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Zweites Kapitel

Bruchstücke aus dem Leben und Sterben meiner Mutter.

So wie ich nur das von einem sehr schlechten Pinsler dargestellte Bild meiner Mutter besitze, so habe ich auch nur von schwachen Beobachtern Züge des Geistes und Charakters dieser seltenen Frau einsammeln können: und wie aus dem schlecht gemalten Bilde der teuren Seligen dennoch hohe ideale Schönheit hervorstrahlt, so leuchtet auch aus allen unvollständig hingeworfenen Zügen ihres Geistes und Charakters eine Seele hervor, die eine Güte und Reinheit verrät, welche nur das Eigentum seltner Menschen ist. Meine Mutter war von sieben erwachsenen Kindern das sechste und ihrer Schönheit, ihres sanften, ihres wahren und zuverlässigen Charakters wegen seit frühester Zeit der Liebling ihres Vaters. Meine älteste Mutterschwester, ein weiblicher Tartüffe, voll Geist, Geschmeidigkeit und anscheinender Sanftmut, hatte sich vorzüglich die Liebe meiner Großmutter zu erwerben gewußt. Nächst deren Tochter war der dritte Sohn der Liebling meiner Großmutter. Roheit des Charakters, Schadenfreude, Geiz, Neid und ein ungeschliffenes Wesen zeichneten meinen Oheim, Niklas von Korff, Besitzer der großen Creutzburgschen Güter, bis zu seinem Tode aus.

Eine Geschichte aus der Kindheit meiner Mutter, welche dies Geschwisterpaar sich noch sechs Jahre nach dem Tode meiner Mutter mit höhnischer Freude als Beweis dessen zurückrief, daß die selige Louise schon von Kindesbeinen an sehr einfältig gewesen sei, empörte mich, da ich diese Geschichte als achtjähriges Kind von jenem Oheim und der Tante mit Schadenfreude erzählen hörte. Mein Oheim gestand frei, er habe die kleine Louise durchaus nicht leiden können, weil der Vater dies schöne achtjährige Kind zu sehr geliebt hätte. Er sei sieben Jahre älter als Louischen gewesen und habe berechnet, daß wenn die Schwester immer fort so viele Geschenke vom Vater bekommen würde, dies dem andern Geschwister Abbruch tun könnte: daher wäre auch Louischen von ihm und Schwester Lenorchen bei der Mutter oft verklagt worden. Um sie dieser nun als einfältig und als Lügnerin darzustellen, habe ihm ein im Hause neu angelangter Friseur, der die beiden ältesten Schwestern wunderschön frisiert hätte, eine treffliche Gelegenheit gegeben. Louischen, die mit der jüngsten Schwester nach damaliger Kinderart noch eine drap d'orne Zobelmütze getragen habe, sah mit sichtbarem Wohlgefallen die schönen Frisuren der beiden Schwestern unter den Händen des Friseurs entstehen. Auf die Frage meines Oheims, ob Louischen nicht auch eine so schöne Frisur haben möchte, habe die Kleine: o ja! gesagt, und Bruder Niklas, als Liebling der Mutter, versprach dem achtjährigen Kinde, eine dergleichen zu machen; doch forderte er von der Kleinen zuerst ihr Ehrenwort, daß sie sagen wolle, sie habe sich selbst frisiert. Das Ehrenwort soll diesem Kinde etwas Unverbrüchliches gewesen sein. Nachdem Bruder Niklas das Ehrenwort hatte, nahm er die kleine Schwester, ehe sie zu Bette ging, vor, sagte, er wolle ihr Haar verschneiden und in Papilotten legen. Louischen hielt den Kopf hin, und Niklas schor ihr die eine Hälfte der schönen Haare von ihrem Kopfe, führte sie so zum Spiegel und sagte: »Siehst du, so werden eitle, naseweise Kinder gestraft! Ich habe dein Ehrenwort, du mußt sagen, daß du dich selbst hast frisieren wollen.« Da nur Bruder Niklas und Schwester Lenorchen um dies Geheimnis wußten, so versicherte das weinende Louischen, sie würde ihr Ehrenwort nicht brechen, aber Niklas habe sie sehr unglücklich gemacht. Nun lief Louischen zur Französin, deren Liebling sie war, sagte dieser, sie möchte Erbarmen mit ihr haben, denn sie hätte sich frisieren wollen und habe sich unglücklicherweise die Haare so verschnitten, daß sie nun nicht wüßte, was zu machen sei. Die Französin forschte nach Mitschuldigen, aber Louischen blieb steif und fest in der Aussage, daß sie keine habe. Die Französin brachte das Kind zu Bette und versprach, darauf zu sinnen, wie den andern Morgen die Sache vorgetragen und die Strafe zu vermindern sein würde. Der Morgen erschien; die Mutter kam als Richterin; sie versprach, die Strafe zu erlassen, wenn Louischen die Mitschuldigen nennen wolle. Louischen bekannte nichts und wurde umso härter gestraft. Als die Strafe vorüber war, trat Bruder Niklas hinzu, bat die Mutter um Verzeihung, daß er auf eine etwas derbe Manier habe zeigen wollen, daß Louischen eine dumme, eitle Lügnerin sei. Louischen rief ihm entgegen: »Bruder, ich konnte mein Ehrenwort nicht brechen!« Louischen wurde nun wieder für ihre Lüge gestraft, und über ihre Einfalt lachten Schwester Lenorchen und Bruder Niklas, da sie diese Geschichte erzählten, noch sechs Jahre nach dem Tode der lieben Seligen recht herzlich. Auch wenn meine Großmutter von dieser Tochter sprach, pflegte sie zu sagen, Louischen habe weniger Geist, als ihre andern Kinder gehabt; oft hätte sie sie sogar für stockdumm gehalten, aber dafür sei Louischen auch ihr schönstes, sanftestes und ihr folgsamstes Kind gewesen. Auch habe sie sich immer mit allen Menschen zu vertragen gewußt.

