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Schlaf und Traum

I.

Wer auf ein Leben von siebenzig Jahren zurückzublicken das Glück hat – das ist bekanntlich die stark optimistische Auffassung der Bibel von der durchschnittlichen Dauer des menschlichen Daseins –, der macht es sich wohl mit einiger Verwunderung klar, daß es mindestens fünfundzwanzig Jahre waren, die er buchstäblich verschlafen hat, – selbst wenn er die kummervollen Nächte, in denen die Sorge oder der Schmerz neben ihm am Bettrand saß, oder auch die Nächte abrechnet, die er weniger kummervoll als deutscher Student verlebte.

Man kann es den Studenten also eigentlich ebensowenig verargen wie weiland Friedrich dem Großen, daß sie auf die freilich unhygienische Idee gekommen sind, sich das Schlafen abzugewöhnen; scheinen doch auch unsere Ministerien der Meinung zu sein, daß für festangestellte Beamte der Schlaf eine Luxusfunktion bedeutet. Ja, der Staat verlangt von Sicherheitsbeamten, Nachtwächtern, Telegraphisten, Lokomotivführern usw. sogar, daß sie gefälligst ihren eigenen Kalender umstellen, die Nächte zählen und die Tage aus ihrem Bewußtsein streichen, sich also gleichsam zum Eulen- und Fledermausnaturell im Interesse des Ganzen umzubilden versuchen. Das wäre eine grandiose Grausamkeit vom Staat und von der Gesellschaft und ein sträflicher Leichtsinn der Jugend, die die Lust zu leben, durch Abzüge am Schlaf zu verlängern sinnt, wenn es nicht tatsächlich sogar recht wohlgenährte Individuen in der Natur gäbe, die, wie Raubvögel und Falter, aus Neigung und Naturbestimmung mit heraufziehender Nacht erst zu leben beginnen. Freilich: für die erdrückende Mehrzahl der Lebewesen ist die Sonne und das Licht und der Mutterboden Erde, in Helligkeit und Farbe getaucht, der Tummelplatz für den Kampf, Sieg und Untergang des Daseins, und der Schlaf ist im allgemeinen die Anpassung des Organismus an den Untergang der Sonne; er währt, so lange sie hinter den Bergen verweilt, und er schwindet mit ihrem ersten östlichen Gruß, der schon vor unserem Erwachen die Hähne veranlaßt, Trompetenstudien zu machen. Freilich: schon lange hat die Kultur, die Jean Jacques Rousseau eine Mörderin der Elfen und Waldgötter schelten durfte, erst durch Holzscheite und Pechfackeln, dann durch Tranfunzel, Docht, Steinöl und Gas und jetzt durch das starre, geisterhafte Licht der Glühbirnen und leuchtenden Strümpfe, deren Strahl auf die Netzhaut wirkt wie ein Dolch (woran leider die Augenärzte späterer Generationen noch einmal ihre Freude haben werden), dahin gestrebt, die Sonne zu ersetzen und gleichsam zu verlängern, – wie man eine kräftige Bowle oder eine Suppe zieht. Ja, selbst die Natürlichen, die heute versuchen wollten, mit Sonnenuntergang sich niederzulegen, würden von dem Lärm der auf künstliches Licht eingestellten Mitwelt unsanft aufgerüttelt werden und, wenn sie sich bei Tagesanbruch erhöben, in ihrem Hause wie des Begräbnisses unwürdige Bewohner von Vineta oder Pompeji umherwandeln. Die Menschennatur hat einen Rhythmus von Ebbe und Flut, wie das Meer, der Himmel, die Sterne und alles, was ist. Möglich, daß dieser Rhythmus sich ändern läßt, daß wir uns allmählich anzupassen vermögen an die künstlichen Quellen von Licht, aber man darf sich nicht verwundern, wenn diese Anpassung nur auf dem Umwege von Hypersensibilität und Neurasthenie erreichbar ist. Nervosität ist vielleicht nur die Übergangsform – im Sinne Darwins – zu einer künftigen Norm von bleichsüchtig-ätherischer, hypersensitiver Weiße-Lilien-Menschheit, die ihren Daseinskampf in elektrisch erleuchtete Höhlen verlegt hat; vielleicht sogar läßt sie sich vor lauter Produktion überfeinerten und distinkten Nervenlebens noch einmal am eigenen Lichte genügen, wie die entzückenden Glühwürmchen im Moose oder die großen Laternenträger der Tropen. Man sollte meinen, daß die Menschheit keinen Grund hätte, sich jenen Lebewesen anzureihen, deren schwache Konstitution und federleichte Skelettformierung sie einst abschob von der Chaussee des Lebens auf dunkle Waldwege, in Gräben und Sümpfe, weil hier das Dunkel der Nacht sie ihren Feinden besser entzog, wie Nachtinsekten, Käfer und Schmetterlinge; man sollte sich auch scheuen, es jenen Dieben und Einbrechern in Wald und Flur nachzumachen, den Eulen und Raubvögeln, die auf den Gedanken kamen, daß die Finsternis ein trefflicher Mantel für lichtscheue Taten sei. Vorläufig aber bleibt es hoffentlich dabei: für unser Planetensystem ist es die Sonne, die als die Urheberin und Erhalterin alles Daseins, gleichsam als die letzte Ursache und der Grund aller Dinge zu gelten hat, und sie bleibt die Wirkerin des Lebens selbst in der periodischen Abkehrung der Erdzonen von ihrem Antlitz. Die Nacht und ihr Weben ist nur das Nachwirken oder der Rückprall der Sonnenmacht. Tatsächlich ist der Schlaf an ihr Verschwinden gebunden, denn unsere Antipoden schlafen, wenn wir wachen, und wachen, wenn wir schlafen. Periodisch also, wie die Sonne erscheint und verscheint, so periodisch und rhythmisch pendelt das gesamte organische Leben bei Pflanze und Tier zwischen Leben und Schlaf hin und her. Denn daß auch Pflanzen eine Art Schlaf haben, kann als ausgemacht gelten, obgleich es auch hier Lichttrotzer gibt, die ihr eigentliches Leben erst nachts beginnen. Die Ärmsten! Sie begreifen nicht, wie sehr sie doch im Banne der Strahlen sind, wenn sie erst erwachen können, sobald das Licht verschwindet. Nun kann man sagen – und die Wissenschaft wiederholt es zuweilen noch heute – : dasjenige, was uns Schlaf bringt, hat mit der Sonne gar nichts zu tun. Der Schlaf sei ein Symptom der Ermüdung, des periodischen Absinkens der Lebensenergie, ein passives Zurückfluten der Lebenswelle; wie das Herz sich aktiv systolisch zusammenzieht, die Atmung durch Rippenaktion eingeleitet wird, Diastole und Ausatmung aber die passiven Phasen der vorangegangenen positiven Aktionen darstellen, ebenso sei der Schlaf gleichsam die Diastole der Nervenflut, eine Art Ausatmung des Seelenodems; er sei ein natürlicher, rein passiver Vorgang der Ermattung, des Nachlassens der Nervenspannungen. Ja, noch kühner ist die Wissenschaft (Preyer) gewesen; man hat behauptet, es sei ein Gift, wie das Narkotikum des Mohns, ein physiologisches, von der Natur gewolltes Opium, das in der Küche des Muskelhaushaltes gerade infolge der Ermüdung jeder sich selbst bereite, das sich allmählich ins Blut mische und schließlich uns einschläfre. Welche sonderbare Anschauung: Selbstvergiftung, Muskelgift, periodische Narkose! Dann hätte also das Sonnenlicht nur ganz zufällig mit Schlaf und Wachen zu tun; und nur, weil wir am Tage unsere Muskeln gebrauchen und damit das Fleischmilchsäuregift während des Sonnenlichtes produzieren, hat scheinbar die Sonne direkten Einfluß auf den Rhythmus von Schlaf und Wachen. Nun, abgesehen von der zweifelhaften Natur dieses Muskelopiums – die Preyerschen Experimente brachten erstens keinen Schlaf, sondern nur Vergiftungssymptome, und zweitens kann man diese dem Schlaf ganz unähnlichen Zustände fast mit dem Extrakte jedes anderen Organes, ja, sogar aus dem ganz untätigen Muskel des neugeborenen Tieres herauspressen; sie beweisen eben nur, daß auch Muskelsäfte fremde Beimengungen zum Blut sind, – abgesehen also von der hypothetischen Natur dieses Schlafstoffes gibt es sehr schlagende Gegengründe gegen die Möglichkeit einer solchen periodischen Ermüdungsvergiftung. Wie sollte ein Tier mit Winterschlaf so sonderbare Giftkammern besitzen, um von ihnen aus Monate lang sich selbst in Narkose zu erhalten, ohne daß für diese Funktionen auch nur der Schatten eines Organes in seinem Leibe zu finden ist? Wie sollte zum Beispiel die merkwürdige Narkose des Hamster-Chloroforms zu deuten sein, die ohne jede Analogie in unserem Wissen vom künstlichen Schlaf wäre und nur in der periodischen Wiederkehr gewisser Wahnsinnsformen einen schwachen Analogiestützpunkt gewinnen könnte? Wie aber sollte erst diese Narkose durch Selbstgift zu verstehen sein bei der pathologischen Schlafsucht des Menschen, bei der eine – dann doch notwendige – besondere Muskelaktion vor dem Anfall oder während der Dauer des Schlafes noch niemand aufgefallen ist und bei der ein besonderer Gehalt des Blutes an dieser Fleischmilchsäure in keinem Falle bisher sich hat beobachten lassen? Wo produzieren Neugeborene, die doch noch herzlich wenig mit Muskelkünsten zu paradieren pflegen, das Muskelmorphium ihres lieblichen Dauerschlafes, der sich für unbefangene Betrachter wahrlich eher wie ein Nachdauern süßen Himmelsfriedens, aus dem die Seele niederstieg, ausnimmt als wie ein tiefer und zäher Kater, der auf einen Sturm durchwachter Prügelnächte folgte, worauf allerdings das Antlitz des eben einpassierten Mitbürgers mitunter hinzudeuten scheint? Ist denn im Gegensatz zum Hindämmern des werdenden Menschleins das unruhige Leben des Neurasthenikers oder des Greises, der hin und her hastet in Lebensangst und Sorge, ein besonders mit Schlaf gesegnetes? Läßt sich ernstlich behaupten, daß man, je mehr Muskelaktion man ausübt, desto besser schlafe? Ist nicht gerade Überanstrengung das beste Mittel, um gar nicht mehr zu schlafen? Erfreuen sich nicht umgekehrt gesunde geistige Arbeiter eines ungestörten, tiefen Schlummers? Will man behaupten, daß auch sie alle Gift produzieren? Die ganze Ermüdungstheorie, die das Leben auffaßt wie ein Kautschukband, das man hier und da abspannen muß, um es funktionstüchtig zu erhalten (wobei noch nicht bewiesen ist, daß es dadurch dauernd elastischer bleibt), ist meiner Meinung nach unhaltbar. Gerade die lebenswichtigsten und festgegründetesten und wahrlich »beschäftigten« Organe, das Herz, die Lungen, der Magen – diese eigentlichen Motoren unseres körperlichen und seelischen Betriebes – entbehren des Schlafes gänzlich. Sie hämmern, blasen und wühlen unbekümmert um Nacht und Tag und ermüden erst, wenn das Schifflein strandet. Aber auch die Nervensubstanz selbst, die sich vor allem erholen soll, ruht nicht aus. Allein schon die Existenz eines Traumes, die Möglichkeit eines Bewußtseins im Traum spricht gegen die absolute Ruhe des Nervensystems. Das, was wir Ermüdungsgefühl nennen, kann sehr wohl das Gefühl gestörten Gleichgewichtes der wechselnden Lebensbetätigung verschiedener Organsysteme sein, indem zum Beispiel nach langen Märschen die so lange untätigen, den Muskelzentren nahe benachbarten Intelligenzzentren nach Lebensbeschäftigung verlangen. Sie wollen auch mittun, denn sie sind doch auch berechtigt, zu schwingen und in Aktion zu treten. Wir sehen im Haushalt des Gehirnes immer nur ein System ausgeschaltet und das andere eingeschaltet werden. Es könnte also ebensogut das Gefühl der Ermüdung eine Vorstufe des Schmerzes sein, der uns warnt, die Maschine nicht immer auf einem Rade laufen zu lassen, wie ja so oft Schmerz und Unlustgefühle die Rolle der Signalwächter für Störung und Gefahr übernehmen. Wo diese Wächter schweigen, wie bei eigentlichen Geisteskrankheiten oder bei sportlichen Tollheiten (Tagestouren der Radfahrer), da sehen wir die Ermüdung als etwas Illusorisches ausbleiben. Geisteskranke leisten körperlich oft physiologisch Unfaßbares an Muskelaktion, und vor der Ära der vier Tage lang radelnden Dauerfahrer hätte man die Sache nach den Gesetzen der Ermüdung für Hirngespinst gehalten. Freilich hat man auch noch nichts von besonders produktiven Köpfen, die auf solchen Athletenschultern säßen, gehört.

