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Blinde Kuh

Der zwanzigste Juli war der Geburtstag des alten Freiherrn von Stein. Sein stilles Landhaus und der große uralte Park, der es umgab, wurden dann auf einmal aus ihrer tiefen, fast märchenhaften Ruhe aufgeweckt; eine Menge kleiner flinker Füße trippelte durch die langen Gänge und spiegelglatten Zimmer des alten Hauses; die schweren Eichentüren waren mit Blumen bekränzt, und der liebliche Duft köstlichen, frischgebackenen Kuchens strömte durch die Räume; auf den Tischen, wo sonst nur Bücher und kostbare Kunstwerke ausgebreitet waren, lag buntes Kinderspielzeug; Kinderlachen scholl durch Haus und Garten; selbst auf dem stillen Teich unter den hohen Ulmen, der sich in seiner tiefen Ruhe fast ganz mit grünen Wasserlinsen bedeckt hatte, lag ein grün und weiß gestrichenes Schifflein mit roten Wimpeln und der vielversprechenden Inschrift: »Kinderlust«. –

Seit Jahren hatte der alte Freiherr, der ganz allein auf der Welt stand und niemals Frau und Kinder besessen hatte, seinen Geburtstag durch ein fröhliches Kinderfest gefeiert; Hunderte von Kindern wurden an diesem Tage auf sein Landhaus geladen. Die Kinder seiner Verwandten und Bekannten aus der nahen Stadt, die Kinder der Bauern aus dem Dorf, an dessen Ende seine Besitzung lag, ja, ganz fremde Kinder, die sich durch Fleiß und gute Sitten in der Schule auszeichneten, wurden oft wenige Tage vor dem großen Fest mit einer goldgeränderten Einladungskarte von dem alten, in der ganzen Umgegend bekannten Kinderfreund überrascht.

Am Mittag des Geburtstages fuhren dann die beiden Jagdwagen des Herrn von Stein in Stadt und Dorf umher und holten die kleinen Kinder ab; die größeren sammelten sich gewöhnlich zu einem Zuge, der sich unter fröhlichen Gesängen, von Straße zu Straße anwachsend, nach dem Dorfe Steinhausen bewegte. Lustige Musik empfing draußen die kleinen Gäste; ein prächtiger Kaffeetisch, mit wahren Kuchenbergen besetzt, stand in dem schattigen Garten bereit; dann durften sich die Kinder von dem reichen Spielzeug, das in allen Zimmern ausgebreitet lag, auswählen, was sie zu einem lustigen Spiel gerade wünschten; die einen nahmen sich Bälle und Reifen, die anderen Drachen und Luftballons, für die Mädchen waren Springseile und Puppen da, für die Knaben kleine Eisenbahnen, Kegel, Schiffchen und vieles mehr. Der alte Freiherr suchte den Kindern selbst die schönsten Plätze im Park zum Spielen aus und stellte seine Diener an, recht gut aufzupassen, daß seine kleinen Gäste nicht Schaden nähmen. Später veranstaltete er kleine Kahnfahrten und Lotteriespiele mit wundervollen Gewinnen; waren die Kinder abends müde, so standen die gedeckten Tische wieder mit dem leckersten Abendbrot bereit; kleine bunte Laternen hingen an Fäden gereiht, wie feurige Perlenketten, zwischen den Bäumen; leuchtende Raketen stiegen in die Abenddämmerung empor, und allerhand buntes Strahlenfeuerwerk leuchtete im Dunkel des Parkes auf. Dann wurden zuerst die kleinen Kinder und später die großen auf den bekränzten Wagen nach Haus gefahren; der Freiherr gab ihnen selbst das Geleit bis an die Pforte der schönen Besitzung. Da jubelten die müden, seligen Sümmchen tausendmal: »Dank! Dank!« und der alte Mann rief mit seiner freundlichen Stimme: »Auf Wiedersehen, Kinderchen! Auf Wiedersehen!«

Auch heute fand wieder ein solches Sommerfest statt.

