprochen slawisch. Aber in ihrer aufrechten Haltung, in ihren wiegenden, jungen Hüften war das Begehrenswerte gesunder junger Frauen. Sie kam jeden Freitag und man merkte ihr sofort an, daß die Liszt-Epidemie auch sie ergriffen hatte. Sie seufzte, errötete, warf dem Meister schwärmerische Blicke zu und brachte ihm Blumen mit. Franzi bestach eine solche Schwärmerei, obwohl ihn die hundert und aberhundert ähnlichen Fälle schon hätten abstumpfen müssen, immer wieder von neuem. Mit den Liszt-Schwärmern war er höflich, liebenswürdig und freundlich. Das genügte aber Olga Janina schon. Drei Wochen später zitterte sie förmlich vor Liebe. Als Franzi eines Abends spät in der Nacht aus seinen Fenstern zu den Ruinen hinunterblickte, sah er die verliebte Dame dort auf einem klassischen Stein sitzen. Er zog sich schnell vom Fenster zurück, er verspürte nicht im geringsten den Wunsch, diese sich über Gebühr anbietende Tscherkessenblume zu pflücken.

Allmählich aber waren sie so weit, daß Olga Janina sich mit den wöchentlichen Zusammenkünften nicht mehr zufrieden gab. In unregelmäßigen Zeitabständen klopfte sie bei ihm an, brachte Blumen oder irgendein überflüssiges Geschenk. Allmählich standen ihre Geschenke ihm überall im Wege, vor allem aber sie selbst mit ihrer unerschütterlichen, zähen Anbetung. Franzi litt das mit Höflichkeit und Geduld, eines Tages aber hielt er es für angebracht, sie aufmerksam zu machen:

»Das alles hat gar keinen Sinn, mein liebes Kind. Ich bin ein alter Mann und möchte nicht, daß Sie Ihre Zeit an unnütze Gedanken verschwenden. Es gibt hier in Rom genug junge Kavaliere, sehen Sie sich doch bei denen um.«

Die Tscherkessin, die bis jetzt die Bescheidenheit und Demut selbst gewesen war, richtete sich plötzlich mit blitzenden Augen auf.

»Nein, ich brauche keinen anderen. Ich werde meine Zeit abwarten.«

Franzi lächelte und tätschelte das vor Erregung gerötete Gesicht der jungen Frau. Dann blieb alles beim alten. Olga Janina brachte auch weiterhin ihre Blumen und Kleinigkeiten angeschleppt, langsam und unauffällig fraß sie sich in das Leben des Abbés ein. Und mit fast übermenschlichem Fleiß übte sie fünf bis sechs Stunden am Tage, damit ihr Abgott nur zufrieden sein sollte.

Der Abgott achtete aber nicht besonders auf sie. Er ging viel in Gesellschaft und war jeden Tag bei Carolyne. Meistens waren sie allein, nur hin und wieder fand sich ein interessanter Mann ein, mit dem sich die Fürstin, ihre Zigarre rauchend, sofort in eine weitläufige Debatte einließ. Eines Abends traf Franzi einen gutgewachsenen, weißbärtigen Amerikaner in der Via del Babuino an. Es war Longfellow, der Dichter. Es stellte sich heraus, daß er Dante ins Englische übertrug. Sie unterhielten sich lange über die »Göttliche Komödie«, dann sprachen sie von der Kirche. Papst Pius feierte gerade seine goldene Messe. Von überall her strömten die Geschenke der Gläubigen in den Vatikan. Im Bramante-Hof wurden die Gaben zur allgemeinen Besichtigung freigegeben. Da gab es jedes nur denkbare Geschenk, Marmorbüsten, Tischtücher, Leinenballen, Hühner, Töpfe, sogar eine Ladung Kohle. Und von jedem Punkt des Globus trafen die Geschenke für den großen Tag in Rom ein.

»Ich werde dann schon nicht mehr hier sein«, sagte der Abbé.

Carolyne sah ihn erschrocken an, entgegnete aber nichts; erst als sie allein waren, fragte sie:

»Wohin fahren Sie wieder?«

»Nach Weimar. Ich habe mich entschlossen, die alten Beziehungen zu Weimar wieder aufzunehmen. Ich weiß, daß Sie das nicht gutheißen. Ich habe aber sehr viel darüber nachgedacht, Carolyne, und ich konnte mich nicht anders entschließen. Mich zieht die Musik mit aller Kraft dorthin. Was ich nur tue, ist dort verwurzelt und nicht hier. Hier ist die Welt Verdis, dort die Wagners.«

»Gibt es denn nur Verdi und Wagner auf der Welt? Und Sie können hier keine Wurzeln schlagen? Und die kirchliche Musik?«

»Sie wissen ja sehr gut, daß unsere Pläne bezüglich der Kirchenmusik gänzlich aussichtslos sind. Der Papst hat mich sehr gerne, aber er sträubt sich, in die musikalische Struktur der St. Peterskirche einzugreifen. Darein muß ich mich fügen. Ich werde deswegen selbstverständlich hier in Rom und bei Ihnen bleiben. Aber einige Monate im Jahre will ich in Weimar verbringen. Ich brauche das so sehr wie die Luft zum Atmen.«

»Es ist gut«, entgegnete die Fürstin erbittert, »gehen Sie nur. Seien Sie sich aber darüber im klaren, daß ich das nie billigen werde. Es wird abermals mit Bitterkeit enden! Was ich prophezeie, pflegt leider immer in Erfüllung zu gehen. So war es mit Wagner, und so wird es auch mit Weimar werden. Jedes Übel kommt daher, daß Sie nicht fromm genug sind. Wenn Sie wahrhaft fromm wären, könnten Sie Ihr ganzes Seelenheil in der kirchlichen Musik finden. Und dann würden Sie nicht immer wegreisen wollen. Innerlich haben Sie immer noch die Tetralogie im Kopf. Nach all dem, was dieser Mann Ihnen angetan hat …«