Ganz und gar keine Anwendung läßt aber die Hypothese von der Ermüdung oder der Selbstvergiftung auf die Formen künstlichen Schlafes zu, die uns die junge Kunst des Hypnotisierens gelehrt hat. Es müßte schon eine sonderbare Ermüdung oder ein sonderbares Gift sein, die durch Streicheln oder Anglotzen, mit mehr oder weniger »freundlichem« Zureden, die Hirnganglien überfielen und ertränkten. Einer Mutter, der sorgsamsten Beobachterin des Schlafes, wird sicher nicht beizubringen sein, daß ihr summendes Singen und ihr Auf- und Abwiegen dem Kinde ein ermüdendes Gift hinter die geschlossenen Lider schüttet. Wie nun, wenn man diese ganze Theorie des Schlafes als eines passiven Vorganges, wie ihn die Wissenschaft noch heute definiert, über Bord würfe? Sehen wir zunächst zu, was die Physiologie über den Schlaf aussagt. Landois, wohl der geistvollste und universellste Physiologe, spricht sich über den Schlaf in den folgenden Sätzen aus: »Der Schlaf ist eine Phase der Periodizität des tätigen und ruhenden Zustandes des Seelenorganes.« »Es ist im Schlaf eine verminderte Erregbarkeit des gesamten Nervensystems vorhanden.« »Der Schlafende gleicht einem Wesen mit herausgeschnittenen Hirnkugeln.« Auffallend ist, daß man bei diesen Grundsätzen über die Physiologie des Schlafes so völlig vergessen hat, den Traum, als eine Funktion des Schlafes, in die Definition miteinzubeziehen. Denn allein die psychologische Tatsache des Traumes und seiner gewöhnlichsten Erscheinungsformen hebt diese Anschauungen sämtlich auf. Der Schlaf kann nicht die Periode des ruhigen Zustandes des Seelenorganes genannt werden, denn es gibt Träume; Träume sind aber »Tätigkeiten« des Seelenorganes. Im Schlaf ist ferner oft gerade eine erhöhte Erregbarkeit des Nervensystems vorhanden, wie das Zittern und Beben des Organismus unter unruhigen Träumen beweist. Außerdem ist die vorhandene Erregbarkeit sämtlicher Nervenfunktionen im Schlafe leicht erweisbar. Tue Salz auf die Zungenspitze eines Schlafenden, kitzle seine Nase, bringe ein Licht in sein Zimmer: er wird mit der Zunge schmecken, die Nase reiben, eventuell sogar niesen, sich in den Schatten drehen und braucht dabei gar nicht zu erwachen. Aber selbst wenn er erwachte, so wäre damit bewiesen, daß sein Nervensystem erregbar war, auch während er schlief, – und es wäre doch schwer festzustellen, ob stärker oder schwächer als vor- und nachher. Der Schlafende gleicht aber auch keineswegs einem Wesen mit herausgeschnittenen Hirnkugeln, obwohl wir leider keinem solchen Opfer der Wissenschaft mit einiger Aussicht auf Erfolg diese Frage vorlegen könnten. Aber wir entnehmen gleichfalls aus der Funktion des Traumes, die Ichbewußtsein, Seh-, Hörwahrnehmungen usw. nicht ausschließt, daß die wesentlichen Teile des Hirnorganes, die Ganglien der Hirnkugeln, in voller Tätigkeit sind. Ja, im Schlafwandeln, einer Abart des Traumes, finden wir sogar bewußte und durch die Erinnerung und Beobachtung rekonstruierbare Zweckmäßigkeitshandlungen, die nur durch die Tätigkeit der »gleichsam herausgeschnittenen« Hirnkugeln vermittelt sein können. Im Widerspruch mit diesen Definitionen ist also im Schlaf etwas vorhanden, das ihn als etwas durchaus Aktives aufzufassen gestattet. Jene Analogie mit der Ebbe, mit der Diastole, mit der Ausatmung, mit dem periodischen Nachlassen elastischer Spannung könnte durch eine Auffassung ersetzt werden, wonach der Schlaf einträte, weil irgend etwas da ist, das eine Tarnkappe über die Gangliensysteme zieht, das den Nervenmechanismus angreift wie der Konterstrom einer elektrischen oder Dampfbremse, das sich über die Äolsharfensaiten der Seele und ihre Milliarden schwingender Membranen hinüberzieht wie ein vielgestaltiger Dämpfer, der die Töne erstickt, die Flammen verglimmen macht, die Bewegung stillstehen heißt und die Welt und ihre Umgebung zeitweise versinken läßt. In Wirklichkeit ist der Schlaf eine Form der aktiven Bewußtseinshemmung. Wir wissen aber – und das ist das Fruchtbare an dieser Betrachtungsweise –, daß Hemmungen, Isolation, Ausschaltungen im Bewußtsein durchaus aktive Vorgänge, den Nerventätigkeiten völlig gleichwertige Seelenfunktionen sind. Ja, wir können sogar mit einigem Recht behaupten, daß ganz allgemein, biologisch gesprochen, die Hemmung, der Widerstand die Bedeutung eines aktiven Weltgesetzes hat, indem gerade sie das eigentlich Entscheidende für die Formierung des überall vorhandenen und zur Betätigung drängenden Lebens sein dürfte. Die unendlich wandelbaren Gestaltungen, die das Leben hat, gewinnt es nur durch Nachlassen oder Verstärkung der ihm gegenübergestellten Formen der Hemmung. Das Leben ist gleich einem gegebenen Strom rätselhafter, jeder Anschmiegung fähiger Materie, es quillt durch jede Fuge, jede Ritze in der Form dieser Lücke, und die Hemmung gleicht einer krallenden, bildenden, vielfingrigen Faust: sie erzwingt die Form. Das Leben hat nur Platz in dem Hohlraum, den ihm die Widerstände lassen. Das ist ein Weltgesetz; und auch das komplizierte System der seelischen Nerventätigkeit läßt es erkennen. Jeder hat schon an sich die aktive Macht dieses Gesetzes erfahren: die Abhängigkeit seines Willens von etwas anderem in ihm, seinem Wollen Entgegengesetztem, die zwei Seelen in seiner Brust, die Stimme, die vom Meere ruft, und das Glöcklein, das vom Kirchturm tönt und »Bleib daheim!« läutet. Gott und Teufel, Weiß und Schwarz, Ich und Du, der andere in mir, Lust und Abscheu – immer um so näher beieinander, je höher die Wogen des Empfindens gehen – sie sind nicht auseinanderzureißen. Wie ein Pendel seine Schwingungsweite innehält und um so höheren Ausschlag gibt, je höher der Anhub war, so lauert die Hemmung, die Wellen der Erregung ins Tal zu reißen. Kein Wunder, daß es so ist! Denn, rein mechanisch gesprochen: die Aktion einer Mehrheit der Nervenganglien des Gehirnes muß in dauernder Hemmung sein, und zu einer Zeit können nur wenige Systeme in Aktion anklingen, gleichsam wie ja zu einer Zeit nur eine Leitung meinem Telephon angeschlossen sein kann, die übrigen aber abgesperrt sind. Ohne diese ewig wechselnde Ein- und Ausschaltung müßten ja jeden Augenblick alle Ganglien in chaotischen Wellen durcheinander schwingen. Wir finden also, daß wir in zeitlich nacheinander geordneten Systemen nur deshalb denken können, weil uns im Augenblick immer nur eine Bahn zum Denken von der Hemmung freigegeben ist. Was »die Aufmerksamkeit konzentrieren« heißt, ist nichts als das Gefühl und Bewußtsein davon, daß von der ewig schwankenden, Anschlüsse bald hier erzwingenden, bald dort abdämpfenden Hemmung nur eine – die Augenblicksempfindung vermittelnde – Bahn freigelassen ist. So ist also der eigentliche Spiritus rector, die Seele über der Seele, nicht in den Ganglien, die nur die Erregungselemente abgeben, zu suchen; und in dem Mechanismus dieser Hemmung wäre das Prinzip zu erforschen, das gleich immer wechselnden Registerzügen in der großen Hirnorgel bald diesem, bald jenem System die Ventile öffnet, so daß der einströmende Hauch des Lebens die fünfzehnhundert Millionen feiner Membranstimmen in unfaßbar reicher Kombinationsmöglichkeit zu seelischen Akkorden erklingen läßt. An einem Hause seien Millionen kleiner Glühlämpchen angebracht, deren Drähte alle in eine stille Klause unter dem Dache auslaufen. Hier sitzt ein Jemand, der das System der Hemmung in den Händen hält. Er läßt Millionen Flämmchen erlöschen, und ein kleiner Rest leuchtet: ein Namenszug strahlt in das Dunkel der Welt. Andere Systeme werden geschlossen, andere freigelegt: ein Gruß, ein Willkommen, ein ganzer Satz erstrahlt, – und so könnte der Ingenieur der Hemmungen unter dem Dach gewiß jede Weisheit in farbigem Spiel aufleuchten lassen, falls er den Strom seiner Batterien, der in alle Lämpchen zu fließen strebt, zeitweise immer nur in einige eingelernte Bahnen zwingt und ihm die anderen verschließt. So ist auch hinter unserer Stirn ein unendlich kompliziertes System kleiner erregbarer Leuchtkörper ausgespannt, viel zahlreicher als die Sterne am Himmel, die für uns auch nur aufflammen, wenn das Licht des Tages sie nicht abblendet; die nur dann in ihren spezifischen Energieformen erzittern, wenn die Hirnhemmung gerade ihre Leitungen dem Strahl des Lebens freigibt. Diese Hirnhemmung hat nun keineswegs gleiche, scheinbar willkürliche Macht über alle Formen zentraler Hirn- und Seelentätigkeit; ihr wechselnder Einfluß nimmt mit dem Entwicklungsalter der einzelnen Hirnpartie ab. In den instinktiven, dem Bewußtsein ganz entzogenen Seelentätigkeiten, namentlich in denen der Regulation von Herz- und Atmungstätigkeit, schwankt die Hemmung nicht mehr; sie ist immer gegenwärtig, sie hat sich selbsterhaltungsgemäß Von Hauptmann treffend statt »instinktiv« eingeführter Begriff. herausgeprüft, welche koordinierten Bahnen das Beste, Unabänderlichste für den Haushalt des Ganzen darstellen. So werden auch unsere, heute nicht mehr bewußten Seelenhandlungen in festen, definitiv und stets gleichmäßig gehemmten Bahnen reguliert, und nur in den jüngsten Phasen des Bewußtseins tastet die Hemmung, gleichsam nach Auswahl suchend, was wohl die beste, erhaltungsgemäße Lösung sei. Die jüngste Entwicklungsphase eines seelischen Organismus ist gleichsam stets sich selbst noch ein Problem, das nach definitiver, d.h. instinktiver Lösung ringt.