Ein liebliches kleines Mädchen von fünf Jahren war unter der frohen Schar beinahe die Vergnügteste zu nennen. Die kleine Lilly Teesen war zum erstenmal unter den Gästen des Freiherrn. Er hatte das Kind auf einem Gang durch die Stadt neulich auf der Straße beobachtet, wie es mit seinem rührend ernsten Kinderstimmchen zwei große Knaben gescholten, die einen Hund quälten. Ohne daß die Kleine es bemerkte, war er ihr nachgegangen, hatte ihren Namen und ihre Wohnung erfahren, und so war die goldumränderte Einladungskarte auch bei ihr angelangt.

Die kleine Lilly war so bildhübsch, so munter, so freundlich und so vergnügt, daß die größeren Kinder sich förmlich darum stritten, mit ihr spielen zu dürfen. In ein paar Stunden war das zierliche, herzige Geschöpfchen der Liebling der ganzen Kinderschar geworden. »Lilly! Lilly!« rief man hier und dort. Die Kleine strahlte vor Lust, war zu jedem freundlich, immer bescheiden, immer in heiterer, lachender Laune.

»Jetzt kommt Lilly zu uns und spielt mit uns Blindekuh!« riefen eben Dora Weiß und Mariechen Heller, zwei unzertrennliche Freundinnen, die fleißigsten Schülerinnen aus der dritten Klasse der Stadtschule.

Lilly hatte von dem Spiel mit dem drolligen Namen noch nichts gehört und war mit einem lustigen Händeklatschen bei der Sache. Sie hüpfte von einem Beinchen auf das andere, während Dora, um ihr das Spiel zu erklären, sich selbst ein weißes Tuch vor die Augen band und nun als »Blinde Kuh« die anderen, zu denen sich noch Mariechens Bruder Hans hinzugesellt, zu haschen strebte. Der Junge ließ es an Neckereien nicht fehlen. »Hasch mich doch! Hasch mich doch!« klang es bald hier, bald da, – da schwirrte ein Blumenzweig der Blinden um das Näschen, da kratzte ein Stock vor ihr im Sande, daß sie glauben solle, eins von den Kindern sei ihr ganz nahe; – sobald sie aber zugreifen wollte, flogen sie alle flink wie der Wind unter jauchzendem Lachen hinweg.

Halb aus Mitleid mit der vielgeneckten »Blinden Kuh« ließ endlich Lilly sich fangen.

»Nun bist du's!« riefen die anderen, und Hans Heller knüpfte Dora die Binde ab, um sie vor Lillys schwarzbraune lachende Augen zu legen.

Aber Lillys kleiner fröhlicher Mund wurde plötzlich ernst.

»Nein, laßt mich! bitte, laßt mich! Im Dunkeln ist mir angst,« flehte sie. »Ich möchte nicht »Blinde Kuh' sein! Es ist so schön hier im Garten, ich möchte lieber sehen!«

»Unsinn!« rief Hans. »Es ist ja nur für ein paar Minuten.«

»Sei gut, Lilly«, baten die Mädchen. »Du verstehst ja doch Spaß!«

Lilly gab gleich nach. Sie wollte sich nicht merken lassen, wie ängstlich sie die plötzliche Dunkelheit, die enge, heiße Binde machte. Eifrig suchte sie die anderen zu haschen. Aber wenn die neckenden Stimmen, die trappelnden Füße auch noch so nah' klangen, wenn sie die Ärmchen ausstreckte, um die anderen zu haschen, griff sie immer wieder ins Leere. Ach, nein! – Blindekuh war kein Spiel, das ihr gefiel! Wie die anderen nur dabei so lachen und jubeln konnten! Der grüne Park, der goldene Abendsonnenschein war so schön gewesen, – es war ihr beinahe zum Weinen hinter dem häßlichen, festgebundenen Tuch. Und nun erschallte von fern her plötzlich der Ton einer Glocke, und die Stimmen der Diener riefen: »Zum Abendbrot! Zum Abendbrot!« –

»Hans, nimm schnell Lillys Binde ab!« hörte sie Mariechens Stimme sagen. Während die anderen schon forteilten, stand nur Hans noch neben ihr und suchte ungeduldig den festverschlungenen Knoten des Tuches zu lösen.