»Nicht er ist der Schuldige, sondern Cosima. Und ich habe gehört, daß er mir gar nicht zürnt, sondern sich durchaus mit mir versöhnen möchte. Cosima ist es, die mir böse ist und es auch bleiben will. Das alles hat aber nichts mit Musik zu tun. Tatsächlich habe ich immer die Tetralogie im Kopf. Ich habe nur diese Musik im Kopf, die wir in Europa auf den Weg gebracht haben und die hier in Rom wie der Fisch im Trocknen ist. Können Sie denn nicht verstehen, Carolyne, daß ich ohne Musik nicht leben kann?«

»Gut. Schließen wir die Debatte. Und wie lange bleiben Sie in Weimar?«

»Ein bis zwei Monate, je nachdem.«

Die Fürstin Carolyne überließ den Unverbesserlichen seufzend seinem Schicksal. Sie selbst schrieb für Kirchenzeitungen Abhandlungen über die Gefühle der Freundschaft, über die Grundlagen der Gottesfurcht und andere religiöse Themen. Aus ihren Zimmern rührte sie sich nicht, Lüften war bei ihr verboten. Vor frischer Luft hatte sie Angst. In dichtem Zigarrenqualm saß sie halbe Tage lang und bewegte sich höchstens von ihrem Schreibtisch ins Speisezimmer und wieder zurück. Manchmal war ihr sogar das zuwider, und sie ließ sich das Essen zu ihren alten lateinischen Büchern und Manuskripten bringen. Eine zusammengeschrumpfte, hakennasige, sonderbare alte Frau voller Mucken war aus ihr geworden.

Zwei Tage lang schlich Olga Janina mit verweinten Augen um den Meister herum. Sie begleitete ihn sogar zum Zug.

»Am liebsten wäre ich tot, solange Sie nicht da sind«, sagte sie weinend, »und könnte auferstehen, wenn Sie wieder zurückkommen.«

Franzi kam um Mitternacht in Weimar an. Der nächste Tag, an dem er im Hotel erwachte, war der dreizehnte Januar. Sein erster Gedanke war ein gutmütiges Lächeln für Carolynes Aberglauben. Am dreizehnten also begann er die neue Weimarer Ära. Er zog die Vorhänge zurück und sah auf den Rathausplatz. Ein Januarmorgen grüßte ihn, voller Sonnenschein. Sein Blick lief mit vertrauter Freude die Häuser entlang, die diesen kleinen Platz von vier Seiten säumten. Linker Hand blickte das alte, gotische Rathaus, auf dessen Balkon früher die städtische Kapelle zu spielen pflegte, auf den verschneiten Platz. Auf der anderen Seite ein keilgiebeliges altdeutsches Haus, in dessen Räumen Kotzebue Lustspielaufführungen, verbunden mit literarischen Ränken, veranstaltet hatte, um Goethe und Schiller zu entzweien. Dort das Cranach-Haus, über dessen Portal man das Wappen Lukas Cranachs, die geflügelte Schlange, sehen konnte. Und in der Mitte des Platzes stand der Brunnen mit der Neptunstatue, als ob die Jahre über ihm stehengeblieben wären. Vor zwanzig Jahren hatte dieser Neptun ebenso dort gestanden. Der Mann aber, der ihn damals betrachtete, war noch keine vierzig Jahre alt gewesen. Und der ihn jetzt fröhlich und frisch begrüßte, näherte sich schon dem sechzigsten Meilenstein am Wege des Lebens.

Gutgelaunt ging er um halb acht Uhr morgens zur Messe. Da begegnete er schon vielen Bekannten. Nach der Messe nahm man ihn in die Mitte, begrüßte und feierte ihn und fragte ihn aus. Jeder war liebenswürdig und herzlich. Schon nahm man ihn auch mit ins Palais des Großherzogs. Karl Alexander, im Volksmund Sascha genannt, der Herrscher, kam ihm im Arbeitszimmer im zweiten Stockwerk, das einst der Zeuge so vieler unmutiger und sorgenvoller Theaterbesprechungen gewesen war, mit ausgebreiteten Armen entgegen. Jetzt war vom Theater keine Rede, nur vom Wiedersehen. Der Großherzog, dessen Haar jetzt auch schon so manche frühzeitige weiße Strähne aufwies, umarmte den Abbé und klopfte ihm vor Freude immer wieder auf den Rücken:

»Schön, daß Sie wieder da sind, lieber Freund! Weimar ist nicht vollkommen ohne Sie. Sind Sie gut gereist?«

»Ausgezeichnet, königliche Hoheit. Ich war sehr leichtsinnig: zum ersten Male in meinem Leben habe ich eine Karte erster Klasse für mich selbst gelöst. Bis jetzt habe ich mich dazu immer nur dann hinreißen lassen, wenn ich mit einer zu mir gehörenden Dame reiste. Aber ich dachte, einmal könnte ich auch vornehm sein. Ich war auch ganz allein im Abteil. Ich habe mich prächtig ausgeruht und das Brevier gelesen.«

»Großartig. Nehmen Sie Platz. Graf Beust kommt sofort, er muß bei der Überraschung dabei sein. Denn eine kleine Überraschung haben wir für Sie vorbereitet. Schade, daß wir jetzt gerade Januar haben, im Sommer wäre das Ganze noch schöner gewesen. Ich kann einfach nicht widerstehen, es Ihnen zu verraten, obwohl meine Frau mir zürnen wird, daß nicht sie es Ihnen mitteilen konnte: wir haben Ihnen ein kleines Heim eingerichtet. Ich werde Sie sofort dorthin begleiten. Sie können es gleich besichtigen. Ich mache Sie aber aufmerksam, daß meine Frau und meine beiden Töchter diese Wohnung persönlich eingerichtet haben. Vom ersten bis zum letzten Stück haben sie alles selber ausgewählt. Erinnern Sie sich noch an die Hofgärtnerei?«

»Aber selbstverständlich, königliche Hoheit, dieses liebe einstöckige Haus an der Ecke des Parkes, das letzte Haus der Stadt auf der Landstraße von links. Wo Preller gewohnt hat, der Maler.«

»Sehr richtig. Von nun an werden Sie dort wohnen. Noch unzählige Jahrzehnte lang: lebenslänglich. Wenn Sie sich nicht in Weimar aufhalten, können Sie es abschließen.«

