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Der Wildschwan

Draußen vor der Stadt lag, wie ein unübersehbares graubraunes Tuch hingebreitet, der Exerzierplatz, auf den von einer Hügelhöhe hernieder die stattlichen Bauten der »Kasernenstadt«, das heißt die weitausgebreiteten Reiter-, Ulanen- und Schützenkasernen mit ihren blanken Schieferdächern, ihren Türmen und Zinnen stolz herniederblickten.

Für Emmy und Lissy, die mit ihren Eltern in einem engen, bescheidenen Vorstadtgäßchen in der Nähe wohnten, bedeutete der große Platz mit der fernen, blauen Waldgrenze und der Nachbarschaft der vielen schloßartigen Gebäude soviel wie die ganze große freie Welt.

Unglaublich Herrliches gab es ja immer frühmorgens auf dem geliebten Platze zu sehen; die exerzierenden Truppen, die stolzen Reiter auf ihren schönen Pferden, die wehenden Fähnchen, die blitzenden Helmspitzen und Trompeten, manchmal, wenn große Parade war, sogar den König in prachtvoller Uniform auf stolzem Roß, und eine ganze Menge vornehmer, mit Orden geschmückter Generäle und andere hohe Herren um ihn her.

Die Kinder sahen das alles mit strahlenden Blicken von fern. Sie waren beide blaß und zart und sollten viel spazieren gehen. Da der Wald für ihre kleinen Kräfte noch viel zu weit war, ging es eben immer wieder nach dem Exerzierplatz zu, bald an der Mutter, bald an Gustels, des Dienstmädchens Hand, die noch einen ganz besonderen Spaß bei der Sache hatte, denn ihr bester Jugendfreund aus dem Heimatdorfe exerzierte mit unter den vielen Hunderten von stocksteifen Rekruten.

Aber auch nachmittags, wenn das ganze bunte, abwechslungsreiche Leben, wie die Malerei von einer Schiefertafel, von dem Platze weggewischt war, blieb noch genug des Schönen übrig. Die Kinder der ganzen Vorstadt spielten dann auf dem weiten Raum Haschen, schwarzer Mann und Ringelreihe, im Herbste ließen die Jungen ihre Drachen steigen, Leute mit Körben am Arm wanderten die Fläche, aufmerksam suchend, auf und ab, denn auf dem Exerzierplatz wuchsen Champignons, würzige Pilze, die man zu einem schönen Mittagsgerichte verwenden oder auf dem Markte gut verkaufen konnte.

Dazu ging die Sonne immer so feierlich und blutrot hinter dem fernen Saum des Kieferwäldchens unter und warf ihre Strahlen vergoldend über den ganzen Platz. Die Turmspitzen der Kasernen leuchteten dann in grellem Glanz, und vielleicht das Schönste von allem war der zarte, rötliche Goldstreif, der quer über den Platz, nach der Kasernenstadt zu, durch die Lüfte ging.

Der Streif besteht aus lauter Drähten, aus Telegraphen- und Telephondrähten, hatte die Mutter den Kindern erklärt. Ein Telephon, bei dem es immer geht: »Klinglingling!« und in das man dann etwas hineinruft, wobei es zuletzt immer heißt: »Schluß!« hatten die Kinder beim Kaufmann oft gesehen. Sie wußten, was da hineingesprochen wird, hörten andere Menschen in weiter, weiter Ferne. Und der Telegraph ist auch so ein Fernsprecher; der läßt einem Botschaften – oft von noch weiter her – sogar in kleinen Briefen zukommen: die Telegramme. – Ein solches war ja einmal vom Onkel aus Wien gekommen und darin stand: »Ein Bubi geboren!«

Und dieses Botschaftgeben in die Ferne geht alles durch Drähte von statten. Das hatten die Kinder verstanden. Später sollten sie es noch genauer erklärt bekommen, hatte die Mutter gesagt.

Inzwischen freuten sie sich an dem Drahtstreifen, an dem sogar einmal ein kleiner, zappelnder Papierdrache hängen geblieben war, was sehr lustig aussah. Das war im Herbst bei klarem Sonnenschein und frischem, fröhlichem Wind. Und dieser Herbst sollte den Kindern noch ein anderes, viel größeres und wichtigeres Ereignis bringen!