»Warte, ich hole gleich eins von den Mädchen, ein Junge kann das nicht!« rief er endlich ärgerlich und jagte den anderen nach.

Lilly stand nun ganz allein und wartete mit klopfendem Herzchen auf ihre Befreiung. Die Schritte und Stimmen der Kinder klangen immer ferner; eine Angst, wie sie dieselbe nie vorher empfunden hatte, stieg in ihr auf. Mit zitternden Fingerchen suchte sie das Tuch abzustreifen, aber Hans, der immer streng darauf sah, daß die »Blinde Kuh« kein Streifchen Licht sehen durfte, hatte es so fest zusammengeschnürt, daß es sich nicht von der Stelle rührte. Mariechen kam noch immer nicht. Schluchzend versuchte die kleine Verlassene nun selbst den Knoten aufzuknüpfen. Für die kleinen, ungeschickten Finger aber war das noch unmöglicher, als für Hansens große. Noch ein paar Minuten stand das arme Kind still und lauschte, dann faßte sie sich ein Herz und suchte, so gut es ging, im Dunkeln den Weg nach dem Hause zu finden.

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Das Abendbrot war von den anderen Kindern schon halb verzehrt, als der Freiherr, von Tisch zu Tisch umhergehend, plötzlich erschrocken ausrief: »Ja, wo ist denn meine kleine Lilly Teesen?«

»Lilly! Lilly!« rief nun eine Menge Stimmen zugleich. Die beiden Freundinnen und Mariechens Bruder sprangen auf; jedem fiel es nun mit einemmal ein, daß sie die arme Lilly vergessen hatten. »Ich dachte, du gingest zurück zu ihr!« rief Dora. »Und ich dachte du!« entgegnete Mariechen kleinlaut. – Die beiden Mädchen waren beim Plätzeverteilen selbst auseinandergekommen, und so war es möglich, daß jede hatte glauben können, Lilly sei von der anderen längst befreit und zu Tische geholt worden.

Unverzüglich machten sich die vier Kinder, von dem Freiherrn und ein paar Dienern gefolgt, auf, um ihre kleine Spielgefährtin zu suchen.

Ein von Tränen halbersticktes: »Hier! hier!« antwortete endlich auf ihre lauten Rufe.

»Sie muß unter dem großen Kastanienbaum rechts vom Teiche stehen,« rief Hans, der allen andern vorauseilte.

Aber Lilly stand nicht mehr unter dem Kastanienbaum. Sie hatte sich im Dunkeln fortgetappt und ihre Stimme klang aus ziemlich weiter Entfernung her.

»Sag doch, wo du bist!« schrie Hans jetzt, »wir kommen dich zu suchen!« – »Hier!« rief das matte, schluchzende Sümmchen noch einmal. Im nächsten Augenblick erschallte ein gellender Schrei, ein eigentümlicher Laut, wie ein Schlag ins Wasser, ließ sich hören, und alles wurde still.

»Lilly ist in den Teich gefallen,« sagte der Freiherr bestürzt. Die Kinder sahen, wie er zusammenzuckte vor Schreck; wie fahl sein Antlitz wurde.

Gleich darauf eilte er mit der Schnelligkeit eines jungen, kräftigen Mannes über die große Wiese nach dem Orte des Unglücks hin.