Der Graf Beust kam. Der Großherzog hatte jede andere Besprechung auf den Nachmittag verschoben, er war zu neugierig, was sein alter Liebling zu der neuen Wohnung sagen würde. Zuerst mußte er aber die Familie begrüßen. Die Großherzogin Sophie eilte mit einem liebenswürdigen Lächeln auf ihrem häßlichen, aber guten Gesicht dem verlorenen, nun wieder heimgekehrten alten Schäflein entgegen. Maria und Elisabeth, die beiden Prinzessinnen, freuten sich mächtig:

»Liszt! Liszt! Ach, wie wir uns freuen! Grüß Gott! Waren Sie schon in der Hofgärtnerei?«

Er sei noch nicht dort gewesen, aber er wolle gleich hin. Unten wartete bereits der schellenklingende Hofschlitten. Einige Minuten später traten sie durch das schmale Tor der Hecke. Ein kleiner Hof, ein bescheidener Eingang, eine Holztreppe, die auf die Etage führte.

»Hier stelle ich Ihnen die gute Pauline, Ihre Haushälterin, vor«, sagte der Graf Beust.

Eine hübsche Magd verbeugte sich mit scheuer Achtung vor dem Abbé und küßte ihm die Hand. Sie gingen die Holztreppe hoch und traten in die Wohnung. Da taten sich drei entzückende Zimmer vor ihm auf, vollkommen eingerichtet. Es war mollig warm, in jedem der drei Zimmer ein schöner Berliner Kachelofen, in jedem Ofen knisterte das Feuer. Dunkelrote Gardinen, prachtvolle bequeme Möbel. Auf dem Klavier eine Vase, darin frische Blumen, im Gewächshaus gezüchtet. Der Graf öffnete hier und da eine Schublade, auch hier war alles fertig. Glas und Porzellan, Bestecke für sechs Personen, Tischtücher, Decken, Bettwäsche. Eine reiche, bequeme, gemütliche Umgebung, deren jedes Stück liebevolle Sorgfalt ausstrahlte.

»Ich bin entzückt«, sagte der Abbé, »und tief gerührt. Was ist das, ich habe sogar einen Betschemel? Ich habe immer gesagt, daß die protestantischen Herrscherhäuser duldsamer sind als die katholischen. Im Ernst, ich fühle mich so heimisch, als ob ich schon seit Jahren hier gewohnt hätte. Nehmen Sie Platz bei mir, mein lieber Graf.«

Der Graf nahm Platz, Franzi zog einen Aschenbecher heran, denn auch die waren auf den Tischen, auf dem Klavier, auf dem Büfett reichlich vorhanden.

»Damit ich es nicht vergesse, lieber Meister«, sprach Graf Beust, »im Auftrage der Großherzogin erlaube ich mir, Ihnen eine kleine Aufmerksamkeit zu überreichen. In diesem Umschlag befinden sich dreitausend Mark. Ihre königliche Hoheit haben Ihnen jährlich soviel für Ihre Zigarrenausgaben zugedacht, wenn Sie Weimar ständig beglücken. Ihre königliche Hoheit betonen, daß das nur eine bescheidene Aufmerksamkeit und keine Bezahlung sei, denn Sie sind für uns unbezahlbar. Jetzt lasse ich Sie allein, damit Sie sich mit Ihrem Heim vertraut machen können. Ihre Sachen können Sie aus dem ›Erbprinzen‹ herüberholen lassen. Wenn es sich herausstellen sollte, daß an der Einrichtung noch etwas fehlt, so melden Sie das bitte mir. Hoheit Elisabeth ist es gestern zum Beispiel noch eingefallen, daß auf dem Waschtisch keine Seife war. Sie selbst hat gestern noch Seife hergebracht.«

Der Abbé war begeistert. Er war darauf gefaßt gewesen, in der Unbequemlichkeit seines alten Junggesellenlebens irgendein Zimmer des »Erbprinzen« bewohnen zu müssen. Und jetzt hatte er diese kleine, prächtige Wohnung bekommen, die sich vor ihm auftat wie das Tischlein deck dich im Märchen. In seiner Freude setzte er sich ans Klavier; das war ein nagelneues Instrument mit ziemlich hartem Anschlag, so ganz nach seinem Herzen. Er donnerte darauf eine ungarische Rhapsodie herunter. Die winterliche Sonne schien zum Fenster herein, das Leben war sehr schön.

Sein Gepäck ließ er schnellstens holen und richtete sich endgültig ein. Und schon am dritten Tage lud er Gäste zu sich zum Mittagessen ein: das großherzogliche Paar. Selbstverständlich mit dem Adjutanten. Diesen hatte der Vortritt gebührt. Pauline gab in der im Erdgeschoß liegenden Küche ihr ganzes Können zum besten und briet der Dynastie Klops, weil sie das am besten konnte. Während des Mittagessens besprachen sie das musikalische Programm, das Theater fehlte darin vollständig. Der Abbé wollte sich nicht mit dem Theater befassen. Dingelstedt war zwar schon lange aus Weimar weg, das Amt des Intendanten versah im Augenblick der feine und weltgewandte Baron Loën, mit dem man sehr gut hätte zusammenarbeiten können, ihn hätten aber ja doch nur die Werke Wagners interessiert, und die hatte der bayrische König mit Beschlag belegt. Es blieb aber auch so noch reichlich zu tun: die Konzertsaison zu organisieren, die Hauskonzerte im großherzoglichen Schlosse zu leiten, der Großherzogin bei ihren Gesangsstunden und den kleinen Prinzessinnen beim Klavierüben behilflich zu sein, kurz, in Weimar ein musikalisches Leben zu schaffen. Das war die liebste Aufgabe, nach der er sich überhaupt sehnen konnte. Am offiziellen Besuchstage der hohen Gäste kam, als sich die Dämmerung über die Stadt senkte, auch ein heimlicher Gast in die »Gärtnerei«, wie die Weimarer dieses Haus nannten. Dieser geheimnisvolle Gast huschte gegen sechs Uhr herein. Es war die Baronin Meyendorff, deren Mann jetzt als Diplomat den russischen Hof in Weimar vertrat.