In uns geht sehr vieles unbewußt seinen nicht mehr abzuändernden psychischen Mechanismus. Wir haben in uns psychisches Geschehen, das unserer Kontrolle ganz entzogen ist. Unsere Sympathien und Antipathien z.B. können wir nicht mehr ohne Rest im Bewußtsein begründen; wir tun vieles, oft das Entscheidendste, ohne jeden plausiblen Grund, – mit einem Wort: es gibt in uns Verständigeres als den Verstand, Bewußteres als das Bewußtsein, Besseres als das Beste! Das geht zum Beispiel deutlich aus der Tatsache hervor, daß wir von einer Erkrankung träumen können, deren Herannahen im Wachen noch nicht empfunden wird: ein hohler Zahn, ein Geschwür kann im Entstehen schon Traummotive erregen, ohne gleichzeitig Wachsensationen zu veranlassen. (Moll.) Das sind jene unterbewußten, schon definitiv vom schwankenden Bewußtsein des Ichs und der Situation abgelösten (definitiv gehemmten) Gebiete, die nicht mehr oder noch nicht mit der tastenden Orientierung der höchsten Ganglienschichten assoziiert werden können. Die jüngsten Phasen geistiger Entwicklung senden ihre Polypenarme (Sinne) wie Gehirnausstülpungen nach außen, sie horchen, fühlen, wittern umher in der Welt und suchen nach Orientierung im Weltganzen. Das Gefühl der allseitigen Hemmung, die Summe aller Reize, die die Widerstände auf meine Sinne ausüben, wirkt das, was mein Empfinden von mir selbst und mein Bewußtsein von meiner Stellung in der Welt ausmacht. Aber in der Tiefe meines geistigen Seins ist immer noch ein dunkel in mein Jetztsein hineinreichender Unterstrom von einstigem Wissen und Erkennen derer, die vor mir waren, gleichsam das Testament der Psyche meiner Vorfahren, das ich nicht mehr entziffern kann, dessen Gesetzen ich aber gehorche, auch ohne seine Sprache zu verstehen. Manchmal fühlen wir ein dunkles Aufleuchten aus diesen Tiefen der mit uns geborenen Stammesgeschichte, man sinnt ihm nach, wird sich seiner Macht inne und fühlt doch nur einen Widerschein von seinem Wetterleuchten. In diese Tiefe reicht nun keineswegs die Hemmung, die der Schlaf dem Bewußtsein bringt, seine Abblendung des geistigen Lichtes bezieht sich nur auf jene krönenden Funktionen geistigen Geschehens, die im wesentlichen, wie wir sehen werden, der noch gegenwärtigen Phase der Hirnentwicklung zugehören.

