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Vorwort des Herausgebers.

Bei dem regen Eifer, mit welchem in Deutschland die Geschichte der Philosophie im Allgemeinen gepflegt wird, ist es befremdlich, dass die französische Philosophie unseres Jahrhunderts bis jetzt ganz vernachlässigt ist; wir wüssten in der That nur das kleine Schriftchen von Borelius: »Blicke auf den gegenwärtigen Standpunkt der Philosophie in Deutschland und Frankreich« anzuführen, welches neben den neueren deutschen Denkern auch die vorzüglichsten Frankreichs kurz aber meist treffend charakterisirt. Es ist schwer zu sagen, ob es die Ursache oder eine Folge dieses Umstandes ist, dass die in dem bezeichneten Zeitraume in Frankreich entwickelten philosophischen Anschauungen sehr wenig Einfluss auf die deutsche Philosophie geübt haben, welche, soweit sie überhaupt fremder Anregung gefolgt ist, sich wesentlich an englische Systeme angelehnt hat.

Bei den Franzosen sind die glänzenden Leistungen der deutschen Spekulation seit Kant nicht unbeachtet geblieben; doch kann man deshalb nicht sagen, dass ihnen die Selbständigkeit des Philosophirens verloren gegangen sei. Freilich kann sich das Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts an Kraft und Fruchtbarkeit des philosophischen Denkens mit Deutschland und England nicht messen, und insofern könnte Mancher geneigt sein, die bei uns herrschende Unkenntnis seiner philosophischen Leistungen für keinen so grossen Schaden zu halten; immerhin jedoch bekunden die französischen Denker, selbst in dem Falle, wo sie sich nur fremde Gedanken angeeignet haben, eine ihnen eigentümliche Auffassungsweise, so dass man mit Recht von einer specifisch französischen Denkweise und Denkrichtung reden kann, und dass die Vergleichung der Resultate des modernen französischen Denkens mit denen des deutschen und englischen unter allen Umständen eine belehrende sein muss.

Es schien uns deshalb der Mühe wert zu sein, wenn das deutsche Publikum mit der neueren französischen Philosophie etwas genauer bekannt gemacht würde. Eigentlich sollte nun zwar die Kenntnis philosophischer Lehren immer aus den Originalwerken geschöpft werden, doch dürfte in unserem Falle eine berichtende Uebersicht der in Betracht kommenden Leistungen zur Einführung in das Gebiet zunächst dem Zwecke am besten entsprechen. Eine solche selbständig anzufertigen hielt der Unterzeichnete aus dem Grunde für überflüssig, da vorzügliche französische Arbeiten vorliegen, und er entschloss sich deshalb im Einvernehmen mit dem Herrn Verleger, eine derselben durch Uebertragung in Deutschland etwas mehr bekannt zu machen, als es fremdsprachliche Werke in der Regel sind.

Es existiren in Frankreich drei Schriften über die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts, von Taine, Janet und Ravaisson. Das Taine'sche Buch hat wie alle Schriften des berühmten Autors den Vorzug einer glänzenden Darstellung, es enthält zahlreiche geistvolle Bemerkungen über die Beziehungen zwischen der philosophischen Gedankenbewegung und der Entwickelung der politischen und socialen Zustände Frankreichs, welche letztere ebensosehr von den ersteren bedingt ist, als sie auf dieselbe mächtige innere und äussere Rückwirkungen übte: Die Regierung der bourbonischen Restitution begünstigte die katholisirende Richtung in der Philosophie; unter dem orleanistischen Regiment schwang sich der Eklekticismus zur Staatsphilosophie auf und wusste auf den öffentlichen Unterricht bedeutenden Einfluss zu gewinnen; das Kaiserreich zeigte sich der abstrakten Spekulation feindlich und begünstigte die positiven und exakten Wissenschaften. So belehrend die Darlegung dieser Umstände ist, so beurteilt doch Taine den Inhalt der Systeme zu einseitig und scharf vom Standpunkte des Positivismus aus, als dass sein Buch in Deutschland, wo dieser Standpunkt von den wenigsten geteilt wird, auf grösseren Beifall rechnen könnte. – Die Janet'sche Schrift ist ausserordentlich sorgfältig und unparteiisch eingehend aber eben deshalb für den vorliegenden Zweck etwas zu umfangreich. Das Buch von Ravaisson empfiehlt sich dagegen ausser durch seinen angemessenen Umfang durch den Ton einer gemässigten Kritik, welche in demselben gerade soweit geübt wird, um in die Einförmigkeit der blossen Berichterstattung einige Abwechselung zu bringen, sowie durch den (spiritualistischen) Standpunkt des Verfassers, welcher der deutschen Denkweise in vielen Beziehungen verwandt ist; und so geben wir uns der Hoffnung hin, dass die nachfolgende Uebertragung des Buches mit einigem Interesse in Deutschland aufgenommen werden und auf die Bestrebungen der französischen Denker eine etwas grössere Aufmerksamkeit lenken möge. Anmerk. Der geehrten Verlagsbuchhandlung von Hachette & Cie. in Paris sei auch an dieser Stelle für die in liebenswürdiger Weise erteilte Ermächtigung zur Uebersetzung freundlichst gedankt. – Zugleich sei Herrn Dr. Nathan in Dürkheim für die Durchsicht der Druckbogen der schuldige Dank ausgesprochen.