»Ich habe eine fürchterliche Angst ausgestanden, daß mich jemand sehen könnte. In einer so kleinen Stadt ist das ganz anders als in Rom, ich will mich nur schnell einmal umsehen. Ach, ist das nett hier … Haben Sie die Fenster gut verhängt? Ich möchte gleich bemerken, daß ich nur eine halbe Stunde lang bleiben kann, denn es war sowieso schon ein Wagnis, hierherzukommen. Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, daß irgendein Spion mir auflauert.«

»Dieses Gefühl war auch nicht ganz unbegründet«, erwiderte der Abbé, »die Fürstin Carolyne hält tatsächlich einen Spion neben mir. Es ist die Aufgabe der guten Adelheid von Schorn, daß sie jeden meiner Schritte nach Rom berichtet.«

»Heiliger Gott, hoffentlich hat sie mir nicht nach spioniert.«

»Nein, seien Sie beruhigt. Die gute Adelheid ist bei Hofe zum Tee. So etwas Interessantes gibt es gar nicht auf der Welt, um dessentwillen sie diesen Tee versäumen würde. Diese Gegend ist im übrigen vollständig einsam, deswegen liebe ich sie auch. Die Stille tut sehr wohl. Und es tut wohl, daß Sie hier sind, Olga.«

»Es tut wohl, natürlich. In Rom haben Sie es aber fertiggebracht, sich von mir zu trennen. Das werde ich Ihnen nie verzeihen. Ich verstehe auch gar nicht, wie ich so verrückt sein kann: auf ein einziges Wort bin ich hierhergekommen. Aber jetzt ist es einerlei …«

Die schwarze Baronin legte ihren Kopf zurück und schloß die Augen. Sie wartete auf den Kuß. Was sie gesagt hatte, stimmte nicht ganz. Diese Zusammenkunft hatte nicht der Abbé vorgeschlagen, sondern sie. Über diesen kleinen Unterschied wollte der Abbé aber nicht streiten. Er nahm den schönen Kopf zwischen seine beiden Hände und zog ihn an sich. Er näherte seinen Mund langsam dem Mund der Frau, ruhig und bedächtig wie ein Feinschmecker, der den Genuß des Leckerbissens trotz gierigen Appetites nicht übereilt. Und als die Baronin nach einer langen Stunde wieder weggehuscht war, sah er ihr nach. Die hohe, schlanke Gestalt eilte im Rahmen der weißen Straße allein dahin, nicht eine einzige Seele war zu sehen.

Das erste Hofkonzert fand sehr bald statt. Es war mit Schwierigkeiten verbunden, denn Reményi, der eingeladen war, hatte wegen Reisestörungen Verspätung. Da mußten sie jemand anders einladen. Der Festsaal des großherzoglichen Schlosses bot ein farbenprächtiges Bild. Die festliche Stimmung verursachte der berühmte, große Mann, der weißhaarige Abbé, der Verwöhnte, die Seele von Weimar. Und die Konzerte, die der Großherzogin für wohltätige Zwecke große Beträge einbrachten, folgten einander in kurzen Abständen. Der Abbé lud nacheinander seine berühmten Schüler ein. Bronsart kam, Rubinstein und Tausig, die einstigen drei Wunderkinder. Alle drei waren schon verheiratet. Bronsart war Intendant in Hannover und hatte eine Klavierkünstlerin mit Namen Ingeborg Starck geheiratet, Rubinstein eine Russin, Vera Zyganow, Tausig, der einstige Schrecken der Altenburg, der unartige Lümmel, hatte niemand anderen zur Frau als die kleine Serafine Orabély, mit der Franzi nach der Uraufführung der Graner Messe auf dem Dampfer Mittag gegessen hatte. Bronsart und Rubinstein führten ein sehr glückliches Familienleben, Tausig nicht. Die Lungenkrankheit hatte aus ihm einen skeletthageren, früh gealterten Mann gemacht, die Seele war in ihm förmlich schlafen gegangen.

Ende März fuhr der Abbé schweren Herzens aus Weimar ab, es fiel ihm nicht leicht, die Hofgärtnerei zu verlassen. Das großherzogliche Paar war nicht müde geworden, ihn zu verwöhnen. Es war keine Woche vergangen, ohne daß sie ihn mit irgendeinem Geschenk erfreut hätten. Wenn in dieser großen Liebe auch ein wenig Kulturpolitik liegen mochte, so erwies sich diese doch als ganz richtig; denn Franzi war in Weimar kaum etwas warm geworden, da meldeten sich schon vier Schüler bei ihm, wenn auch nicht allzu bedeutende. Man konnte aber die Zeit voraussehen, wo alle Klavierspieler der Welt nach Weimar kommen würden, in die Nähe ihres großen Meisters, wenn die Nachricht über seinen Aufenthalt in Weimar erst allgemein bekanntgeworden war. Sie würden dann Weimars Ruf auf ihrer Laufbahn in der ganzen Welt verkünden.

Von Weimar aus mußte Franzi nach Wien reisen, dann nach Pest. In Wien wollte er sein Elisabeth-Oratorium hören. Dieses Werk hatte einen außerordentlichen Erfolg, ja sogar einen noch größeren Erfolg als in Pest und auf der Wartburg. Aber eine noch größere Freude wurde ihm durch eine seiner alten Bekannten, die kleine Sophie Menter, die mit ihrem Klavierkönnen schon vor die Öffentlichkeit getreten war und jetzt in Wien spielte. Die energische und schlagfertige kleine Frau hatte beschlossen, in Wien das Es-dur-Klavierkonzert des Meisters zu spielen, das seinerzeit Hanslick als Kling-klang-Musik bezeichnet hatte. Jedermann riet der Künstlerin erschrocken von diesem unbedachten Plan ab, sie kümmerte sich aber weder um Hanslick, noch um sonst etwas. Sie spielte das Stück und hatte einen Riesenerfolg damit. Das war ein heldenhaftes Unternehmen, ein imponierendes Bekenntnis zum Meister. Der Abbé küßte Sophie auf die Stirn. Bis jetzt hatte er sich nicht allzuviel um diese Frau gekümmert. Von nun an rechnete er sie aber zu den ihm am nächsten Stehenden.

