Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XII.
Ernest Renan.

Ernest Renan, einer unserer berühmtesten Gelehrten und glänzendsten Schriftsteller, ist kein philosophischer Fachmann und hat nirgends methodisch und ins Einzelne gehend einen philosophischen Gegenstand behandelt; doch kann man seinen Schriften viele Gedanken entnehmen, welche, in Zusammenhang gebracht, die Elemente einer philosophischen Lehre darstellen.

Die ersten Studien Renan's bezogen sich auf die Theologie. Im Verlauf derselben tauchte ihm ein Gedanke auf, der sich immer mehr seiner bemächtigte: die Schwierigkeit mit den Resultaten der Natur- und Geschichts-Wissenschaft, welche uns immer mehr unabänderliche Gesetze enthüllen, die theologische Meinung in Einklang zu bringen, nach welcher eine über der Natur stehende Macht durch einzelne Handlungen in dieselbe eingreift, also ihren Lauf unterbricht und die Voraussicht der Ereignisse unmöglich macht. Der Zweck, den er in seinen so verschiedenartigen Arbeiten, mögen sie sich auf die Religionen, auf die Geschichte, auf die Sprache oder die Philosophie beziehen, hauptsächlich im Auge hat, ist zu zeigen, dass die Erscheinungen sich durch Naturgesetze erklären, deren Regelmässigkeit jedes höhere Eingreifen, mit einem Worte jedes Wunder ausschliesst. Doch beschränkte er sich nicht auf die Verwerfung des Uebernatürlichen, sofern es als ein allmächtiger Wille gedacht wird, der durch seine willkürlichen Entschliessungen die Naturgesetze suspendiert, sondern er ist auch geneigt, den allgemeineren Begriff des Uebersinnlichen als einer über den Bedingungen der physischen und sinnlichen Existenz stehenden Wirklichkeit, also alle Metaphysik zu leugnen.

Auch hat er sich einigemale über die Fragen der Seele und ihrer Bestimmung, der Gottheit und Vorsehung in Worten ausgedrückt, die ihm oft als unverträglich mit den im nahen Zusammenhange zu jenen Fragen stehenden sittlichen Glaubenssätzen vorgeworfen worden sind. Und in der That, obwohl er sich niemals ausdrücklich zu den sogenannten positivistischen Lehren bekannt hat, so nähert er sich denselben doch in den ihm geläufigsten Anschauungen. Er wiederholt oft, dass es keine absolute Wissenschaft giebt, dass unsere Begriffe ganz relativ sind. Ohne in logischer Form alle Consequenzen dieses Princips zu ziehen, scheint er sich doch oft in dem Skepticismus zu gefallen, den man so leicht aus demselben entwickeln kann. Er sagt z. B., dass das Wahre und das Falsche sich nur dem Grade nach unterscheiden; er hat davon gesprochen, die Philosophie durch eine Kritik zu ersetzen, die vergleicht und prüft, ohne etwas zu behaupten.

Doch war es kaum glaublich, dass dies das letzte Wort des Schriftstellers sein sollte, der in einem anlässlich der Weltausstellung (1855) geschriebenen und seitdem mit Recht berühmt gewordenen Artikel in so würdiger Form die Bedeutung des Geistigen, den Vorrang der Intelligenz der Betonung des Materiellen gegenüber hervorhob, und in mehreren seiner Schriften so grosse Gedanken über geistige Gegenstände ausgesprochen hat.

Im Jahre 1863 erörterte Renan in einem Briefe an den berühmten Chemiker Berthelot Ansichten über die Zukunft der Wissenschaft und der Metaphysik; er skizziert in demselben die vergangene und zukünftige Geschichte der Natur und der Menschheit, so wie sie sich ihm darstellt. Zwei Gedanken herrschen dabei vor: der des beständigen Fortschritts der Dinge und der einer Ursache des Fortschritts.

Taine hat die Idee sehr gut entwickelt, dass die Wissenschaft, indem sie fortschreitet, zwischen zwei von einander abhängende Thatsachen eine immer grössere Zahl von Zwischenthatsachen einschiebt. Durch diese Einschaltung von Zwischengliedern stellt die Wissenschaft zwischen den Endgliedern, die im Verhältnis von Ursache und Wirkung stehen, einen immer engeren Zusammenhang her. In Folge dieses Zusammenhanges sieht man in der Reihe der Ereignisse sowohl als der Formen jene Lücken und Unterbrechungen verschwinden, die das Eingreifen einer fremden, sie überbrückenden Macht zu erfordern scheinen. Darwin hat in seinem berühmten Buche »Ueber die Entstehung der Arten« zu zeigen versucht, wie durch den unmerklichen Uebergang von einer Modifikation zur andern sich im Laufe der Zeit der Fortschritt von einer elementaren organischen Form zu gänzlich verschiedenen Formen vollziehen konnte. Und denselben Gedanken hat Grove, der gelehrte Verfasser der Abhandlung »Ueber den Zusammenhang der organischen Kräfte« in der »Rede über die Continuität«, welche er 1866 in der British Association hielt, in allgemeiner Weise als den Schlüssel der Erklärung für alle Naturerscheinungen dargelegt.

Erinnern wir uns bei dieser Gelegenheit, dass der erste, welcher nach Aristoteles das Gesetz der Continuität als ein allgemeines aussprach und den Nutzen desselben in der Mathematik wie in allen anderen Wissenschaften nachwies, der tiefe Denker Leibniz war, der würdige Erbe der grossen Gedanken des Vaters der Metaphysik.