Was ist es nun, das diese Hirnhemmung, Über das mutmaßliche Wesen dieser selbst siehe Ausführlicheres in des Verf. »Psychophysik des Schlafes und der schlafähnlichen Zustände«. Zweiter Teil seiner »Schmerzlosen Operationen«. 5. Aufl. bei Springer, Berlin. die das Dunkel des Schlafes erzwingt, vermittelt?

Wir stellen uns vor, daß um die Ganglienzellen des Gehirnes ein Mechanismus ausgespannt ist, dessen Aktion eben die Hemmung bedeutet, und daß dieser Mechanismus vielleicht ganz grob gebunden ist an die Zwischensubstanz zwischen den Gangliensystemen, die Neuroglia, die bisher als eine einfache Stützsubstanz aufgefaßt wurde. Wir denken uns diese Substanz aktiv durch Blutstrom und Saftzirkulation rhythmisch erfüllbar und entleerbar, so daß je ihre Füllung oder Entleerung imstande ist, Anschlüsse (Assoziationen) unter den Zellen zu unterbrechen oder zu bewerkstelligen. Sie bildet gleichsam zwischen den Ganglienkörpern feuchte oder trockene Isolationsschichten, die den überspringenden Funken oder induzierten Strömen größeren und geringeren Widerstand entgegensetzt. So geschähe auch das Denken in der Richtung des geringsten Widerstandes im Seelenorgan, wie jede andere Bewegungsform. Die Tätigkeit der Ganglien ist die der spezifischen Transformation (Umbildung) der Außenweltreize, ihre prismatische Strahlenzersplitterung, und die Tätigkeit der Hemmung ist die der Widerstandserzeugung für die Assoziation dieser transformierten Reize. Sicherlich gibt es auch ein psychisches Äquivalent, d.h. jeder Reiz, der das Zentralorgan trifft, verlangt seinen völligen Umsatz in Spannkräfte der Vorstellung und des Willens; die Handlung und der Gedanke sind gleichsam die Sammlung der zerstreuten Strahlenbündel zu weißem Licht, die Rückgabe der unveräußerten Pfunde an die Außenwelt. Die Hemmung gibt die Bahnen an, in denen dieser Ausgleich sich vollzieht.