Von der Dienerschaft und fremden Personen, die meine Mutter gekannt haben, hörte ich folgende Charakteristik: Sie sei sehr schön gewesen, aber habe sich aus ihrer Schönheit nichts gemacht; sie habe sich von ihrem Taschengelde niemals Putz gekauft, dies habe sie für Notleidende aufbewahrt. Nie habe sie von irgend einem Menschen Böses gesprochen, noch jemand etwas zu leide getan. In der Familie sei durch sie niemals eine Plauderei entstanden, sie wäre unter ihrem Geschwister immer still für sich gewesen, und daher hätte man sie für einfältig gehalten. Sie habe in der Familie bloß ihre Eltern, ihren zweiten Bruder, dessen Frau und die jüngste Schwester geliebt. Wem sie einmal gut gewesen sei, der habe auf ihre Liebe und Freundschaft fest bauen können. Auch hätte sie kein Fünkchen Stolz besessen und oft behauptet, daß wir vor Gott alle gleich seien; der Bauer wie der Vornehme werde einst vor Gottes Richterstuhl erscheinen, denn alle Menschen seien Brüder. Auf ihr Wort hätte man wie auf einen Felsen bauen können. Böse hätte niemand sie gesehen! In gesunden Tagen sei sie immer vergnügt gewesen und habe viel Spaß zu machen gewußt. In kranken Tagen sei sie einem jeden, der sie gesehen, ein Beispiel der Geduld gewesen. Meinen Vater habe sie sehr geliebt, und dennoch sei sie, da ihre Todesstunde erschienen, im zweiundzwanzigsten Jahre ihres Alters heiter gestorben. Sie hatte durchaus verlangt, in schlechtem Leinen und einem ganz einfachen hölzernen Sarge ohne Gepränge begraben zu werden; aber reichlich sollte man die Begräbniskosten anrechnen und das Geld den Armen des Ortes geben. Ihrer Schwester Lenorchen Kleist habe sie den Tag vor ihrem Tode sehr zugeredet, sich gegen das andre Geschwister besser, als gegen sie zu betragen. Sie verzeihe ihr all den Kummer, den sie ihr gemacht; doch zu ihrer Besserung müsse sie es ihr sagen, daß sie so manchen Nagel zu ihrem Sarge geschmiedet habe. Wenn sie mich nach ihrem Tode gut behandeln würde, dann wollte sie Gott bitten, ihr all ihr bisheriges Unrecht zu verzeihen, wie sie ihr alles vergäbe. Meine Tante Kleist hat mit tiefbewegter Seele geschworen, daß sie gegen mich als Mutter handeln wollte. Aber dieses Schwures erinnerte sie sich in der Folge nicht, denn sie unterdrückte und verfolgte mich sehr. Meinem Oheim und meiner Tante Korff aus Nerft hat die liebe Sterbende mich mit dem Ausdrucke empfohlen: »Ich weiß, Ihr, meine Lieben, werdet meine Waisen wie Eure Kinder lieben und, wo Ihr könnt, für mein Lottchen sorgen. Mein kleiner Fritz wird wahrscheinlich nicht lange menschliche Sorgfalt bedürfen, der wird seiner Mutter bald folgen, aber meine Lotte! meine Lotte!« Da soll die Sterbende mich unter Tränen an ihre Lippen gedrückt, ihre beiden Kinder in die Arme genommen und ihren Mann und ihre Mutter haben rufen lassen.