Der Text desselben wird ohne Zusätze geboten, obwohl es uns an manchen Stellen schwer wurde, epikritische Bemerkungen zu den Urteilen unseres Autors zu unterdrücken; dagegen sind am Schluss kurze biographische Notizen über die in Betracht kommenden Denker, soweit solche aus dem »Dictionnaire des Contemporains« von Vapereau (Paris 1870) zu erlangen, beigefügt; einige orientirende Bemerkungen zur Sache selbst sei es erlaubt an dieser Stelle vorauszuschicken.

Mehr als in irgend einem anderen Lande ist in Frankreich auch in der Gedankenbewegung der Gegenwart der Einfluss der grossen nationalen Denker der Vergangenheit eines Descartes, Malebranche und Condillac wiederzuerkennen, welche die Grundgedanken des philosophischen Geistes der Nation in typischer Weise zum Ausdruck gebracht zu haben scheinen. Die Hauptrichtungen, welche das Denken der Gegenwart eingeschlagen hat, lassen sich ungekünstelt an jene drei Namen anknüpfen; diese Richtungen sind ein ausserordentlich scharf ausgeprägter Spiritualismus, ein mehr oder minder specifisch katholischer Ontologismus und endlich der Sensualismus beziehungsweise Materialismus in ihren verschiedenen Verzweigungen; eine vierte, die am wenigsten bedeutende Richtung, der Kriticismus oder Relativismus hat an Kant anzuknüpfen gesucht. Die beiden ersteren sind in ihrer neueren Ausbildung fast vollständig auf Frankreich beschränkt geblieben; die dritte hat sich bekanntlich fast in allen Culturgebieten Europas bemerklich gemacht, aber doch auch in Frankreich nach Massgabe der eigentümlichen hier gegebenen historischen Vorbedingungen eine besondere Gestalt gewonnen.

Der Vater des Spiritualismus und der Begründer der neueren französischen Philosophie überhaupt, insofern sich dieselbe nachweisbar teils im Zusammenhange mit demselben, teils im Gegensatz zu ihm entwickelt hat, ist Maine de Biran, den wir aus diesem Grunde und wegen gewisser übereinstimmender Punkte seiner Lehre an anderer Stelle Philosophische Monatshefte, Bd. 25. Heft 3, 4. mit Kant verglichen haben. Jedenfalls hat derselbe mit Kant den Ausgangspunkt seines Denkens gemein, und dieser liegt in der Anerkennung der Notwendigkeit einer kritischen Prüfung der dogmatischen Begriffe, mit Verwerfung jedoch des Illusionismus, zu welchem sich Hume durch seine Art den Ursprung der metaphysischen Begriffe zu untersuchen geführt sah; die Frage für beide Denker war demnach: welchen Ausweg gibt es zwischen dem Dogmatismus, dessen Methode falsch ist, und dem Skepticismus, dessen Resultate falsch sind. Zur Beantwortung dieser Frage gelangte Kant auf Grund des von Leibniz entwickelten Intellektualismus: der Lehre von der Existenz reiner Begriffe, aus welchem sich weiterhin der transcendentale Idealismus ableitete. Biran seinerseits knüpfte an die Untersuchungen der sogenannten ideologischen Schule in Frankreich und der schottischen Schule in England an, um auf Grund einer verbesserten Psychologie die Erkenntnislehre und Metaphysik zu verbessern. Es ist ein Begriff, durch welchen beide die Reform der Philosophie versuchen: der Begriff der Spontaneität des Subjekts, nur dass Kant die logische Spontaneität des erkennenden Ich, Biran die psychologische des Subjekts der Empfindungen im Auge hat; der Sensualismus und die aus demselben abgeleitete erkenntnistheoretische Ansicht des Hume sind nach seiner Meinung darin mangelhaft, dass sie diese Spontaneität verkennen und so von einer falschen psychologischen Grundlage ausgehen.