Diese, wie ich gern gestehe, für eine Plauderei schwerfälligen Deduktionen waren nötig, um den Mechanismus des Schlafes völlig verständlich zu machen. Sie ermöglichen eine hypothetische Einheit des Gesichtspunktes, von dem aus es leicht wird, alle Formen des Schlafes zu betrachten. Daß die Strahlenfinger der Sonne imstande sind, die Hemmung, die über den Ganglien im Schlafe ausgespannt ist, zurückzuziehen, vermöge einer Reizung der sympathischen Nervengeflechte, wird uns ebenso begreiflich, wie daß ihr Loslassen von der Gefäßspannung dieser am Abend gestattet, die Tarnkappe über das Bewußtsein zu ziehen. Man beobachte nur einen Müden. Indem die heranrollenden Flutwellen des Hirnblutes gegen seine Bewußtseinszentren anbranden, fühlt er eine Neigung, nicht mehr mitzudenken, es wird ihm schwerer, die Umgebung teilnehmend festzuhalten, er vergißt sich und sie, seine Muskelaktionen werden schlaffer, die Lider sinken herab, und ein krampfhaftes Gähnen gibt kund, daß der Reizüberschuß, den das Leben in seiner Hirnrinde zurückgelassen hat, eine gewohnheitsmäßige Ablenkung auf ein gewisses Gebiet der Atmungstätigkeit erfährt. Gähnen heißt, das Gehirn von Spannkraft des Denkens entladen, um so der Hemmung leichteres Spiel zu gestatten. Recken und Strecken sind nicht minder Formen der Überführung geistiger Spannkräfte auf das Muskelgebiet. Die Flutwelle der Hemmung spült immer weiter über den lichten Strand des Bewußtseins, in dessen Glanz sich eben noch die Umgebung widerspiegelte. Diese Bildfläche wird immer trüber, und schließlich versinkt wie mit einem Schlage die Außenwelt vor seinen inneren und äußeren Blicken: er ist in ihr und hat doch kein Gefühl davon. Dieser Vorgang gleicht so unmittelbar der Ein- und Ausschaltung elektroider Spannungen, dem langsamen Verglimmen eines eben noch strahlenden Glühkörpers, daß der Begriff des »Erlöschens« des Bewußtseins zu dem Treffendsten gehört, was unsere Sprache besitzt. Man kann ihn ruhig buchstäblich nehmen. Die Schlafhemmung ist also ein durch Nervenspannung (Sympathicus) vermittelter Reflex, den die Periodizität des täglichen Lichtwechsels durch Anpassung erzwungen hat, der aber – und das spricht deutlich für die hier vorgetragene Auffassung – ebenso gut durch andere Einflüsse nervöser Natur erzeugbar ist. Ganz gleich, ob die vermutete Zwischenwirkung der Neuroglia vorhanden ist oder nicht – und sie ist ja eine Hypothese, wie andere auch – : Niemand kann leugnen, daß Schlaf durch Reizung der Hemmungsvorgänge im Gehirn aktiv zu erzeugen ist. Man hat die Wichtigkeit dieser Vorstellung bisher nicht erkannt. Diese Reflexhemmung ist nun z.B. ebenso, wie physiologisch durch den Rhythmus des Sonnenunter- und Sonnenaufganges, auslösbar durch die Maßnahmen der Hypnose: Streicheln über die Stirn und Augenlider, starres Fixieren, Kämmen, Wiegen, das gleichmäßige Einerlei des Tickens der Uhr, Vorlesen, die Monotonie des Schlafliedes, – das alles sind Reizformen der sanften, suggestiven Abblendung des Bewußtseins auf einen einzigen Punkt, wodurch es natürlich der immer bereiten Hemmung um so leichter gemacht wird, rings um diese letzte Stelle des Bewußtseins ihr Zeltdach des Schlummers zusammenzuziehen. Eindämmung des Bewußtseins auf einen Punkt und Einschlafen sind Dinge, die nahe beieinanderliegen. So kommt es, daß zum Einschlafen auch der feste Wille dazu gehört und daß Gewohnheit und Erziehung einen so erheblichen Einfluß haben. Man zwinge sich bei erschwertem Einschlafen, fest bei einem Punkte zu verharren, man stelle den geistigen Blick auf eine Stelle der Erinnerung, der Überlegung, der Vorstellung und halte ihn ja fest – der Gedanke ist ein Springinsfeld, er will rechts und links über die Zäune setzen – : dann wird es der Hemmung schon gelingen, auch diesen Punkt mit weicher Hand auszuwischen und das süße Allvergessen hervorzuzaubern. Unsere Schlafmittel – einschließlich der Mittel der Narkose – betäuben in gleicher Weise, sie lähmen die Gefäßnerven aktiv; und die Folge ist die Füllung der hemmenden Gespinste um die Ganglien und die Erzwingung der Unmöglichkeit ihrer gegenseitigen Erregung. Ganz deutlich ist der Mechanismus beim Alkoholgenuß. Der anfangs die Gefäße treffende Giftreiz verengt zunächst das Stromgebiet der hemmenden Zwischenschicht; der Anschluß der geistigen Verknüpfung der Ideen erfolgt zunächst mit deutlicher, gern gefühlter, die Lebenslust erhebender Leichtigkeit; über alle Höhen und Tiefen der Probleme schwebt frei und selig die erleichterte Kombination der Gedanken; der Dümmste dünkt sich ungeheuer geistreich und traut sich Fähigkeiten zu, von denen er nie geglaubt, daß er sie sein eigen nennt, wobei er oft sogar Kundige zu täuschen vermag. Die Hemmung gewinnt aber um so mehr Gewalt, je höher die Dosis steigt, sie engt wie beim Hypnotisierten das eben noch irrlichtelnde Bewußtsein immer mehr ein, der Berauschte bleibt geistig an einer Stelle kleben, er erzählt dieselbe Geschichte fünfmal, zehnmal, murmelt schließlich immerfort dieselben dumpfen Fragmente: und endlich sinkt des dionysischen Schwärmers blutgefülltes Haupt schwer auf den Tisch, und die volltönende Harfe läßt dem Sägegeräusch des Schnarchens das Feld. Während aber bei diesen künstlich erzwungenen Formen des Schlafes die Hirnhemmung nicht nur die obersten Schichten des Bewußtseins umfaßt, sondern auch ihre eiserne Klammer tiefer um die Zentren der Muskelaktion sowohl wie um die anderer Formen von Bewußtsein schlägt, scheint uns für den physiologischen Schlaf charakteristisch, daß eigentlich nur das Bewußtsein für Zeit und Ort, für Orientierung in der Umgebung und der betreffenden zeitlichen und örtlichen Situation fehlt. Da der Schlafende im Traum sein Bewußtsein von sich selbst, den Begriff der Persönlichkeit, durchaus nidht verliert, sondern nur orientierungsunfähig für das ist, was ihn in Wirklichkeit umgibt, so kann man sagen: Schlaf ist nichts als die periodische Hemmung des Situationsbewußtseins; er ist die periodische Ausschaltung der Orientierung für die Umgebung, die Zurück- und Einziehung aller Empfindungsfasern, mit denen der Mensch direkt in seiner Umgebung wurzelt. Alles übrige, sein Ich-Bewußtsein, seine Bewegungsfähigkeit, seine Phantasietätigkeit, seine Vorstellungssphäre, unterbewußtes Instinktleben ist an sich ganz wach und nur insofern vermindert, als diese Funktionen ihren verstärkten Anstoß eben aus jenem Situationsbewußtsein zu ziehen gewöhnt sind. Wir verlassen für gewöhnlich im Schlafe nicht unser Bett, weil wir von diesem Bette gar nichts wissen, wir greifen nach nichts über und um uns, weil wir nichts von dem »über und um uns« wahrnehmen, und wir lassen alle Muskeltätigkeit ruhen, weil wir aus der Umgebung keine Veranlassung beziehen, irgend etwas auf diese Bezügliches zu unternehmen. So weit aber die tiefer gelegenen zentralen Funktionen vom restierenden Bewußtsein des Traumes erregt werden können, bleibt ihre Beeinflußbarkeit bestehen, wie wir noch sehen werden. Bei der Betrachtung des Traumes werde ich auch noch genauer zu definieren haben, in welcher Weise sich diese Tatsachen der Hirnhemmung bei den verschiedenen Formen des gestörten, pathologischen Schlafes erkennen lassen. Da nichts so individuell ist wie die Intelligenz, und da gerade die Schichten, in denen Logik und Intelligenz ihre Werkstätten besitzen, in mehr oder weniger großer Tiefe im Schlaf ausfallen, so ist auch die feinere Art der Bewußtseinshemmung im Schlaf und noch mehr im Traum etwas stark Individuelles. Jeder hat seinen normalen Schlaftypus, der natürlich sehr erheblich durch Außenwelteinflüsse zu verändern ist. Der Schlaftypus wechselt auch deutlich mit dem Lebensalter des Individuums, und seine größte Intensität fällt zusammen mit der Vollreife, was wiederum stark für meine Auffassung von der Aktivität des Schlafmechanismus sprechen dürfte. Der Schlaf des Neugeborenen ist deshalb so intensiv, weil die mitgeborene Hirnhemmung an Ausdehnung so ungeheuer die Ansätze von Ganglienzellen überwiegt; denken lernen, heißt eben: Ganglienzellen in die erhaltungsgemäße Hemmung hineinwachsen und ihre Anschlüsse durch sie regeln lassen. Das ist ja der einfache Grund, warum Wahrheiten oft eine Generation an Hirnwachstum gebrauchen, bis sie in die Köpfe der Nachlebenden hineinpassen und nun wie etwas Selbstverständliches erfaßt werden; deshalb ist es auch für originelle Geister ein so sicherer Weg, im lieben Vaterland zu etwas zu kommen, wenn sie die Einsicht haben, sich still, geduldig zunächst dreißig Jahre ins Grab zu legen. Es ist überall das Verhältnis von Ganglienaktion zur Aktivität der Hemmung, das Originalität, Intelligenz, Charakter, Genie, Talent, Temperament ausmacht und das auch den wechselnden Typus des Schlafes bestimmt. Anwuchs neuer Zellassoziationen, geistige Geburtswehen machen unruhigen Schlaf, ebenso wie Überanstrengung, Sorge, Überlastung vorhandener Denksysteme (Rechnen, Geiz, Gewinnsucht, Hoffnung, Erwartung, Freude), weil in allen solchen Fällen die Gangliensysteme der zur Nachtzeit anrückenden Hemmung widerstehen.