Meinem Vater hat die Teure mit rührender Beredsamkeit für alle Liebe und für die guten Tage gedankt, die sie durch ihn gehabt hat. Sie hat ihn gebeten, bald wieder zu heiraten, ihr Andenken aber immer in ihren Kindern fortzulieben, und ihr Lottchen (die sie meiner Großmutter auf den Arm gegeben) nicht von einer Stiefmutter, sondern von der Großmutter erziehen zu lassen, und diese Mutter zu lieben, als wäre sie die seinige. Für ihren Sohn tat sie den Wunsch, daß er ihr bald nachfolgen möge, weil sie ihrem Gatten nicht gern durch ein kränkliches Kind ein trauriges Andenken von sich zumuten lassen möchte. Meine Großmutter hat sie gebeten, mir die Liebe zu schenken, die sie besessen hat, und meinen Vater auch nach ihrem Tode als ihr Kind zu betrachten; dann hat sie von allen Leuten Abschied genommen, jedem gedankt, daß er ihr so viel Liebe bewiesen, sie so treu und unverdrossen vier Monate hindurch gepflegt habe. Alles ist an ihrem Sterbebette tief bewegt und in Tränen gewesen, sie hat alle zu ermuntern gesucht, gesagt, sie hätte zwar nicht lange, aber sehr glücklich gelebt. Der Tod wäre uns schon bei unsrer Geburt gewiß, sie ginge nur voraus, und alle würden ihr nachfolgen. Sie hoffe auch dort, wohin sie Gott jetzt rufe, glücklich zu sein. Dann hat sie gegen meinen Vater den Wunsch geäußert, daß er alle diejenigen, die sie in ihrer Krankheit gepflegt haben, reichlich belohnen möge; sie hat meines Vaters Hand genommen, diese festgehalten und ihn gebeten, sich auf ihr Bett zu setzen. Meine Großmutter hat zu ihrem Haupte, mit mir auf dem Schoße gesessen, neben ihr meine Tante aus Nerft, diese geliebte Gespielin der Kindheit meiner Mutter. Mein Oheim aus Nerft und die Tante Kleist haben auf der anderen Seite zum Haupte meiner Mutter gesessen, und mein Bruder hat zu ihren Füßen auf einem Kissen geschlummert. Nun bat meine Mutter, daß sie alle bei ihr bleiben möchten, bis sie einschliefe, denn sie fühle Hang zum Schlaf.