Aus dem angedeuteten Zusammenhange erklärt sich die ganze Eigentümlichkeit des neueren französischen Spiritualismus; er will nicht ein dogmatischer, sondern ein kritischer Spiritualismus sein; mit metaphysischen Behauptungen endigend, sucht er in bestimmten Thatsachen des Bewusstseins oder der inneren Erfahrung Ausgangspunkt und Rechtfertigung, und glaubt sich somit unmittelbar als eine Weiterbildung der Lehren Locke's, Condillac's, Reid's geben zu können und die Ansprüche des Empirismus und Sensualismus mit den spekulativen Grundgedanken des Descartes zu versöhnen. So kommt es, dass wenigstens Biran in eine scharfe Opposition zum Apriorismus tritt, mit dem sonst in der Regel, z. B. bei Leibniz, der Spiritualismus aufs engste verbunden ist; die metaphysischen Begriffe sind ihm nicht apriori im Bewusstsein gegeben, sondern Thatsachen der inneren Erfahrung.

Cousin verquickte die Biran'sche Lehre mit den Begriffen des Kantischen und Nach-Kantischen deutschen Idealismus, wodurch sein eklektischer Spiritualismus zu Stande kam; aber auch er hielt daran fest, dass die logischen Kategorien sowohl wie auch die ästhetischen und ethischen Idealbegriffe sich durch eine Analyse des inneren Sinnesgebietes nachweisen lassen, welche nach der empirisch-induktiven Methode zu vollziehen sei; das Uebersinnliche, welches der deutsche Idealismus nur durch eine intellektuelle Anschauung oder einen ähnlichen Erkenntnisakt erreichen zu können meinte, glaubte er also aus der Erfahrung gewinnen zu können.

Die ontologistische Bewegung kämpft gegen diese empiristische Grundlegung der Metaphysik an, stellt sich dabei aber vielfach zugleich als eine Reaktion des katholischen Dogmenglaubens gegen die individualistische Tendenz des Spiritualismus dar, welcher das Selbstbewusstsein und die individuelle Vernunft zur obersten Richterin über Alles erklärte. Mehr als in irgend einem anderen Lande haben in Frankreich die Vertreter der katholischen Kirchenlehre an der allgemeinen philosophischen Bewegung Anteil genommen und durch kluge Zugeständnisse an das wissenschaftliche Denken, sowie durch Annahme seiner Methoden dasselbe in die ihnen genehmen Bahnen zu lenken versucht. So sind eine Anzahl Systeme entstanden, die ganz charakteristische Erscheinungen in der philosophischen Literatur Frankreichs darstellen, während wir in Deutschland nur durch Günther ein umfassendes spekulatives System im katholischen Sinne besitzen. Leider hat freilich der französische Klerus bisweilen auch andere Mittel zur Bekämpfung der ihm unliebsamen Lehren nicht gescheut: über viele Bücher ist öffentlich das Verdammungsurteil der Kirche ausgesprochen worden und selbst persönliche Denunciationen wegen Atheismus sind in Zeiten der politischen Reaktion nicht selten gewesen.