Im wohlregulierten Hirnmechanismus geht abends alles nach der Schablone der Ein- und Ausschaltung: sie brauchen noch gar nicht müde zu sein, die glücklichen Philister, sie legen sich um Punkt neun Uhr zu Bett: eine Drehung auf die Seite, eine Umschaltung am wohlgeübten Kabel der Bewußtseinsleitungen, – und der Schlaf beginnt. Diese Regelmäßigkeit des Ein-und Ausschaltens von Bewußtsein und Schlaf selbst ohne jedes Ermüdungssymptom, die man bei wohlerzogenen Kindern und den Menschen, die Sinn für Ordnung und Gesundheit haben, beobachten, die man dagegen freilich bei den Kindern Berliner Sonntagsausflügler nicht einmal andeutungsweise mehr erkennen kann, spricht offenbar beredt genug gegen die Ermüdungs-und Vergiftungstheorie des Schlafmechanismus. Es ist eine alte Weisheit, daß der Vormitternachtsschlaf der stärkendste ist. Weil wir es eben im Schlafe mit aktiven Nervenspannungen zu tun haben, ist der Kontrast von Tag und Nacht um so deutlicher wirksam, je näher der Wechsel zum Eintritt der Schlafhemmung liegt. Die Zeit vor Mitternacht liegt dem Scheiden der Sonne am nächsten, d.h. dem Hemmungseinsatz, und jede Stunde nach Mitternacht führt uns dem Sonnenaufgang und dem Einsatz des Bewußtseins näher. Welche Erquickung bringt ein tiefer, gesunder Schlaf; wieviel Heilung und Abwehr von Gefahr und Krankheit unter dem Zeltdach seines Friedens in einer Nacht; welche sanfte Glättung der erregten Flut des Tages unter dem Banne seines schwebenden Dunkels! Er vermag Rätsel der Lösung nahe zu führen in wenigen Stunden, und oft steht die befreiende Idee am Morgen beim Aufwachen vor unserem Bette, wie ein Kind mit einem Geburtstagsstrauß. Weinend legt der Knabe sich nieder, weil er die Lektion nicht bewältigen konnte, und morgens sagt er sie her, erstaunt und verblüfft ob der Heinzelmännchenarbeit, die über Nacht in seinem eigenen Kopf geleistet ward. Der Dichter, der Komponist, der den Tag verbracht hat in gigantischem Ringen mit dem Chaos seiner inneren Gestaltungskraft – vergeblich, denn es wollte keine Schönheit dem heißen Nebel entsteigen – : eine stille Nacht tiefen, erquickenden Schlafes, und im Hafen seiner Sehnsucht liegt bewimpelt und beflaggt ein weißes, stolzes Schiff aus dem fernen Lande der Phantasie. Da es eben die jüngsten Entwicklungsphasen des Bewußtseins sind, in denen das Gehirn des Kindes oder des frei bildenden Produzenten von Gedanken – der Grund, warum das Genie stets mit Kinderaugen sieht – immer neue Systeme an alte Bahnen anschließt, so sind hier auch gleichsam die leicht verletzlichen, zartesten Blüten des Seelenlebens ausgebreitet. Das stille Zellenwerden und Gedankenspinnen bedarf mehr als andere, festere Gewebe des Gehirnes des zeitweiligen Schutzdaches gegen Reif und Hagel. Sehr wohl kann eine Nacht gleichsam die neue Drahtlegung und Kabelstation fertigbauen, den Schlußstein setzen, einen sammelnden Kontakt einschalten, die ganze Monate im Anreiz des Lebenskampfes mühsam vorgebildet hatten. Welche Qual aber, wenn diese dem geistigen Leben so nötige Bewußtseinsverhüllung versagt! Was gibt es Fürchterlicheres als die Schlaflosigkeit, in der das geistige und körperliche Auge in die Finsternis der Nacht starrt, die das Wesen eines Dämons annimmt? Dabei die Gedankenflucht hinter dem Schädel, diese springenden, jagenden und nicht fixierbaren Bilder, die doch so gleichgültig sind und uns so gar nichts angehen, die sich aber unaufhörlich durcheinanderschieben, – diese grauenvolle Ahnung dessen, was Wahnsinn sei! In der Tat: Hemmungsfortfall ist ja auch der Inhalt vieler Wahnsinnsformen, da die gereizten und zur Überfunktion gepeitschten Ganglienzellen schließlich alle Widerstände durchbrechen, die blinden Affekte und die Bocksprünge im Geist, die geistigen Veitstänze beginnen.

In der schonenden Hülle, die die Hemmung um wachsende, junge Reiser der sprossenden Hirnzellen zu legen vermag, in der heilsamen Fesselung, die der überwiegende Widerstand unreifen Kapriolen junger Hirnkeime entgegensetzt, wurzelt vielleicht der Trieb der Berauschungssucht bei Tier und Mensch. Die Alkoholisten, die Morphinisten, die Opium- und Haschischvertilger verschaffen sich künstlich diese Verschleierung des Bewußtseins, den der gesunde Schlaf freiwillig gewährt, nicht nur, weil es angenehm ist, die quälende Unruhe erregter Ganglienarbeit zu hemmen, sondern auch, weil sie instinktiv fühlen, daß eine erhaltungsgemäße Ausgleichstendenz in diesem erzwungenen Widerstand liegt.

Diese Anschauung von der auf Nervenspannung beruhenden, aktiven Ein- und Ausschaltung der Hirnhemmung als Ursache des Schlafes macht uns auch die atypischen Schlafformen viel begreiflicher, als sie es unter der Ermüdungs- und Vergiftungstheorie sein konnten. Der Winterschlaf gewisser Nager, der Tagschlaf gewisser Insekten und Vögel, die pathologische Schlafsucht beim Menschen und die in einigen Grenzen mögliche Verschiebung des natürlichen Schlaftypus (alle Sorten Nachtwächter einbegriffen), sie alle werden verständlich, wenn wir sie betrachten als verschobene Rhythmen einer aktiven Hemmung. Die Intervalle des Wechsels von Hemmung und Aktion sind auf nervöser Bahn nur zeitlich verstellt, soweit überhaupt noch ein Rhythmus erkennbar ist; wo dieser aber ganz fehlt, wo entweder Aktion oder Hemmung allein herrschen, da beginnt das Reich des Abnormen im Geiste, das ganz natürlich in Krankheiten der Hemmungs- oder Aktionsorgane zu trennen wäre, wie an jeder elektrischen Einrichtung Strom oder Hemmung defekt sein können.

So ist der Schlaf also die Tätigkeit eines besonderen Organsystemes, der Hemmung, die sich aus Blutumlauf, Isolationsmechanismen und Nervenerregung zusammensetzt. Den verschiedensten Ursachen, der Schaukelbewegung der Wiege, dem Reflex der Hypnose, der Wirkung der Narkotika, gehorcht diese rätselhafte Funktion so lange, bis schließlich die Hand des Todes zum letztenmal und dauernd die ewige Hemmung gleich einem eisernen Vorhang vor unserer Existenz herabzieht. Darum scheint der Schlaf als des Todes Bruder, weil er uns ahnen läßt, wie unsere definitive Lebenshemmung sein wird. Was das Dunkel, das nur mit dem Tage wechselt, an der Peripherie unserer Seele mit seinem Zauberschleier wirkt, das vollendet einst die Nacht des Nirwana für immer. Heute versenkt der Schlummer das Ich nur auf ein kleines Stückchen unter die Oberfläche; es taucht ein wenig hinab in ein Meer, in dem noch die kristallenen Gestaltungen des Traumlebens schweben; aber einst erstarrt auch diese schwebende Flut das kalte Nichts zu Eis. Solange aber Wachen und Schlaf mit Auf- und Niedergang der Sonne wechseln, haben wir Gelegenheit, den vollen Frieden zu ahnen. Wir werden im Schlaf in eine Sphäre gleichsam früherer Daseinsepochen zurückgezogen, sowohl unseres persönlichen Seins wie des Seins der Menschheit. Schlaf ist Seelenleben minus Situationsbewußtsein und ohne die Fähigkeit, die Umgebung logisch mit unserem Geiste zu verknüpfen. Das gibt unserer Phantasie die Möglichkeit, uns einen Teil des nur halb bewußten Tierlebens vorzustellen, dessen Fesseln die immer sprossenden Zellen der Fortentwicklung gesprengt haben und dereinst in späteren Geschlechtern vielleicht zu noch höheren, wundervollen Bewußtseinsformen weiter sprengen werden.

II.

