Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

1.

Der Meerwind fegte durch die niederen Häuser von Jabbeeke am Ostendekanal. Krumm getrieben schnitt die lange Allee die Landstraße. Gegen den Wind half nicht Wolle noch Mantel. Er fuhr ins Gebein und machte kaum in den Knochen Halt. In dieser Teufelssymfonie des Kanalwindes, der aus der Nordsee einen Kochkessel machte, zog ein Mensch seine Straße. Ihn fror. Ein Mensch, der keine Behausung hat und friert, ist eine Anklage gegen die Gesellschaft, denn der Mensch soll der Herr der Erde sein. Dieser Mensch in seinem schlechten Havelock mit verbeultem Hut, der ihn zur Karrikatur des fliegenden Holländers machte, hatte kein Geld in der Tasche, kein Haus zu erwarten, das ihn aufnahm. Aber er hatte die Polizei zu fürchten, weil er sonst als lästiges Paket mit dem nächsten Zuge zwischen die Zeugen seiner früheren guten Verhältnisse expediert worden wäre. Es ist leicht, unter solchen Umständen in den Kanal zu gehen. Das Wasser geht über den Schopf. Man taucht noch einmal auf zum letzten konventionellen Schrei und macht dann seine Sache mit den Karpfen ab. Dieser Mensch besaß nicht einmal einen Paß. Er mußte trotzdem in die Welt, ob er wollte oder nicht. Immer marschieren und nichts essen ... so ging es nicht weiter. Zum Davonlaufen vor den Polizisten brauchte man Kraft. Schon blickte er sehnsüchtig in die Sturmwellen, als ihn der Schatten eines Polizisten weiterscheuchte.

Jan Traberg wußte nicht, wie das nun weitergehen sollte. Es war schlimm mit der Belastung eines bekannten Namens und der vollständigen Unmöglichkeit trotz mancherlei Kenntnissen sich im Lande zu ernähren, herumzurennen wie ein Tier, das keine Weide hat. Er biß die Zähne zusammen, änderte die Richtung und marschierte gegen den Wind. Als er den Strand des Meeres erreicht hatte, ohne unter dem donnernden Wogenprall der anstürmenden Gischtlinien eine Möglichkeit zu haben, sich in dem wilden Aufruhr der Natur durch einen Notschrei mit seinen Mitmenschen in Verbindung zu setzen, empfand er, daß er hier ein letztes Zuhause gefunden habe. Er benahm sich, wie wenn er in seinem Schlafzimmer wäre, legte Hut und Mantel ab, steckte fein säuberlich Kragen und Krawatte beiseite, streckte sich in den Sand und gab den Oberkörper dem Winde preis, damit er mit ihm tue nach Gefallen.

So lag er unbeweglich über den Mittag hinaus.

Aber die Natur tat ihm den Gefallen nicht. Sie betäubte ihn nicht einmal. Er fror bei wachen Sinnen. Die Wolkenfetzen jagten vom breiten Horizont des Meeres wie ein sinnloses Gebilde und landein mit Regen und Wetterwut. Ihre Regsamkeit war tot, während seine Starrheit lebendig blieb. Dies war der Unterschied.

Gab es eine höhere Macht oder eine höhere Teufelei?

Der Wind ließ nach, zog sich in die Weite des Ozeans. Schreckvoll abschlürfende Ebbe setzte ein, da der Sturm irgendwo anders hin Wasser zog.

Die Rippen verschlungenen Landes traten heraus und es war, als wollte sich auch das Meer von ihm zurückziehen. Diese Gedanken empfand er als lächerliche Phantasterei und beschloß, dem Meere entgegenzugehen.

Der trocken gefegte Schlick photographierte seine Fußstapfen und etwas wie leichte Dämmerung lag über den Watten.

Unerwartetes geschah.

Vor ihm tauchte aus den Wassern etwas wie eine Kirche auf. Meter um Meter kam sie empor, als hülfe etwas von unten nach. Da er schon in der Zwischenwelt lebte, ging er ohne Furcht heran. Uralte Gotik einer Kirche, die dem Meere gehörte, baute sich vor ihm auf ..., grauenhaft umwuchert von Meeresgeschling, das mit seinen Aesten in der freien Luft tastete. Seesterne saugten an den Wänden. Ein Schiffsmast, halb und vermorscht, lag schräg im Kirchenschiff. Als er einen Schritt in das Innere tat, lebte es entsetzlich in Klein- und Großgewürm der Urwelt auf.

Jan Traberg empfand nicht Schauer der Furcht. Er schritt bis zu den Knien im Wasser an den Turmstumpf. Ihm graute nicht in diesem Halbdunkel, das das Meer seit Jahrhunderten durchzogen hatte.

Er suchte die steinverkeilte Wendeltreppe und gewann mit der seelischen Gleichgültigkeit eines Menschen, dem der Verlust seiner selbst unwesentlich ist, die Plattform. Auf ihren tangriechenden Steinen setzte er sich nieder und starrte in dem Himmel ... Ueber ihn zog der breitflächige Film eilig wandernder Wolken. Seine letzten Empfindungen woben wie Gaukeleien seine behütete frohe Jugend in ihn hinein. Keine schlimme wob sich dazwischen, nur Menschenunverstand in hartem Alltag, sonderbare Unterwürfigkeit unter ein eiskaltes Geschick, das sich selber bauen wollte und grenzenlose Unmöglichkeit, mit sich selbst etwas zu beginnen.