Der älteste Vertreter der ontologistischen Richtung ist Lamennais; er sucht die Unfruchtbarkeit der Analyse des Bewusstseinsinhaltes darzulegen und weist die Spekulation auf den Begriff des absoluten Seins, der Gottheit als auf ihren wahren Ausgangspunkt hin. Nicht um das Ich soll die Philosophie sich bewegen, sondern um das Objekt, an Stelle des Subjektivismus der Spiritualisten soll ein Objektivismus, die direkte Betrachtung des Seins treten; das letzte Kriterium der Gewissheit liege nicht in den Aussprüchen der individuellen Vernunft, welche vielmehr alle Gewissheit untergrabe und nur im Zweifel enden könne, sondern allein in der Tradition und speciell in den überlieferten Lehren der katholischen Kirche, welche in dem Wechsel der individuellen Meinungen den einzigen festen Punkt für das Denken bieten. Diesem Traditionalismus entgegengesetzt aber einig mit ihm in der Annahme des Absoluten als des Grundbegriffes der Philosophie ist der sich an Rosmini anlehnende Ontologismus im engeren Sinne, welcher mit Malebranche an die Möglichkeit glaubt, durch Vernunft das wahre Sein zu erfassen, weil in den höheren Funktionen des Denkens die individuelle Vernunft aufgehe in der absoluten göttlichen Vernunft.

Eigenartige Produkte des französischen Geistes sind ferner die socialistischen Systeme; und der Zusammenhang mit diesen ist wiederum charakteristisch für den französischen Positivismus und Materialismus. Gegenüber den überfliegenden Schwärmereien des schönrednerischen Spiritualismus, der sich an dem Klange der Worte berauschte und sich verzückt in die Lüfte erhob – zur grossen Zufriedenheit der Regierung, welche, indem sie diesen Flug begünstigte, desto ungestörter die Dinge des gemeinen Lebens nach ihrem Gutdünken gestalten zu können glaubte – weisen der Socialismus und der Positivismus auf den realen Boden hin, auf welchem der Mensch steht, auf welchen sein Handeln bezogen sein muss, und von welchem sein Erkennen auszugehen hat. Das spiritualistische Ideal der absoluten Vollkommenheit, so sagen die Socialisten, kann nur den unerreichbaren Gegenstand thatenloser Sehnsucht bilden und hat deshalb für die Menschen keinen Wert: es kommt darauf an, dass die Menschheit hier auf der Erde, wenn auch erst durch die Arbeit von Generationen, einen möglichst glücklichen Zustand erreiche; hier unten hat sie ihren Himmel zu suchen. – Der Positivismus überträgt diese Denkweise in das theoretische Gebiet; die spekulativen theologischen und metaphysischen Begriffe, so lehrt derselbe, sind für die Erkenntnis wertlos; nur mit Erscheinungen hat es der Mensch zu thun, alles was jenseits derselben liegt, kann ihm gleichgültig sein, denn es ist für sein Leben bedeutungslos, und die Wissenschaft ist für das Leben. Dieser praktische Grundgedanke ist, wie Ravaisson mit Recht hervorhebt, der Schlüssel zur Lehre Comte's, die ihren eigentlichen Abschluss in der von ihm begründeten Disciplin der Sociologie sucht. Der rein theoretische Kern des Positivismus ist ein geringer; Berkeley, Hume und Mill haben den Begriff und die Methoden einer lediglich auf Erscheinungen gerichteten wissenschaftlichen Forschung besser bestimmt, als es Comte gelungen ist; sein Verdienst ist wesentlich die Anordnung und Gliederung des Wissenskörpers als eines Hilfsmittels des menschlichen Lebens. Nichts ist öder, langweiliger und unfruchtbarer als der rein theoretische Positivismus eines Littré, und nur einem Taine ist es gelungen die ausgebildete positivistische (beziehungsweise phänomenalistische) Methode der Engländer für die Wissenschaft fruchtbar zu machen.