Wenn es richtig ist, daß im Schlaf alle diejenigen Saiten unseres Seelenorganes, deren Sinneswurzeln wie Polypenarme in die Außenwelt greifen, im Pianissimo e con sordino der Hemmung, also fast tonlos, schwingen, wenn es also vorwiegend das Bewußtsein der Stellung des Ichs in der umgebenden Welt der Realitäten ist, das aus der Reihe psychischer Bewegungen im Schlafe entfällt, so ist es begreiflich, daß alle noch in der übrigen Sphäre der Seele schwebenden Gestalten im luftigen Reich der Phantasie ihren Reigen führen müssen. Schon wenn im Wachen jemand die Neigung hat, ein deutscher Professor zu werden, d.h. sein Auge nach innen kehrt und sich nicht entschließen kann, Rinnsteine, Laternenpfähle und Mitmenschen für Realitäten zu halten, wenn Dichter und Denker uns begegnen, das Auge für den Glanz der Ferne eingestellt und die ganze Energie gleichsam zum Wachedienst für das ewige Feuer der Vestalin nach innen gepreßt, so sagen wir ja wie Josephs Brüder: »Seht, da kommt der Träumer!« Die Seele hat eben zwei große Orgelregisterzüge: »Real« und »Ideal«, die, gleichzeitig gezogen, leider nie recht miteinander Harmonien geben, so schön sie, jedes einzeln gespielt, die Symphonie des Daseins färben. Wenn die mehr oder minder ausgeprägte Schnelligkeit der Leitungsanschlüsse im Gehirn die Temperamente ausmacht, wenn die unwillkürliche Zähigkeit der Willensimpulse, die Unhemmbarkeit von Vorstellen und Willen den Charakter bestimmt, so scheidet das Register »Gemüt und Phantasie« unser Innenleben noch viel deutlicher von jener andern Fähigkeit, durch die Welt zu kommen, jener festen Orientierungs-und Anpassungskraft für die Umgebung. Hat doch unstreitig die halb unbewußte Tätigkeit des Künstlers, das Versinken der Welt um ihn her, durchaus etwas dem Traumleben Verwandtes, trotzdem gerade auf den echten Künstler die Realitäten des Lebens erst recht intensiv wirken, weil er eben sie alle in tief innerlichem, ideellem Zusammenhang sieht, gleichsam durchglüht von dem Lichte seiner inneren Wahrhaftigkeit. Alles, auch das Kleinste, das er erblickt, dünkt ihn ein Beweisstück für die Idee einer Schönheit, die durch ihn Gestalt gewann. Die Welt und ihre Erscheinungen bieten ihm immer neue und mit verwundert lebhaften Kinderaugen betrachtete Bestätigungen seines inneren Traumes. Wenn aber auch die von Musen nie geküßte Stirn eines Bankiers im Wachen keine anderen Bestätigungen seiner Idee sucht, als daß gerade seine Aktien steigen, seine Gruben prosperieren: der Schlaf und Traum macht ihn dennoch zum Dichter, er löst ihn sanft von seinen begehrlichen Sinnen, und wenn er nun dennoch träumt von Dividenden, Giro und Diskont, so verlegt er immerhin den Schauplatz seiner Sehnsucht und seines Bangens auf eine Bühne, die die Welt bedeutet, sie aber doch nicht ist. Wie aber ist es überhaupt möglich, daß vor unserem Traumesblick ein Tausendmarkschein, ein Himmel, ein Haus, ein Pferd erscheint, wenn doch die Sinne, die diese Realitäten übermitteln, in Hemmung sind? Nun, die Halluzination, die Vorstellung, die Erinnerung, der Traum wären nicht denkbar, wenn nicht die Nervenbahnen sämtlich auch in umgekehrter Richtung schwingen könnten, wie das die Physiologie unwiderleglich festgestellt hat. Wenn mein Auge mir Licht und Schatten in einer Schwingungsfigur übermittelt hat, deren Reiz im Gehirn in unserem Sprachzentrum den konventionellen Begriff »Pferd« auslöst, so kann umgekehrt das Sprachzentrum in allen beteiligten Gruppenganglien bis rückwärts zum Auge erzitternd ein sehr lebhaftes Bild dessen, was wir »Pferd« zu nennen übereingekommen sind, unserer Phantasie in voller Treue zutragen. Ja, wie bei den Halluzinationen im Traume kann selbst bei offenen Augen, beim Halbwachen, die Realität der Umgebung ungestört zum Gehirne geleitet werden, so daß wir schwören können, wir sind im Bett; wir wachen, – und dennoch erregt die gestörte und verwirkte Traummechanik von rückwärts her erzitternd den Alp, »den Mann da vor meinem Bette«, mit grauenerregender Deutlichkeit. So ist es mit allen halluzinatorischen Wahrnehmungen, die die Logik nur trüben und erschrecken, wenn sie in blitzschnellem Wechsel mit realeren Wahrnehmungen für wenige Sekunden hin- und herschwanken, die aber natürlich die Logik des Wahnsinns bilden, wenn sie dauernd sind oder immer wiederkehren. Dann verliert die Kritik ihre einzige sichere Stütze, die Intaktheit der Sinneswahrnehmungen, und das Reich der kranken Phantasie beginnt. Wenn ich nicht mehr die Fähigkeit habe, die rückwärts schwingenden Bilder meiner Phantasie und ihren Abstand von der Wirklichkeit am Maßstab meiner gesunden Sinne zu messen, so weht meine Logik in den Lüften, wie ein Sommerfaden, der sich hoch in den Pappeln gefangen hat. Da nun im Schlafe die Sinneszentren gehemmt sind, die Sinnesbahnen aber leiten, wie wir gesehen haben, so prallt der Reiz der uns umgebenden Welt in allen Formen, vom Knarren der Tür und vom Bellen des Hundes bis zum Donner des Gewitters, an die Pforte der geschlossenen Sinneswelt, und wenn er nicht stark genug war, sie zu öffnen, die Hemmung zu überwinden, wodurch wir wach würden, so springt er nach dem Gesetze von der Erhaltung der Kraft in der Richtung des geringsten Widerstandes von der Schwelle unseres realen Bewußtseins ab, wie eine Billardkugel von der Bande. Da diese Reize aber in jeder spezifischen Ganglienschicht in andere Empfindungskräfte umgesetzt (transformiert) werden, so klettert mit ihnen gleichsam eine Schar von Wichtelmännchen über die Hecken der benachbarten Sinneswohnung in den Palast der Phantasie. So wird ein Geräusch, der Druck der Bettdecke, ein Luftzug, ja ein überfüllter Magen, ein Schnupfen, ein Katarrh, ein Blutandrang in irgendwelcher Richtung zum Motiv eines Traumes, gleichsam zum Thema von allerhand Variationen und Spinnerliedchen im nicht gehemmten Seelengebiet, – oft unter phantastischer Vergrößerung der wahrgenommenen Reize. Das Klappen des Fensters wird zum Schuß, das Rücken eines Stuhles zum Donner. Da das Gefühl meiner Persönlichkeit, mein »Ich«-Bewußtsein gar nicht mehr direkt abhängt von meinen Sinneswahrnehmungen (cogito, ergo sum), sondern bis tief in die unterbewußten Schichten hinabreicht, bis zu jenen Wurzeln, die schon im Daseinskampfe meiner Ahnen auch für mein individuelles Leben generell festgelegt und mitgeboren wurden, so ist verständlich, daß der Persönlichkeitsbegriff mit allen möglichen halluzinatorischen Traumbildern verknüpft werden kann: man fühlt sich und sieht sich doch in anderer Form, sogar als Tier in anderer Gestalt, als Leiche aufgebahrt, als König oder Bettler, als Engel oder Teufel. Das doppelte Bewußtsein erklärt sich leicht aus dieser wechselnden Hemmung im Gebiet realer oder phantasiegemäßer Seelenerregungen. Man hat im Traum durch phantasiegemäße Assoziationen vom Ich mit Muskelgefühlen und dunklen Sehnsuchtsrichtungen Fähigkeiten, die uns fliegen lassen, schwebend durch den Äther und die Luft, die uns Probleme spielend lösen lassen, an denen wir uns wach fast den Kopf zerbrachen. Aber es ist ein Gaukelspiel; denn sobald wir wach sind, löst sich die neue Kunst, die Problemlösung, die nur vorhanden war, weil unsere Logik ohne Sinne, ohne die Elle der Kritik arbeitete, in Dunst auf, wenn die geschlossene Barriere der Schlafhemmung in die Höhe steigt.