Nun hätte er eigentlich nach Regensburg fahren müssen. Hans gab dort Konzerte zugunsten des Peterspfennigs und hatte sein Programm ausschließlich aus Werken von Liszt zusammengesetzt. Franzi bangte vor diesem Zusammentreffen. Er wußte, daß er Cosima nicht in Schutz nehmen konnte, verurteilen wollte er sie andererseits aber auch nicht. Deshalb hatte Baron Augusz, der ihn in Wien aufsuchte, eigens um ihn nach Pest zu locken, keinen allzu schweren Stand. Dazu kam noch, daß er ihn mit der Krönungsmesse und mit der Aufführung der Dante- und Hungaria-Symphonie lockte. Franzi entschloß sich schnell und schrieb Hans, er könne jetzt nicht nach Regensburg kommen, er würde ihn aber im Sommer in München besuchen, wenn auf Befehl König Ludwigs das erste Stück der Tetralogie, das »Rheingold«, aufgeführt würde. Und er fuhr nach Pest. Auch die blauäugige Sophie begleitete ihn. Augusz flüsterte dem Abbé vertraulich zu:

»Ein neues Opfer?«

»Nein«, entgegnete der kopfschüttelnd, »das ist ein anständiges Mädchen. Ich habe in meinem Leben mich Frauen gegenüber oft genug töricht und leichtsinnig benommen, aber ein unschuldiges Mädchen habe ich noch nie unglücklich gemacht.«

Augusz sah ihn verwundert an. Er wußte nicht, ob dieser berühmte Fraueneroberer ernst sprach oder nur bescheiden tat.

»Du siehst mich zu Unrecht so ungläubig an, es ist so. Ich weiß, daß man mich für einen satanischen Frauenjäger hält. Und trotzdem ist es so, wie ich gesagt habe. Das wird auch immer so bleiben. Die Reinheit ist mir heilig. Daß ich mir jemals eine Lilie ins Knopfloch stecken wollte, habe ich mir immer nur auf eine einzige Art und Weise vorstellen können, nämlich vor dem Altar. Die Ehe hat mir das Schicksal aber vorenthalten.«

Der Baron zuckte die Achseln und lächelte taktvoll. Er glaubte die ganze Sache noch immer nicht. Nur Franzi wußte, daß es wirklich so war, wie er gesagt hatte. Und er war aus ganzem Herzen froh darüber, daß es so war.

Ungefähr zwei Wochen verbrachte er in Pest. Er wohnte abermals in der Pfarrabtei. Von einer Soirée mußte er zur andern. Auch das königliche Paar hielt sich in der Hauptstadt auf. Auf der großen Soirée des Ministerpräsidenten Graf Julius Andrássy traf er sie. Man stellte ihn der Königin Elisabeth vor. Die bezaubernde Frau trug ein weißes Seidenkleid, darüber eine mit Silbersternen bestickte Schleiertunika. Ihre unwahrscheinliche Schlankheit schwamm über dem Glanz des Balles wie ein königlicher Schwan. Sie reichte dem berühmten Mann die Hand, sah ihn mit ihren melancholischen, großen Augen an, nickte freundlich, dann ging ihr tieftrauriger, kindlich erschrockener Wittelsbacher-Blick auch schon ins Leere. Sie unterhielt sich sonst nur mit der Gräfin Andrássy, sie setzten sich beide in eine Sofaecke und sahen von dort den Tausenden zu. Erst später lief eine leise Erregung durch die erlauchte Gesellschaft: die Königin sprach ungarisch. Viele gingen an ihr vorüber, um etwas von diesem großen Ereignis zu erhaschen. Auch der Abbé sah es: die königliche Frau sprach mit einem schlichten, kleinen, häßlichen Mann. Es stellte sich heraus, daß es Nikolaus Falk, ein Journalist, war. Elisabeth hatte ihn zu ihrem ungarischen Sprachlehrer erwählt. Sie unterhielten sich auch schon ganz fließend. Der Abbé beobachtete sie eine kleine Weile, konnte auch ein oder zwei Worte auffangen, aber er verstand davon nichts. Beschämt wandte er sich ab und ging in den anderen Saal. Da umflutete ihn sofort eine aristokratische Gesellschaft. Er wußte nicht, wohin er zuerst sehen und wem er zuerst antworten sollte. Baron Augusz war andauernd neben ihm und machte ihn mit kurzen Bemerkungen auf Namen, Zusammenhänge und Familienbeziehungen aufmerksam. Dieses junge Paar zum Beispiel ist Graf Stefan Károlyi und Gräfin Margarete Csekonics, das andere dort Graf Edmund Csekonics und Gräfin Constanze Cziráky: sie ist heute abend der Königin vorgestellt worden. Jene interessante Dame ist die Herzogin Paul Esterházy, geborene Prinzessin Trautmannsdorff, sie ist heute zum ersten Male in einer ungarischen Gesellschaft erschienen. Dieser Herr dort mit der imposanten Gestalt und dem großen Schnurrbart ist der General Türr, vor kurzem noch der kriegerische Gegner, heute unter dem gleichen Dach mit demselben Franz Josef, der ihn seinerzeit zum Tode verurteilt hatte, das Urteil aber nur in effigie vollstrecken lassen konnte. Die Dame dort, ganz in seiner Nähe, ist die Frau eines Generals Garibaldis, die Kusine Napoleons III. Der da ist Graf Emmerich Széchenyi, seine Frau eine Gräfin Sztáray-Szirmay. Jener außerordentlich hochgewachsene junge Mann ist Graf Albert Apponyi.

»Graf Apponyi? Ein Verwandter des ehemaligen Botschafters in Paris? Den möchte ich näher kennenlernen.«

»Das meine ich auch. Dieser junge Mann wird's einmal noch weit bringen. Der arme Széchenyi nannte ihn damals, als er noch ein kleiner Junge war, nur ›Albi, der kleine Gott‹.«

Der weißhaarige Abbé und der alle anderen um eine Kopfeslänge überragende, schmächtige, junge Graf kamen alsbald ins Gespräch.