Wandervögel flogen jetzt oft in großen Schwärmen und langen Reihen über den weiten Exerzierplatz weg. Die allgemeine große Herbstreise nach dem warmen Süden, die Flucht vor der Kälte und dem Schnee, hatte begonnen. Da kamen die Stare in Haufen, die fast wie Wölkchen aussahen, die Kraniche flogen in dreieckigen Zügen, immer einem Anführer nach, der die große Truppe zu kommandieren schien. Manchmal sah man auch einen Zug Wildgänse in Zickzacklinien, einen pfeifenden, schnatternden Ton ausstoßend, und rascher schwenkend und die Richtung wechselnd, als das flinkste Rekrutenbataillon.

Die Mutter hatte eine gar liebe Art, die Kinder auf alle Eigenarten der Tiere aufmerksam zu machen und ihnen Gewohnheiten und Wesen derselben zu erklären. Sehr wichtig erzählten die Kleinen ihre Weisheit dann ihrer lieben Guste wieder, die vor lauter Staunen gewöhnlich nichts weiter vorbrachte als: »Nee, so was! So was Gelungenes! Man sollt's nicht glauben.«

Einst sahen die Kleinen, die sich gewöhnt hatten, die Augen oft zum weiten, blauen Himmel aufzuheben, auch wieder einen aus vielleicht zwölf Stück größeren Vögeln bestehenden Schwarm über den Exerzierplatz lenken. Sie machten einander mit lebhaften Worten darauf aufmerksam, denn Guste, die sie heute ausführte, hatte nicht Zeit, zuzuhören. Sie hatte ihren Jugendfreund, den Rekruten Fritz, der für seine Frau Oberst Champignons suchen mußte, getroffen und hatte ihm eine ganze Menge Neues aus dem Dörfchen zu erzählen.

Unterdes flog der Vogelschwarm gerade über den Köpfen von Guste, Fritz, Lissy und Emmy hinweg, so tief, daß man im hellen Abendsonnenschein das Weiß des Gefieders deutlich sehen konnte. Sogar das Rauschen des starken Gefieders hörte man ein wenig.

»Wildgänse!« sagte Lissy mit weisem Gesichtchen.

»Ja!« bestätigte Emmy. »Aber mit so ganz langen Hälsen.«

In diesem Augenblick geschah etwas Wunderbares. Es schneite nämlich mitten im Sonnenschein. Weiße, große Flocken taumelten in der Nähe der Kinder herunter.

»Schnee! Schnee!« riefen sie. Aber während sie es riefen, sahen sie schon, daß sie sich geirrt hatten. Die Flocken waren schneeweiße, feine Federn. »Gansfedern,« meinte Lissy und sah rasch empor. Was war denn das? Da hing ja etwas Weißes, Großes, Zappelndes mitten in der leeren Luft, nein, nicht in der Luft, an den Drähten, die die Sonne jetzt eben wieder einmal ganz hell und grell bestrahlte!

»Sieh doch, Guste!« schrieen die Kinder. Aber da hatte das schöne Tier, dessen Flügel sich in den Drahtfäden verfangen hatte, sich schon losgemacht, es spannte die Schwingen aus, wollte weiterfliegen, aber schwer und matt taumelte es plötzlich vor den Augen der vier Zuschauer in einer Entfernung von etwa hundert Schritt von diesen zur Erde nieder.

Natürlich war die ganze Gesellschaft sofort an seiner Seite.

»Ein Wildschwan!« erklärte Fritz. Guste rief, die Hände zusammenschlagend, nur immer: »Nee, so was, nee, so was!« während das Tier mit ausgebreiteten Schwingen, den langen, schönen Hals emporreckend, hilflos flatternd, zappelnd und vergebliche Flugversuche machend, am Boden lag. Blut rann in dicken Tropfen von seinem linken Flügel auf die Erde nieder.

»Der Flügel ist zerschnitten,« sagte Fritz, der das sich sträubende Tier mit Mühe untersuchte. »So ein armes Tier! Mitten auf dem Marsch – auf dem Fluge wollt' ich sagen – so'n Malheur!«

»Und die andern warten nicht mal auf ihn,« rief die kleine Lissy empört. »Seht mal! Seht mal!«

Alle sahen auf. Weit in der Ferne blitzte jetzt schon der Schwanenzug.