Der Kantische Kriticismus hat in Frankreich eine eigentümliche Gestaltung durch Renouvier und Vacherot gefunden; man kann vielleicht sagen, dass der erstere den Alt-, der letztere den Neu-Kantianismus repräsentiert. Renouvier sucht seine Hauptaufgabe darin, den Gegensatz des Spiritualismus und Materialismus, welcher letztere in dem Positivismus Comte's eine Stütze zu finden glaubte, durch die Lehre von der notwendigen und allgemeinen Relativität zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden; ganz ähnlich wie Kant endet aber auch er schliesslich in einer dogmatischen Metaphysik, welche auf den Begriff der transcendenten Freiheit gegründet ist, und das Subjekt nicht mehr bloss relativistisch, sondern im absoluten Sinne als Glied einer transcendenten Ordnung der Dinge auffasst. Der eigentümliche Zug, welchen Vacherot mit dem Neukantianismus teilt, liegt in seiner Unterscheidung der räumlich und zeitlich bestimmten Wirklichkeit, in welcher alles nach notwendigen Gesetzen geschieht, und des Ideals einer höheren sittlichen Welt, welche, ohne jemals verwirklicht werden zu können, doch auf den menschlichen Geist eine zwingende Gewalt ausübt. Welches Gewicht bei uns Lange auf diese Unterscheidung gelegt hat, ist bekannt.

Eine ganz isolirte Stellung unter den französischen Denkern nimmt der Verfasser des mit Recht von Ravaisson ausführlich dargestellten »Ultimum Organon« ein. Indem er sich sowohl über den Spiritualismus mit seinem methodischen Princip der inneren Erfahrung, als über den Positivismus, der ganz auf die äussere Erscheinung gerichtet ist, als auch über das Princip der Glaubensautorität und das dem Kriticismus zu Grunde liegende Princip der unmittelbaren inneren Evidenz erhebt, schafft er sich durch Aufstellung des allgemein gefassten Begriffes der Thatsächlichkeit als des obersten Kriteriums der Wahrheit den Boden für eine ganz eigenartige Metaphysik, deren Grundlegung und Ausbildung eine ungemeine spekulative Kraft bekundet.

Wie bei uns in Deutschland, so hat auch in Frankreich die mächtige Ausbildung der Naturwissenschaften im jetzigen Jahrhundert auf die Philosophie einen tiefgehenden Einfluss geübt, nur dass hier der Gegensatz zwischen Spekulation und Empirie nicht entfernt in so schroffer Weise zum Ausdruck gekommen ist, als bei uns in Deutschland; in der That hat in Frankreich weder ein so abstraktes spekulatives System, wie bei uns das Hegel'sche, einen so bedeutenden Einfluss gewonnen, noch sind andrerseits materialistische Lehren mit soviel Hass und Verachtung gegen alles, was Philosophie heisst, geäussert worden. Am meisten von allen naturwissenschaftlichen Gebieten ist wohl nächst Physik und Chemie die Physiologie in Frankreich durch Männer wie Flourens, Cl. Bernard u. A. gefördert worden, wodurch eine Menge von Thatsachen, welche später die physiologische Psychologie verwertet hat, gesammelt worden sind.

Die logische Methode der naturwissenschaftlichen Forschung, mit deren Untersuchung sich in England und Deutschland so viele Kräfte beschäftigt haben, hat in Frankreich Cl. Bernard, allerdings mit vorwiegender Berücksichtigung der biologischen Wissenschaften, darzustellen gesucht; ohne dass jedoch seine Arbeit mit der bekannten Logik Mill's irgend in Vergleich zu setzen wäre. Bemerkenswert ist, wie die orthodoxe katholische Richtung sich des Princips der Induktion zu bemächtigen gesucht hat, um auf Grund desselben die spekulative Philosophie zu bekämpfen, und ihren eigenen Lehren den Anstrich induktiver Resultate zu geben. Was der P. Gratry in dieser Hinsicht geleistet hat, bekundet zwar ein ungewöhnliches Geschick in der Zurechtlegung unwidersprechlicher Thatsachen im Sinne einer voraus beabsichtigten Deutung, verräth aber dabei zugleich eine solche logische Rohheit in der Auffassung der exakt wissenschaftlichen Methoden (z. B. der Infinitesimalmethode), dass Keiner, der das Wesen dieser Methoden kennt, jenen Erörterungen irgend einen Wert beimessen wird.