»Ich freue mich dieser Bekanntschaft außerordentlich, lieber Graf. In welchem verwandtschaftlichen Verhältnis stehen Sie zu dem unvergeßlichen Gönner meiner Jugend, dem Botschafter in Paris, Graf Anton?«

»Er war der Bruder meines Großvaters. Sein Sohn Rudolf ist jetzt Botschafter in England.«

»Ach, der liebenswürdige Graf Rudolf, ein sehr netter Mensch. In Paris habe ich damals unvergeßliche Zeiten erlebt.«

»Ich habe viel von dieser Zeit gehört, Meister, von einem Pariser Freund, dem Grafen Montalembert. Er hat mir auch viel von dem interessanten Leben Ihres gemeinsamen Freundes, des Abbé Lamennais, erzählt.«

»Was? Graf Montalembert?«

Schon waren sie bei einem Punkt angelangt, wo sich alle beide zu Hause fühlten. Bei den Problemen des Katholizismus. Albert Apponyi war bei den Jesuiten in Karlsburg erzogen wurden, und die religiösen Fragen beschäftigten ihn viel. Als sich dann herausstellte, daß der Graf obendrein ein gebildeter Musiker war und noch dazu leidenschaftlicher Anhänger Wagners, konnte man die beiden gar nicht mehr voneinander trennen. Eine beglückende Überraschung bedeutete dann noch das Erscheinen Haynalds, der die Hände des Abbé herzlich schüttelte. Der rebellische Bischof, der sich die Gunst der Habsburger verscherzt hatte, war jetzt Erzbischof von Kalocsa. Dann trat Graf Emmerich Széchenyi zu ihnen. Seine Frau musizierte sehr gerne und wollte den berühmten Mann unter allen Umständen in ihrem Hause begrüßen.

»Sie müssen auch aufs Land zu uns kommen, wir leben sehr angenehm in Horpács. Wir setzen eine Zeit fest und rufen eine ganze musizierende Gesellschaft zusammen. Auch du kommst doch, Albi, wenn der Meister kommt?«

»Sehr gerne.«

Haynald ließ es auch dabei nicht bewenden.

»Kalocsa hat auch noch etwas zu sagen. Ich kann unserem berühmten Manne dort sogar noch eine ganz besondere Attraktion bieten: sein Vetter, der Alois Hennig, ist jetzt Rektor des Kalocsaer Jesuitenordens. Wir gedenken des weltberühmten Verwandten sehr oft.«

Das alles mußte der Abbé in die Hand versprechen. Daß er auch nach Horpács, nach Kalocsa und selbstverständlich auch nach Szegszárd zu Augusz kommen wolle. Und für den Sommer hatte er sich in München bei Hans angemeldet. Was würde Carolyne zu diesen vielen Reisen sagen? Aber Carolyne war so weit weg, und diese alle hier waren so entzückende Menschen. Während seines Aufenthaltes in Pest sah er sie noch öfters, insbesondere machte der junge Apponyi einen großen Eindruck auf ihn mit seinen sogar bei den Aristokraten ungewöhnlichen Sprachkenntnissen, mit seiner umfassenden Bildung und dem großen musikalischen Verständnis. Franzi lernte aber auch noch andere Berühmtheiten kennen, wie Maurus Jókai, den berühmten Schriftsteller, der sehr viel von dem legendären Alexander Petöfi erzählen konnte, dann den Polizei-Oberstadthauptmann, der sein Amt mit jovialer Nachlässigkeit verwaltete, den Politiker Samuel Bónis, der berühmt geworden war, weil er die ungarische Königskrone vergraben hatte, als der Freiheitskampf verloren war. In all diesen Menschen fand Franzi sofort liebenswürdige, teilnahmsvolle, gleichgesinnte Kameraden. Nur einem einzigen Menschen gegenüber empfand er, wenn auch keine vollkommene Antipathie, so doch ein instinktives Befremden. Das war Kolman Tisza, der Führer der Opposition im Parlament, einer der Hauptvertreter des ungarischen Protestantismus. Sie waren einander nur flüchtig begegnet und hatten kaum ein paar Worte miteinander gewechselt. Sofort aber erhob sich zwischen ihnen die eisige Wand, die zwei grundsätzlich verschiedene Persönlichkeiten schon im ersten Augenblick voneinander zu trennen pflegt, ohne daß sie auch nur ein Wort gewechselt zu haben brauchen.

»Erzähle mir bitte von diesem Menschen«, bat er Augusz, »das ist keine alltägliche Erscheinung, und ich weiß nicht, woran ich mit ihm bin.«

»Du meinst Kolman Tisza? In der Tat, ein nicht alltäglicher Mensch. Ein ungarischer, protestantischer Edelmann; diese Sorte kennst du noch nicht. Das sind harte, logische, nüchterne Menschen, die werden nie weich, nur wenn von ihrem Ungartum die Rede ist, sind sie gerührt. In unserer alten Geschichte gehörten einst Protestantismus, Gegnerschaft gegen Habsburg und hochfahrendes, selbständiges Ungartum immer zusammen. Der katholische Magnat sah nur in der Macht der Habsburger den Schutz seiner Rasse gegen die Türken. Der protestantische Adelige stemmte seinen Rücken an die türkisch-siebenbürgische Mauer gegen die Gefahr, sein Volkstum an die Österreicher zu verlieren. Der katholische Graf und der reformierte Edelmann, das sind die beiden äußersten Typen des ungarischen öffentlichen Lebens. Verstehst du das? Wenn nicht, kann ich es dir noch eingehender erklären.«

»Ich verstehe es nicht ganz, aber bemühe dich nicht weiter. Ich befürchte, daß du sehr viel erklären müßtest. Ist denn dieser Tisza wegen irgend etwas böse auf mich?«

