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Siebenundfünfzigster Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

Die Wüstlinge unterhalten hier eine Unzahl von Freudenmädchen, und die Frommen eine zahllose Menge von Derwischen. Diese Derwische sind Männer, welche die drei Gelübde des Gehorsams, der Armut und der Keuschheit abgelegt haben. Das erste sollen sie am besten beobachten; was aber das zweite betrifft, so kann ich bezeugen, daß es nicht gehalten wird; und Du magst selbst entscheiden, wie sie sich mit dem dritten abfinden.

Aber mögen diese Derwische auch noch so reich sein, niemals treten sie aus dem Stande der Armut; eher würde unser ruhmreicher Sultan auf seine erlauchten und erhabenen Titel verzichten. Und sie thun ganz recht daran; denn daß sie arm heißen, schützt sie davor, arm zu sein.

Die Ärzte und einige dieser Derwische, welche man Beichtväter nennt, werden hier immer zu hoch geehrt oder zu tief verachtet. Man sagt indessen, daß die Erben sich besser mit den Ärzten als mit den Beichtvätern verstehen.

Neulich habe ich ein Kloster dieser Derwische besucht. Einer von ihnen, dem sein weißes Haar ein ehrwürdiges Aussehen verlieh, hieß mich mit vieler Artigkeit willkommen. Er ließ mich das ganze Gebäude in Augenschein nehmen und führte mich dann in den Garten, wo sich ein Gespräch zwischen uns entspann. »Ehrwürdiger Vater,« fragte ich ihn, »welche Stellung bekleiden Sie in Ihrem Orden?« – Er zeigte sich sehr zufrieden über meine Frage und antwortete mir: »Ich bin ein Casuist, mein Herr.« – »Ein Casuist?« rief ich aus. »Von diesem Amte habe ich noch nie gehört, so lange ich in Frankreich bin.« – »Wie, Sie wissen nicht, was ein Casuist ist? Nun denn, so schenken Sie mir Ihre Aufmerksamkeit, und ich will Ihnen eine Erklärung davon geben, die Ihnen nichts zu wünschen übrig lassen soll. Es giebt zwei Arten von Sünden: Todsünden, durch welche man des Paradieses durchaus verlustig geht; und Laßsünden, die zwar auch Gottes Zorn erregen, aber doch nicht tief genug, daß er uns deshalb die Seligkeit versagen sollte. Unsere ganze Kunst besteht nun darin, zwischen diesen beiden Arten der Sünde wohl zu unterscheiden; denn mit Ausnahme einiger Freigeister begehren alle Christen, in den Himmel zu kommen; aber fast jeder möchte ihn zu billigerem Preise erwerben, als er zu haben ist. Es ist erquicklich, dieser schachernden Jesuitenmoral das Wort eines amerikanischen Dichters gegenüberzustellen: »Heaven alone can be had for the asking.« (Lowell, The Vision of Sir Launfal.) Kennt man die Todsünde zur Genüge, so geht man diesen aus dem Wege, und alles ist in Richtigkeit. Es giebt aber Menschen, die nach keiner so hohen Vollkommenheit streben; da sie keinen Ehrgeiz besitzen, so liegt ihnen nichts an den ersten Plätzen. Auch thun sie alles, um nur gerade mit knapper Not in das Paradies zu gelangen; es genügt ihnen schon, wenn sie nur eben hineinkommen; sie wollen nichts darüber thun und nichts darunter. Solche Leute kommen vielmehr durch Gewalt, als durch Verdienst in den Himmel; sie sprechen zu Gott: ›Herr, ich habe alle Bedingungen auf das strengste erfüllt; Du kannst also nicht umhin, mir Dein Versprechen zu halten. Da ich nicht mehr gethan habe, als Du von mir verlangtest, so erlasse ich Dir auch, mir mehr zu geben, als Du versprochen hast.‹

Wir sind also unentbehrliche Leute, mein Herr. Doch ist dies noch nicht alles; Sie sollen noch ganz andere Dinge hören. Keine Handlung ist in sich selbst ein Verbrechen; sie wird es erst durch das Bewußtsein ihrer Strafbarkeit, Es ist jedenfalls richtig, daß moralische Schuld das Schuldbewußtsein voraussetzt, wie auch Usbek selbst früher andeutete, als er die Relativität des Begriffes »unrein« darlegte. (Vergl. Brief 17.) Hier aber handelt es sich um die Rechtfertigung der wirklichen Schuld. Pascal hatte die Verderblichkeit der casuistischen Moral bereits sehr ernstlich bloßgestellt (Avis sur les maximes casuistes). Er sagt: Die menschliche Natur ist von Geburt an auf das Böse gerichtet und gewöhnlich nur durch die Scheu vor dem Gesetze in Zaum gehalten. Sobald diese Scheu verschwindet, greift die Begehrlichkeit widerstandslos um sich, und alsdann ist es ganz dasselbe, ob man die Laster erlaube oder alle Menschen lasterhaft mache.« mit dem man sie begeht. Wer Böses thut, hat ein ruhiges Gewissen, so lange er nicht weiß, daß es etwas Böses ist; und da es eine Unmenge von zweideutigen Handlungen giebt, so kann ein Casuist ihnen einen Grad von Güte zuschreiben, der ihnen eigentlich nicht zukommt, indem er sie für gut erklärt; und wenn er es so darstellen kann, als ob sie ohne böse Absicht begangen wurden, so spricht er sie ganz davon frei.

Ich weihe Sie hiermit in die Geheimnisse eines Gewerbes ein, bei dem ich alt geworden bin; ich habe Ihnen unsere verborgenen Kniffe aufgedeckt. Alles läßt sich drehen, selbst die Dinge, die es scheinbar am wenigsten vertragen.«

»Ehrwürdiger Vater,« entgegnete ich ihm, »das hört sich alles recht gut an. Aber wie finden Sie sich dabei mit dem Himmel ab? Wenn der Groß-Sofi Titel des Königs von Persien. an seinem Hofe einen Menschen hätte, der so gegen ihn verführe, wie Sie gegen Ihren Gott; einen Menschen, der zwischen seinen Geboten einen Unterschied machte und seinen Unterthanen in den Kopf setzte, daß es Fälle giebt, in welchen sie dieselben halten müssen, und andere, in welchen sie sie übertreten dürfen: er würde ihn augenblicklich spießen lassen.«

Mit diesen Worten grüßte ich meinen Derwisch und verließ ihn, ohne eine Antwort abzuwarten.

Paris, am 32. des Mondes Maharram, 1714.



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