Die entgegengesetzte Tendenz verfolgt Renan, welcher teils auf den Resultaten der Naturwissenschaft, insbesondere der Descendenzlehre, teils auf verwandten in der Hegelschen Schule zur Ausbildung gekommenen Anschauungen fussend, die supranaturalistischen Elemente des religiösen Glaubens und speciell des Christentums völlig zu zersetzen und durch natürliche Begriffe zu ersetzen bemüht ist; freilich gehört das von ihm entwickelte System einer monistischen Weltbetrachtung mehr in das Bereich der Phantasie, als in das der Verstandesthätigkeit.

Auch der Spiritualismus hat nicht verfehlt aus den Ergebnissen der Naturwissenschaften insbesondere der Physiologie neue Beweisgründe zu schöpfen. Ersichtlich mit besonderer Liebe hat unser Autor, der ebenfalls dieser Richtung angehört, den Streit des Organicismus und Vitalismus in der genannten Wissenschaft und die in demselben aufgestellten metaphysischen Principien entwickelt. Obwohl ja bekanntlich auch in Deutschland seinerzeit über das Princip des Lebens heftig gestritten worden ist, so hat hier diese Fehde doch nicht den Umfang angenommen, welchen sie in Frankreich zufolge der lebhaften Teilnahme der bei derselben aufs tiefste interessirten spiritualistischen Schule und der weiten Verbreitung der spiritualistischen Ansichten gewann. Die deutsche spiritualistische Spekulation hat sich in der Regel auf einem so hohen Niveau bewegt, dass sie ihre Behauptungen als unabhängig von den etwaigen Ergebnissen biologischer Forschung verkünden konnte. Der französische Spiritualismus beruhte von Haus aus auf empirischer Grundlage, oder gab dies wenigstens vor, und musste sich daher durch die immer mehr hervortretende mechanische Auffassung des Lebens im Innersten bedroht fühlen; er sträubte sich daher und sträubt sich noch jetzt, soweit er noch besteht, aufs heftigste gegen die Anerkennung dieser Auffassung, während in Deutschland bekanntlich Männer wie Lotze unbeschadet ihrer keineswegs materialistischen Metaphysik unbesorgt die exakte Wissenschaft auf dem Wege der Auflösung des Lebens in physikalisch-chemische Processe fortschreiten sahen und sie noch besonders in ihrem Streben ermutigt haben.

Die betreffenden Erörterungen französischer Denker gehören deshalb vielleicht zu denen, für welche wir in Deutschland jetzt am wenigsten Verständnis haben, da uns diese Frage ziemlich abgethan zu sein scheint; indes sind dieselben doch charakteristisch für die philosophische Bewegung in Frankreich, und es ist nicht zu verkennen, dass dabei noch neuestens manche bemerkenswerte Gedanken z. B. durch Bouillier, Janet und Delboeuf zu Tage gefördert worden sind.

Der Nutzen, den die neuere Psychologie aus den bahnbrechenden Untersuchungen der französischen Physiologen gezogen hat, ist schon angedeutet worden; es ist deshalb den Franzosen ein rühmlicher Anteil an der Ausbildung jener in der Regel ja noch zur Philosophie gerechneten Disciplin zuzuerkennen, wenn auch die specielle psychologische Ausdeutung jener physiologischen Ergebnisse vielfach durch nicht-französische Forscher vorgenommen worden ist. Insonderheit auf dem Gebiete der theoretischen Physiognomik hat Darwin selbst Duchenne und Gratiolet als seine bedeutendsten Vorgänger anerkannt.

So beachtenswert die Leistungen der Franzosen in Metaphysik und Psychologie sind, so unbedeutend ist dagegen das, was sie in den Gebieten der Logik, Ethik und Aesthetik geschaffen haben, wie am besten der geringe Raum, welchen unser Autor der Darstellung derselben gewidmet hat, zeigt. Von den 36 Capiteln seines Werkes (die wir zur besseren Uebersicht mit Ueberschriften versehen haben) handeln 21 über die verschiedenen metaphysischen Richtungen, 10 über die psychologischen Forschungen, nur 2 über logische und 2 über ethische und ästhetische Arbeiten.

Dr. Koenig.


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