»So bös, so garstig!« schluchzte Emmy ganz außer sich. Auch Guste sagte voll Verachtung: »Nein, 's ist doch nicht zu glauben! So'n Korps!« Nur Fritz ließ sich nicht aufregen und nahm die Wandrer in Schutz.

»Das Warten würde dem hier auch nicht viel helfen,« meinte er ruhig. »Mit dem sieht's bös aus! Der muß ins Spital!«

Das gab ein neues Jammern und Bedauern bei Guste und den Kindern. Aber Fritz meinte: »Das ist noch gar kein so großes Unglück! Ich war auch schon mal drin und noch dazu im richtigen Soldatenspital, wegen Influenza. Da hieß es, die gräßlichen Pulver nehmen und immer schwitzen. Im Tierspital gibt's so was nicht!«

Die Kinder sagten aufatmend: »Na, dann! Wo ist's denn aber?«

»Gleich hier am Platz im kleinen Töpfergäßchen in der Tierarzneischule,« sagte Fritz. »Ich will mal sehen, ob ich das Tier fortbringe! Komm, armer Kerl, ich mein's gut!«

Mit Kraft und Geschicklichkeit suchte er das fauchende, flügelschlagende, mit dem Schnabel hackende Tier aufzuheben. Es dauerte eine ganze Weile, bis es gelang. Er nahm den Schwan endlich kräftig unter den rechten Arm, ihm so die Flügel festhaltend, und hielt mit der linken Hand den Schnabel zusammen.

»Nun kann's losgehen,« sagte er wichtig, »kommt mal mit! Dem Blessierten wird nun schon geholfen werden, Guste, trag den Korb mit den Pilzen!«

Mit großen Schritten marschierte er los. Die Kinder, die fast atemlos Schritt mit ihm zu halten suchten, verwandten kein Auge von ihm und seinem Gefangenen.

»Ach, Fritz, es ist nur ein Glück, daß wir dich haben!« seufzte Lissy, ihm den Ärmel der Drilljacke streichelnd, mit Bewunderung und Zärtlichkeit.

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Dem Schwan wurde in der Tierarzneischule wirklich bald geholfen. Aber wie – das tat den Kinderherzen bitter weh. Der Flügel war zu weit durchschnitten, als daß er wieder hätte heilen können. Kurz entschlossen beschloß der Tierarzt, den abgeschnittenen Teil vollends vom Flügel zu trennen. Die Wunde würde ganz heilen, das Tier würde schwimmen können wie früher, nur freilich nicht fliegen, aber das sei für einen Schwan ja gar nicht so nötig. Den Kindern, die die fliegenden Schwäne eben noch hoch in den Lüften gesehn hatten, gab es einen Stich ins Herz. Das schöne, schöne Fliegen nicht nötig! – Aber wenn ihr Freund nur sonst gesund blieb – das war auch schon ein Trost!

»In vierzehn Tagen könnt ihr euch euren Patienten wieder abholen,« sagte der Tierarzt zu den beiden kleinen Mädchen.

Emmy fragte mit großen strahlenden Blicken: »Gehört er denn dann uns?«

Der Mann sagte freundlich: »Ja! ja!«

Das gab ein Erzählen, ein Bedauern und doch zugleich ein Jubeln zu Haus! Als das Erlebnis eben haarklein der Mutter erzählt worden war, kam Papa von dem Baubureau, auf dem er arbeitete, nach Hause, und nun ging der Bericht vor seinen Ohren natürlich noch einmal von vorn los.

»Und denkt nur, der Tierdoktor sagt, der Schwan gehörte uns. Wir dürften ihn behalten!« hieß es am Schluß.

Der Vater sagte: »Na, weiter nichts! Das wäre ja ein reizender Logisbesuch hier in unsrer engen Dreitreppenwohnung. Die ist mir für euch, liebe Mäuschen, schon zu klein! Nein, nein, den Schwan laßt mal hübsch im Freien!«

Die Kinder weinten fast: »Aber wo denn, Vater, wo denn?« fragten sie ganz kleinlaut.