»Warum? War er unhöflich zu dir?«

»Im Gegenteil, er war so höflich, daß ich fast erfroren bin. Aber der hat mich nicht gerne. Ich habe ein untrügliches Gefühl dafür, wenn mich jemand nicht leiden kann.«

»Ich habe erzählen hören«, sagte Augusz zögernd, »daß er dich nicht für einen Ungarn hält. Über dein Zigeunerbuch war er sehr zornig, wie so viele andere auch. Und diesen Typ muß man kennen. Der ist mit der ungarischen Erde verwachsen wie das Reihergras. Wer lieber im Ausland lebt, ist ihm verdächtig. Und dann sprichst du ja auch nicht ungarisch …«

»Aber entschuldige nur«, brauste der Abbé auf, »eine ganze Menge ungarischer Magnaten spricht nicht ungarisch.«

»Beruhige dich, die sind ihm auch verdächtig.«

Bei demselben Festessen, wo diese Unterredung stattfand, hielt Cornelius Abrányi eine große Begrüßungsansprache. Sein Glas dem Abbé entgegenhebend, sah er ihm in die Augen und richtete mit großem Pathos die Aufforderung an ihn, in seine Heimat zurückzukehren; ein so großer Ungar hätte hier seinen Platz. Hier hatte es Franzi mit der Antwort leicht, indem er bloß heftig nickte und dem dröhnenden Applaus zustimmte. Als er aber nachts in der Pfarrabtei allein war, wurde er mit sich selbst nicht so leicht fertig. Er dachte über sein Ungartum nach. Die durchdringende Kälte des kurzsichtigen Blickes von Kolman Tisza empfand er hier am meisten. Er haßte diesen Tisza und betete ihn zugleich an. Er haßte ihn, weil er so ganz anders war als er und ihn nicht leiden konnte. Andererseits bewunderte er ihn aber auch, weil er eine kleine Sehnsucht danach verspürte, auch ein solcher Ungar, so halsstarrig, so unduldsam und den Wundern der Außenwelt gegenüber so hochmütig verschlossen zu sein. Er hätte sich lieber ebenso auf der Scholle heimisch gefühlt wie jener, er hätte gerne von Paris und Rom nichts gewußt, um im Gefühl der Zugehörigkeit zu diesem einzigen Land vollkommen aufzugehen. Und als er über diese Sehnsucht nachsann, bemerkte er verwundert, daß das im Grunde genommen das tiefste Problem seines Lebens war. Er hatte immer nur die Sehnsucht gehabt: sich selbst vollkommen zu geben, sich selbst mit seiner eigenen Hand zu erfassen und auf irgendeinen Altar, ganz gleich auf welchen, hinzulegen. Er hatte dieses vollständige, glückselige, der Vernichtung gleichkommende Sichauflösen bei Gott gesucht. Es war nicht gelungen. Er hatte es bei den Frauen gesucht. Es war nicht gelungen. Er hatte es bei Freunden gesucht. Es war nicht gelungen. Er hatte es im Patriotismus gesucht. Da gelang es am allerwenigsten. Sogar in der Musik gelang es nicht vollkommen, denn auch mit der Musik war es wie mit Marie oder Carolyne: es gab Minuten, wo er dachte, sich vollständig gegeben zu haben, viel später mußte er dann aber erkennen, daß in seiner tiefsten Seele immer etwas Unbefriedigtes übriggeblieben war.

Jetzt leuchtete in ihm aber ein Hoffnungsstrahl auf. Nach Hause ziehen, das würde vielleicht sehr viel ändern. Unzählige Gesichtspunkte des persönlichen und des musikalischen Lebens spielten hier mit, von der Fürstin Carolyne angefangen, bis zur Abgesondertheit des ungarischen Musiklebens. Wenn man aber endlich einmal diese Pester Musikakademie ins Leben rufen könnte, dann fände sich vielleicht auch für ihn eine Aufgabe. Hier leben, nach soviel Jahren in der Fremde hier zu Hause Wurzeln fassen, die ungarische Sehnsucht seiner Seele zur Wirklichkeit gestalten, – das könnte vielleicht alles ersetzen, was seine nach Hingabe strebende Seele sein ganzes Leben lang umsonst gesucht hatte.

Zu Hause in Rom konnte er nur kurze Zeit verweilen. Der Kardinal Hohenlohe hatte ihn abermals nach Tivoli eingeladen, und er war glücklich dahin geeilt, um im zweiten Stockwerk sein kleines, auf die Campagna blickendes Appartement zu beziehen. Hier störte ihn niemand, und vor den unbequemen Besuchern, die ihn aufsuchten wie die Neugierigen den schiefen Turm zu Pisa, konnte er sich verstecken. Er konnte nach Herzenslust musizieren, einmal in der Woche konnte er seine Schüler empfangen und sich mit ihnen beschäftigen, insbesondere mit Nino Sgambati, an dessen hinreißender Begabung er immer mehr Gefallen fand.

Mit den Schülern kam auch Olga Janina. Und sie nahm wieder ihre alten Gewohnheiten auf, schrak vor der vier- bis fünfstündigen holprigen Wagenfahrt durch die Campagna nicht zurück und kam immer öfter. Franzi hatte nichts dagegen. Ihr kindisches Geschwätz, ihr schwülstiges und unglaubhaft romantisches Ausschneiden von ihrer Kindheit, ihre verklärte Schwärmerei war er schon gewöhnt. Er betrachtete sie ungefähr so, als wenn ein Kanarienvogel um ihn herumhüpfte. Nach ihrer jugendlichen Frische hätte er noch Verlangen gehabt, die wilde Liebe aber, die nach einem ernsteren Schritt bei dieser eitlen und resoluten Frau sicherlich zu befürchten war, langweilte ihn. Die Tscherkessin schwatzte darauf los, und er hörte mit halbem Ohr zu. Oder sie gingen im Wunderpark spazieren, wo das eintönige Plätschern der märchenhaften Springbrunnen den anderswo schwülen, hier kühlen und schattigen italienischen Sommer mit einer so gesegneten und geheimnisvollen Stimmung erfüllte. Abends begleitete er sie bis zu jenem kleinen Platz, von dem die Kutscher nach Rom zurückfuhren, er half der verliebten Schülerin in den Wagen, und in der nächsten Sekunde dachte er schon gar nicht mehr an sie.