So saß er gedankenverloren, als die rückkehrende Flut bereits die Kirche umspülte, ohne Willen zum Aufbruch und bald auch ohne Möglichkeit dazu.

So kluckerte, blubberte und platschte das schlickölige Meerwasser herauf. Es stieg im Kirchenschiff, schleckte versuchend an dem morschen Maste, kroch den Seesternen und dem Tanggewürm über den Buckel, sprang wie ein Wiesel hin und her durch eine kleine gotische Rosette und deckte das verborgene Spiel des Meeresraubes mit glatten, leicht gurgelnden und silbern aufschäumenden Flächen.

Der Mensch saß im Turm und dachte über die Tatsache nach, daß zweiundzwanzighundert Millionen Menschen ihre Nahrung fänden und daß er nun in diesem Turmstumpf, das Letzte aus furchtbarer Not erwartend, im Ozean sitze.

Große Gelassenheit fiel ihn an, unbeweglich das Unvermeidliche über sich ergehen zu lassen. Hier heulte keine Fabrikssirene, hier orgelte ihn kein Husten aus der Schwäche des eigenen Körpers mehr ängstigend an, hier trotzte ihm keine Soll- und Habenseite mit einem schwarzen Befehl und einer restlos weißen Gegenwart ohne Eintrag. Hier vollzog sich die Vermählung mit dem Letzten.

Nebel war über ihn gefallen.

Ein Boot plantschte. Dicke Ruder löffelten im Wasser.

Jan Traberg blickte auf, empfand es als Halluzination, als schlechten Kitsch des Schicksals. Das Boot trieb an. In seinem Turmviereck saß er ja selbst schon wie in einem Boote und es war, als ob sich zwei Schiffe begegneten, eines, das unfähig festhockte, und ein anderes, das sich beim Teufel oder sonstwo herumtrieb.

»Hallo! Was ist das? Hat dich die Ablösung nicht mitgenommen? Eine verfluchte Bande!« rief die Stimme einer buckligen Silhouette, die schwerfällig mit den Pratzen die Ruder einhob.

Jan Traberg schwieg.

Es würgte ihn nach Worten.

Es fuhr ihm heraus: »Scher dich zum Teufel!«

Die bucklige Silhouette richtete sich auf und drehte sich umständlich gegen ihn: »Nun sag mir bloß, wohin willst du dich denn scheren?«

»Auch zum Teufel!« knurrte Jan Traberg.

»Hm«, sagte die bucklige Silhouette, nun noch stärker aufgerichtet, »da haben wir eigentlich dasselbe Schiff. Was bist du denn für ein Vogel? Hast du die Losung?« Ein drohender Unterton schwang in diesem letzten Wort.

»Was kümmert's dich? Scher dich zum Teufel!«

»Junge, Junge«, sagte die Stimme, »du kannst doch nicht Unterseeboot fahren. So etwas trägt doch unser Gewerbe nicht. – Gott verdamm mich! Der Posten ist weg. Wo hast du ihn hingebracht?«

Jan Traberg wurde müde.

»Es gibt hier keinen Posten. Ich bin der letzte Vorposten der Menschheit. In einer halben Stunde frißt mich das Meer und dann kommt ein anderer an die Reihe, immer wieder ein anderer.«

»Ein seltsamer Vogel!« hohnlachte es. »Der gerissenste Finanzer bist du wohl! Warte Freundchen, wir wollen dich besehen!«

Jan Traberg erwiderte nichts darauf. Es war nichts zu erwidern. Ob ihm ein Mensch den letzten Rest gab, eine ungeheure Welle oder still steigendes Wasser, war einerlei. Vielleicht war das Erstere sicherer und einfacher, denn die Elemente betrugen sich merkwürdig genug gegen ihn.

Während er diese Gedanken erwog, war er schon mehrfach gebunden und im Boot niedergelegt. Eine Segelplache legte sich um seine Augen und verdeckte jede Sicht.

Mit raschen Schlägen derb geführter Ruder ging die Fahrt meerwärts, wie er fühlte. Das Gluckern des Kielwassers, das trockene Reiben der Ruderdollen war das einzige, was er hörte. Die Rucke eines mächtigen Ruderers war das einzige Gefühl, das sich ihm mitteilte.

Als Jan Traberg wieder etwas von seiner Umgebung spürte, fühlte er sich angefaßt. Es waren mehr Hände als zwei, Hände, die zu greifen gewohnt waren, und schon wurde er an irgend etwas emporgezogen. Seine Augen erhaschten schwarze Planken, eine unbestimmbare Luke, ein milchgraues Gewirr von Wolken, in dem wie in einer Brühe ein verschwommener Mond sich abquälte.

Sogleich schob sich über diese Bilder, die, kaum zur Netzhaut vorgedrungen, schon wieder verschwunden waren, der dunkle Mantel des Vergessens. Noch einer hatte hier die Hand im Spiele. Laune? – Schicksal? – Fieber? dachte Jan Traberg noch einmal, dann dachte er nichts mehr.


 << zurück weiter >>