Der Teich war zum Glück nicht tief und mit einem schnellen, geschickten Sprung nach der Stelle, wo Lillys helles Sommerkleidchen aus dem Wasser heraufschimmerte, gelang es dem trefflichen alten Herrn, das schon bewußtlose Kind zu erfassen. Auf seinen Armen trug er Lilly in das Haus, er legte sie auf sein eigenes Bett, riß ihr selbst die nassen Kleider ab und rieb sie mit sehr warmen Tüchern. Lilly kam bald wieder zu sich, aber es war unmöglich, sie heute abend noch nach Hause zu lassen; sie fieberte und klagte über heftigen Schmerz im Kopf und Hals. Ein Diener mußte mit dem Wagen in die Stadt geschickt werden, um Lillys Mutter zu bitten, heute abend noch zu ihrem kranken Kindchen hinaus zu kommen.

Die arme Frau, die ganz allein mit ihrem kleinen Liebling lebte, erschrak nicht wenig über diese Botschaft, so schonend der Diener sie ihr auch mitteilte. In Todesangst legte sie die Fahrt zurück. Es sollte lange währen, bis sie zurückkehrte.

Lilly wurde sehr krank; ein heftiges Scharlachfieber ließ sie wochenlang viel Schmerzen und Qualen leiden. Da sie viel über schmerzende Augen klagte, hatte man ihr Krankenzimmer verdunkelt, und so wunderte man sich nicht, daß sie immer wieder bat: »Nehmt doch das Tuch von meinen Augen; ich will nicht mehr »Blindekuh« spielen!« –

»Du hast kein Tuch mehr um, meine liebe kleine Lilly,« tröstete dann die Mutter, die Tag und Nacht an ihrem Bettchen saß. »Das Zimmer ist nur dunkel; bald aber wird es hell werden; habe nur Geduld!« –

Endlich ließ die böse Krankheit nach, und der Arzt erlaubte, daß das Licht der Sonne wieder in die Krankenstube schien; – wie erschraken aber alle, als Lilly auch jetzt noch mit ihrem freundlichen, bittenden Sümmchen die flehenden Worte wiederholte:

»Aber nun nehmt mir auch endlich die häßliche Binde von den Augen!«

»Siehst du denn nichts?« fragte die arme Mutter, aufs heftigste bewegt.

Ach nein, Lilly sah nichts, obgleich die Sonne ins Zimmer schien. Die furchtbare Ahnung, welche die Umstehenden ergriff, erwies sich als wahr: die Krankheit hatte, wie dies so oft geschieht, auch die Augen mit ergriffen – Lilly war blind geworden.

Herzzerreißend war es, das arme Kind, das sein Unglück nicht verstand, immer wieder bitten zu hören: »Bitte, nehmt das Tuch ab! Blindekuh ist ein so häßliches Spiel! Ich will, ich will wieder sehen!«

Langsam hatte das gute, geduldige Kind sich an das Dunkel gewöhnt, das es nun umgab. Der Freiherr, dem die Sache tief zu Herzen ging, scheute weder Mühe noch Geld, um die kleine Blinde zu zerstreuen. Sie mußte mit ihrer Mutter in dem schönen Landhaus wohnen bleiben, bekam gute Lehrer, schöne Bücher, aus denen man ihr vorlas und die feinsten und köstlichsten Leckereien. »Der liebe, helle Sonnenschein war doch schöner als alles das!« sagte sie oft unter Tränen.

Zwei Jahre lang war die Kleine blind. Da gelang es endlich einem berühmten Augenarzt, durch seine Kunst Lillys Augen wieder dem Lichte zu öffnen. –

Das war ein seliger Tag, an dem das liebe Kind zum erstenmal wieder das Gesicht der Mutter, den blauen Himmel, das Grün der Bäume und die strahlende Sonne sah!

Der Freiherr ließ seinen Liebling auch jetzt noch nicht von sich. Ihm zu Ehren gab er wieder ein schönes Kinderfest. Auch Mariechen, Hans und Dora waren auf Lillys Bitten zu demselben geladen. Weinend und demütig um Verzeihung bittend, fielen die leichtsinnigen Mädchen der kleinen genesenen Freundin um den Hals.

»Laßt's gut sein,« sagte Lilly in ihrer herzigen Weise. »Das dumme Spiel kommt eben nie wieder daran. Ich bin nun lange genug »Blinde Kuh« gewesen!«

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