An einem bewölkten Sommertage fühlte er sich sehr unruhig und nervös. Er bekam die Nachricht, daß Cosima in Triebschen einen Sohn geboren hatte. Diese Cosima, deren Scheidungsprozeß noch nicht beendet war. Er versuchte umsonst, sich damit zu trösten, daß es nicht am Platze sei, sich darüber so aufzuregen, denn seine drei Kinder waren ja auch außer der Ehe geboren. Das war aber nur eine Begründung für seinen Verstand, nicht für sein Herz. Zornige Scham und brennenden Schmerz empfand er. Wie bei solchen Gelegenheiten immer, nahm er auch jetzt zum Klavier Zuflucht. Wie der Nervosität eines anderen das körperliche Bad half, pflegte ihm das seelische Bad zu helfen. Er spielte gerade die Predigt des Heiligen Franz von Assisi an die Vögel, als ihm jemand von hinten die Augen zuhielt und ihn auf den Mund küßte. Es war Olga Janina, die aus Rom herausgekommen und unbemerkt in sein Zimmer geschlichen war.

»Scher' dich zum Teufel!« schrie er zornig, denn dieser unerwartete Angriff hatte ihn erschreckt.

Sogleich bedauerte er aber auch seine Heftigkeit, die Tscherkessin warf sich aufs Sofa und fing bitterlich an zu schluchzen. Wie sie so dalag, zeichneten sich ihre frischen, schmalen, jungen Linien deutlich unter dem Kleid ab. Er trat zu ihr und versuchte sie zu trösten. Er strich ihr nur übers Haar, das war Olga Janina aber schon genug. Sie hörte sofort mit Weinen auf. Ihre Augen standen noch voller Tränen, ihr Mund lachte aber schon wieder glücklich.

Spät am Nachmittag brach ein Sturm herein. Ein förmlicher Orkan donnerte über Tivoli hinweg, der Wind beugte wütend die mächtigen Pinien des Parkes und schleuderte die Regenmassen bald nach dieser, bald nach jener Richtung. Der Sturm drängte sie ins Zimmer. Olga Janina jauchzte glücklich, das Donnern und Blitzen liebte sie sehr. Und ihrem Gesicht war anzusehen, daß sie angespannt etwas überlegte.

»Seien Sie unbesorgt«, sagte Franzi, »das ist ein Sommergewitter, das läuft schnell über die Hügel hinweg.«

Der Sturm legte sich aber nicht. Sie aßen zu zweit Abendbrot, Franzi ließ seinem Gast zuliebe Champagner bringen und trank viel Kognak wie immer, wenn er sehr gereizt war. Spät am Abend schauten sie aus dem Bergfenster, der Regen strömte hernieder, als ob man ihn aus Kübeln herabgösse.

»Das ist hoffnungslos«, meinte Franzi, »wie soll ich Sie jetzt nach Rom schicken? Wir können ja nicht einmal bis zu den Kutschern gehen.«

»Allenfalls könnte ich hier schlafen«, erwiderte Olga Janina mit einem nervösen Lachen, »in diesem Zimmer ist ja ein Sofa und eine Decke wird sich auch finden. Ich schließe die Türe zu, da kann mir nichts passieren.«

Der Abbé blickte die Tscherkessin hochmütig an.

»Nein, meine teure Gräfin, hier kann Ihnen nichts passieren.«

Sie blieben noch eine ganze Weile wach. Olga Janina erzählte von ihrem Tscherkessenvaterland das Blaue vom Himmel herunter, er hörte nicht besonders aufmerksam zu. Lange nach Mitternacht, als draußen der Sturm in gleichmäßigen Regen übergegangen war, legten sie sich zur Ruhe. Die Tscherkessengräfin bekam Bettzeug aufs Sofa. Franzi tätschelte ihr liebenswürdig die Wangen, wünschte gute Nacht und zog sich in sein Schlafzimmer zurück. Er blätterte noch eine Zeitlang im Brevier, dann blies er die Kerze aus.

Er hatte die Augen noch nicht geschlossen, als vorsichtig die Tür knackte. Im nächsten Augenblick berührten ihn tastende Hände. Dann wurden seine Schultern krampfhaft umklammert. Wie erobernde Männer ihr Opfer an sich zu pressen pflegen. Er zögerte noch ein wenig, dann hob er seine beiden Arme und erwiderte ihre Umarmung.

Am anderen Morgen gingen sie unten im Park spazieren. Franzi war wortkarg und nachdenklich. Im Grunde genommen war ihm die Tscherkessengräfin schon jetzt zuwider. Und ein ausgesprochen unbehagliches Gefühl stieg in ihm auf, als diese Frau ihn am hellichten Tage leidenschaftlich mit du anredete.

»Sag'«, fragte Olga Janina mit feurigen Blicken, »stimmt das, daß du mit so unglaublich viel Frauen in deinem Leben zu tun gehabt hast?«

»Wie soll das wahr sein, eine Kinderei.«

»Doch, es ist wahr, du bist nur bescheiden. Wie alt bist du denn?«

»Achtundfünfzig.«

»Na, während dieser langen Zeit konnten es tausend und abertausend sein. Dein Ruf ist ja auch danach. Aber ich wundere mich gar nicht darüber. Ich weiß von mir am besten, wie satanisch man dich begehren kann.«

Der Abbé entgegnete nichts. Es langweilte ihn. Er blieb stehen und beobachtete eine Schnecke auf dem aufgeweichten Kiesweg.

»Nicht wahr, du warst nie hoffnungslos verliebt?«

»Doch, ja. Einmal. Das hält auch heute noch an. Es gibt jemanden, in den ich hoffnungslos verliebt bin.«

Olga Janina geriet plötzlich in eine wilde Eifersucht. Er sah, daß er es noch sehr schwer mit ihr haben würde.

»Wer ist es?« schrie sie haßerfüllt.

»Du kennst sie nicht. Man nennt sie Hungaria.«


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