Das Buch Darwin's hatte auf den Geist Renan's einen tiefen Eindruck gemacht: es lieferte eine beachtenswerte Stütze für seinen Lieblingsgedanken, dass alles in der Welt sich durch die Entwickelung der kosmischen Gesetze allein erklärt. Was der englische Naturforscher im Einzelnen in Bezug auf das organische Reich ausführen wollte, das versuchte er seinerseits in umfassender und allgemeiner Weise in Bezug auf die Gesamtheit der Dinge zu leisten. Er versuchte zu zeigen, wie man sich denken könnte, dass in langer Zeit die Welt durch eine stetige Reihe von Umgestaltungen aus einem Anfangszustande, in welchem es nur Atome mit rein mechanischen Eigenschaften gab, zu dem jetzigen Zustande überging, in welchem das Leben zu immer verwickelteren Formen fortschreitend sich bis zu der Vollendung gesteigert hat, welche in der gegenwärtigen Verfassung des besten Teils der Menschheit gegeben ist, und deren hervorragendstes Merkmal die mit Selbstbewusstsein verbundene Intelligenz ist. »Dazu bedurfte es, sagt Renan, keiner successiven sprungweise hervortretenden Schöpfungsakte; die langsame Thätigkeit der gewöhnlichen Ursachen erklärt alle Erscheinungen, für die man einst ausserordentliche Ursachen in Anspruch nahm«. Die Zeit, so fügt er hinzu, war das eigentliche Agens.

Soll also gesagt werden, dass ein Zeitraum von hinlänglicher Grösse ausreicht, damit die Materie physische und chemische, weiterhin vitale und endlich intellektuelle und moralische Eigenschaften gewinnt? Dass eine solche, jeder Bestätigung entbehrende Behauptung unhaltbar und selbst sinnlos ist, konnte dem Scharfsinn Renan's nicht entgehen. Lamennais hatte von einem inneren Antriebe gesprochen, der zur Entwickelung der Naturwesen führt; Renan stellt neben die Zeit, diesen »allgemeinen Coefficienten« noch einen zweiten Faktor, die Tendenz zum Fortschritt. »Eine Art innerer Triebfeder, welche alles zum Leben und zu einem immer höheren Leben treibt, so sagt er, ist notwendig vorauszusetzen«. »Man muss im Universum dasselbe annehmen, was man bei Tier und Pflanze beobachtet, eine innere Kraft, welche den Keim treibt, einen vorgezeichneten Entwickelungsgang zu nehmen«. – »Es giebt ein dunkles Bewusstsein in der Welt, welche sich zu gestalten strebt, eine verborgene Triebkraft, welche das Mögliche zur Wirklichkeit drängt«, und weiter heisst es noch schärfer: »Das Universum ist ein ungeheuerer Kampf, in welchem der Sieg dem zufällt, was möglich, schmiegsam und harmonisch ist. Das Organ bedingt das Bedürfnis; aber es ist auch das Resultat des Bedürfnisses. Was ist nun das Bedürfnis anders als dieses göttliche Bewusstsein, welches sich in dem Instinkt des Tieres, in den angeborenen Neigungen des Menschen, in den Geboten des Gewissens und in der hohen Harmonie verrät, die es macht, dass Alles Zahl, Gewicht und Mass zeigt? Nichts ist, als was Recht und Grund seines Seins hat, aber man muss auch hinzufügen, dass Alles, was ein Recht zum Sein hat, gewesen ist, oder sein wird«. Was heisst das anders, als dass die universelle Ursache ein Ideal ist, nach dem die Dinge streben, und dass die grosse Triebfeder der Welt das Denken ist, wie Comte, Taine und Littré ahnten und mehr oder minder deutlich aussprachen?

Jedoch ergiebt sich deswegen Renan so wenig als die Genannten der Metaphysik. Es steht nach seiner Ansicht mit der Metaphysik beinahe wie mit der Mathematik und der Logik. Die Mathematik lehrt uns mit ihren Formeln der Umgestaltung einer Grösse nach dem Princip der Identität nicht das Wesen der Dinge, sondern die Bedingungen, denen sie notwendig unterworfen, die Kategorien, in welche sie eingeschlossen sind, wenn sie einmal existieren. Ebenso ist es mit der Logik und Metaphysik. »Es sind dies nicht besondere, fortschreitende Wissenschaften, es sind Zusammenstellungen unveränderlicher Begriffe; sie lehren Nichts, sondern geben nur die Analyse dessen, was man weiss. Leugnen wir nicht, dass es Wissenschaften des Ewigen und Unveränderlichen giebt, aber verlegen wir sie ausserhalb der Wirklichkeit!« Nach diesen Sätzen ist also der Gegenstand der Metaphysik, das Vollendete, Absolute, Ideale ein Etwas und kein Nichts, wie der gewöhnliche Positivismus glaubt; er ist dasjenige, von dem alle Wirklichkeit abhängt, und das doch nichts Wirkliches ist; eine Meinung, die sich in der Mitte hält, zwischen dem positivistischen Empirismus und der Metaphysik, die aber vertieft sich in die Lehre auflösen muss, dass das Ideale, die Ursache der Wirklichkeit, seinerseits das völlig unbedingte Wirkliche sein muss.

In seinen neuesten Veröffentlichungen hat Renan schon erklärt, dass das Ideale allein das wahrhaft Wirkliche und das Uebrige nur Erscheinung ist.


 << zurück weiter >>