»Da müssen wir eben darüber nachdenken! Schlimmsten Falls in der Altstadt im Zoologischen Garten. Die nehmen ihn dort schon!«

»Da sehen wir ihn ja aber nie wieder, nie!« jammerten Emmy und Lissy.

»Sehr selten wenigstens, freilich,« gab der Vater zu.

Das kostete viele Tränen.

Es war ein Glück, daß die Kinder am anderen Morgen auf dem Einkaufsgang mit Guste wieder ihren Freund Fritz trafen, dem sie ihre betrübten Herzen ausschütten konnten. Fritz hörte sehr aufmerksam zu und begriff ihren Kummer vollkommen. Sehr, sehr nachdenklich sah er aus. »Wenn ich nur wüßte, ob ich's wagte,« sagte er langsam.

»Was denn? Was denn?« forschten die Kinder.

Er meinte sinnend: »Die Frau Oberst fragen –«

»Wonach denn?«

»Nun, ob sie ihn nehmen will. Zwei Schwäne haben wir ja schon auf dem Teich im Garten, und groß ist der Tümpel ja gerade nicht. Aber wenn ich ihr sage, daß ihr das Tier so lieb habt. – An Obersts Garten könntet ihr doch wenigstens alle Wochen ein paarmal vorbeigehen und euren Liebling sehen!«

Auf den Kindergesichtern lag auf einmal wieder der hellste Sonnenschein. »Ach ja, Fritz! Bitte, bitte, tu es doch! Das wäre herrlich!« baten sie. »Da hätte es unser Hans doch gut! Wir haben ihn nämlich gestern abend im Bett noch Hans getauft. Den schönen Garten kennen wir! Ach, bitte doch die Frau Oberst! Ja, Fritz? Willst du's tun?«

Fritz, der sich gestern so mutig gezeigt, sagte jetzt mit recht verlegenem und furchtsamem Gesicht: »Ich will sehen, ob ich mich getraue!« – – –

Glücklicherweise getraute er sich aber doch.

Schon am anderen Abend kam er freudestrahlend direkt zu Augusten in die Küche und verkündete:

»Sie hat's erlaubt! Ich denk' immer, sie ist so gräßlich streng, weil der Herr Oberst so streng ist. Aber sie hat gelacht und ganz freundlich gesagt: »Natürlich, natürlich! Die kleinen Mädchen müssen dann aber im Frühling auch einmal kommen und ihren Freund besuchen.«

Das gab einen unendlichen Jubel, als Auguste diese Botschaft ins Wohnzimmer brachte. Hans war also geborgen, Gott sei Dank! Und sie sollten ihn in dem Oberstsgarten, der ihnen durch das goldene Gitter immer wie ein Märchenland erschienen war, besuchen! Das war eine Wonne, die sich gar nicht ausdenken ließ! Bis zum Frühling war's freilich noch lange, lange, meinten sie dann beide.

Aber die Zeit kam doch heran. Und eines sonnigen Frühlingstags standen die beiden Kleinen in ihren guten Kleidchen und hübschen Schürzen wirklich hinter dem goldenen Gitter in lauter Grün und in lauter Fliederduft. Der kleine Weiher, der vor ihnen lag, erschien ihnen wie ein großer herrlicher See, und auf diesem See schwamm mit anderen Schwänen Hans mit dem gestutzten Flügel. Und die gute Frau Oberst hatte ihnen, nachdem sie sie selbst mit Kuchen und Schokolade bewirtet, eine ganze Schüssel voll Brocken gegeben, um die Tiere zu füttern.

»Der Hans kriegt aber aus der Schüssel nichts. Dem hab' ich mein halbes Frühstücksbrot aufgehoben, das schmeckt ihm natürlich tausendmal besser,« sagte die kleine Emmy. –

»Du kennst uns doch noch, Hans? Weißt du denn noch, wie du aus der Luft fielst und blutetest, und wir dich retteten mit dem guten Fritz?«

Ein zierliches Kopfneigen des schönen Tieres schien deutlich zu sagen: »Gewiß, gewiß, ihr guten Kinder! Und ich will's auch niemals vergessen! Das Fliegen in den Lüften war ja freilich wunderbar! Aber ich bin auch hier ganz zufrieden!«

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