So ist die Liebe, Teure, unter munteren Gesprächen, unter Erinnerungen ihrer Jugendfreuden und des Tages, wo sie meinen Vater zuerst gesehen und ihre Liebe zu ihm geahnet habe, sanft eingeschlafen. Vor diesem Schlafe hat sie noch allen Anwesenden liebevoll die Hand gedrückt, mit himmlischem Feuer in ihren schönen, großen, blauen Augen so munter die letzte Stunde vor ihrem Tode gesprochen, daß alle gehofft haben, ihre Jugend und ihre sonst so gute Natur würden sie durchbringen. Die erste Stunde ihres Schlafes ist anmutsvolle Schönheit über ihr hageres Gesicht verbreitet gewesen. Bald aber sind ihre Atemzüge schwerer geworden, doch soll selbst die kalte Hand des Todes ihre holde Anmut nicht entstellt haben. Mein Vater hat zuerst die veränderten Züge der Sterbenden bemerkt, ihre starrwerdende Hand geküßt. Meine Mutter ist erwacht, hat dann unter schweren Atemzügen gesagt: »Gott segne euch, meine Lieben! Gott erbarme sich meiner Kinder! nehmt diese jetzt von mir! Entfernet meinen Mann, meine Mutter und meine Schwägerin! die sollen meinen Todeskampf nicht sehen.« Trostlos ist mein Vater auf die Brust seiner Gattin gesunken, meine Mutter hat ihn an ihr Herz gedrückt und mit erhobener Stimme gesagt: »Liebe meine Kinder, auch wenn dein zweites Weib dir Kinder bringt! – Mutter! Meine Lotte sei Ihnen empfohlen! – Nun laßt mich mit meinem Bruder und meiner Schwester allein!« – Meine Großmutter hat mich meiner Mutter dargereicht, zum letzten segenvollen Kusse; dann hat sie selbst mit stummem Schmerze ihre Lippen auf den Mund der Sterbenden gedrückt, meinen Vater von der geliebten Kämpfenden mit den Worten weggerissen: »Medem! bleiben Sie mein Sohn, erhalten Sie sich Ihren Kindern!« Meiner Tante aus Nerft hat sie geheißen, ihr meinen zu den Füßen meiner Mutter schlafenden Bruder nachzutragen, und so hat diese starke Frau das Sterbebette der geliebten Tochter verlassen, meinen Vater, meine Tante und ihre Enkelkinder in ein entferntes Zimmer gebracht; sie hat meinen Vater und meine Tante getröstet, bis mein Onkel im Ausdruck des tiefsten Schmerzes hineingetreten ist und mit erstickter Stimme gesagt hat: »Ich bringe euch unserer Louise letzten Gruß! Sie hat nun glücklich ausgekämpft, und ist nun Engel am Throne Gottes!«

Gleich nach der Beerdigung nahm meine Großmutter mich zu sich, mein Vater mußte sie zu ihrem Gute begleiten und die ersten acht Tage bei ihr bleiben. Mein Bruder wurde in das Haus eines geschickten Arztes gegeben, und nach allen diesen Anordnungen machte meine Großmutter das Gesetz, daß meiner Mutter Name in ihrer Gegenwart nie genannt werden möchte, außer wenn sie selbst wieder von ihr zu sprechen anfinge: denn es war der Grundsatz der Vernunft bei dieser originellen Frau, jeden unabänderlichen Schmerz soviel als möglich aus der Seele zu vertilgen, kein Übel wiederzukäuen und sich, wenn das Herz durch Kummer weich werden wolle, in Geschäfte und Beschäftigung zu stürzen. Sie sagte oft, Tränen verderben die Augen und den Magen; Kummer untergrabe die Gesundheit, der vernünftige Mensch müsse sich beiden nicht überlassen, er müsse durch Gutestun vergnügt zu sein suchen, auch wenn es nicht nach seinen Wünschen geht. Mit dieser aus ihrer eignen Seele geschöpften Philosophie erreichte sie ein gesundes Alter von sechsundneunzig Jahren, überlebte ihre mehresten Kinder, Enkel und Urenkel und betrug sich bei jedem Sterbefalle, wie bei dem Tode meiner guten Mutter.


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