Man kann aber doch die Möglichkeit nicht ganz bestreiten, daß manche Menschen Verse, Lösungen von Rätseln, Pläne usw. unmittelbar so niedergeschrieben haben, wie sie es im Traume geschaut zu haben glaubten; denn es ist ja keine Frage, daß der Traum Erinnerungen hinterläßt, wenn auch die Dichter, die also beginnen: »Mir träumte einst, ich sei ein großer König«, gelegentlich wohl ein wenig flunkern. Übrigens ist es wegen der Abschließung der Gegenwart, die uns zeitlich und räumlich umflutet, charakteristisch, daß wir den Schauplatz unserer Träume so oft in die Vergangenheit verlegen müssen, wenn wir überhaupt Spuren eines Gefühles für Zeit und Raum im (ruhelosen!) Schlaf behalten; wir sehen uns daher fast stets jünger, als wir sind, oft direkt als Kinder, Angehörige, die gestorben sind, meist lebend, bisweilen als Tote und doch unter uns wandelnd. Wenn wir auch Tages-, Jahreszeiten und Räumlichkeiten im Traume wiedererkennen, so zweifle ich doch, ob jemand sagen könnte, in welchem Kalenderjahr, in welcher geographischen Zone sein Traum sich abspielte, weil eben zur logischen Raum- und Zeitempfindung das im Schlafe abgesperrte Gebiet der Gegenwartsempfindung untrennbar gehört. Sich zeitlich oder örtlich orientieren, heißt eben, rückwärts tasten aus der kontrollierbaren Umgebung und der Augenblickssituation in vorgestellte Vergangenheit oder Ferne. Die Phantasie hat es nicht nötig, mit Zeit und Raum sich abzuquälen; darum hat sie auch etwas Göttliches an sich. Unstreitig haben wir im Traume deutliche Lichtempfindungen, obgleich kaum jemand genau die Beleuchtung seiner Innenszenerie unmittelbar nach dem Erwachen anzugeben imstande sein wird; bei Wiedergabe der Traumesbilder schlägt uns meistens die ergänzende Phantasie des Wachseins ein Schnippchen, denn Traum und Phantasie des Wachenden sind einander stets neckende Geschwister. Auch steckt ein Dichterling in jedes Menschen Brust, und namentlich bei Traumerzählungen korrigiert ganz naiv dieser wache kleine Künstler die immer nur schwache Erinnerung aus dem Traume. Träume werden oft gelogen, es besteht eine instinktive Freude beim Dichter Mensch, seine Gaukeleien anderen auf den Tisch zu setzen, wie das Burgfräulein von Niedeck es mit Ackersmann und Pflug und Pferd tat. Übrigens hat man beim Traumerzählen auch ein Gefühl der heiligen Scheu; man sieht Traumreferenten gern in die Ferne schauen oder in sich versunken bei mit der Hand verschlossenen Augen das fadenscheinige Gewebe des Traumes mit etwas irdischem Zwirn ausflicken. Meist geht es, was die anderen Sinne außer dem inneren Sehvermögen betrifft, im Traume ziemlich geräuschlos zu; die Leute schweben ohne Tritt, wie wir selbst gleichfalls über Wiesenplan, Fluten und Parkett. Wir sehen jedenfalls im Traume deutlicher, als wir hören, riechen, schmecken, fühlen. Ja »die Stimme, die da ruft«, ist in lyrischen Gedichtsammlungen häufiger als im wirklichen Traum; geheimnisvolle Gesten, Winken, Drohen, Nahen phantastischer Gebilde sind häufiger. Sehr bezeichnend ist das Abbrechen vieler Träume in dem Augenblick, in dem logischerweise eine Gehörs- oder Gefühlswahrnehmung stattfinden müßte. Sehr viele Träume schließen wie das wundervolle Goethesche Balladenfragment »Der untreue Knabe« mit einem einfachen »die wend't sich« der verlassenen Geliebten. Sehr oft sehen wir den Dolch, die mordende Faust sich auf uns niedersenken: jetzt gerade müßte der Schmerz eintreten, – da sind wir schon wach, bebend und transpirierend. Das zeigt so recht deutlich, daß im Schlafe tatsächlich eine Hemmung materiell besteht; denn im Moment, wo die Flamme der Phantasie an dem Schleier der Sinneswahrnehmungen hinaufzüngelt, zerreißt er, und Flamme und Schleier verschwinden. Wir haben eben das Gefühl davon, daß auch der Phantasie eine Fesselung nach rückwärts geboten ist durch den Ausfall der realen Vorstellungen; es geht sehr oft etwas im Traume nicht weiter, auch wenn wir nicht bei dieser Kollision von Vorstellung und Wahrnehmung aufwachen. Wir wollen einen Ballsaal betreten: wehe! wir sind splitternackt; wir wollen eine Rede halten, womöglich vor der Französischen Akademie, einer feierlichen Versammlung, und wir stehen schon mitten auf dem Podium, – was ist das? Wir können ja nicht sprechen, der Kiefer will nicht auf! In solchem direkten Innewerden der Hemmung im Traume, festgehalten durch die Erinnerung, die man von der Sache behält, erblicke ich den stärksten psychologischen Beweis für die reale Existenz der Schlafhemmung in der Sphäre des Situationsbewußtseins. Auf diese Weise ist es auch begreiflich, daß im erneuten Traume das Bewußtsein früherer Traumphantasien, ja schlafwandlerischer Handlungen wieder auftritt. Die Phantasie ohne logische Assoziation hat eben ihr Bewußtsein für sich. So erklärt es sich, daß Vergessenes im Traumschlaf wieder ins Gedächtnis gerufen werden kann: es hat sich im Strudel der Tageswellen verloren, wird aber emporgehoben, sobald im Schlafe das Bewußtsein des Gegenwärtigen, des sinnlich Wahrgenommenen versinkt. Alle Formen gespaltenen Bewußtseins sind Formen periodischer Hirnhemmung. Auch unsere Fähigkeit, morgens zu einer bestimmten Zeit zu erwachen, gehört zu den verbreitetsten Formen eines doppelten Bewußtseins. Der autosuggestive Willensimpuls aus den Sphären unseres Zeitbewußtseins langt pünktlich zur Sekunde an die Einschaltung des Bewußtseins: so weit geht die Automatie, der Selbstwille unserer Ganglien, daß sie ohne Zutun des Gesamtbewußtseins Zeitbegriffe übermitteln.

Beim Suchen der näheren Ursache des Träumens finden wir, daß durchaus nicht gerade die Dinge, die den Tag über den stärksten Eindruck auf uns gemacht haben, im Weben des Traumes zu Motiven verwandt werden, so verbreitet auch diese Ansicht sein dürfte. Denn das, was uns tiefsten Schmerz oder höchstes Glück für die Seele gebracht hat, wird nicht direkt Gegenstand der Traumesphantasie. Seelische Hochfluten dulden ebensowenig wie Worte oder Lieder Träume. Es kann im Gegenteil ein jeder, der sein Traumleben beobachtet, als eine Tatsache feststellen, daß dasjenige, was unseren Geist nebenher am Tage flüchtig gestreift hat, eine Person, ein Name, eine Szene, gesehen oder gehört im Augenblick, wo gerade andere Dinge unsere volle Aufmerksamkeit fesselten, mit Vorliebe zum Thema des Traumes wird. Dafür gibt es eine sehr plausible Erklärung. Die tiefgreifenden, erschütternden Sensationen, die uns das Schicksal sendet, während wir wachen, verlangen mit starkem psychischem Äquivalent fast augenblicklich einen seelischen Ausgleich: ein Schrei, ein Jauchzen ist nur der Beginn eines lange nachwirkenden Aufruhrs im Innern, denn das volle Werk der Orgel braust im Sturm und rüttelt an den Säulen und Gewölben unseres ganzen Wesens. Eine Handlung, vielleicht lange im Sinnen und Grübeln vorbereitet, oft ungestüm, wie mit explosiver Gewalt ausgelöst, gibt den psychischem Insult an die Außenwelt zurück, oder, wo mit lähmender Gewalt das schreckliche Faktum bleischwer auf unserer Brust lastet, da ist die Hemmung als Aktion selbst mit in den Strudel aufgewühlter Wellen gezogen, und unseren schreckhaften Schlummer unterbrechen kurze, abgerissene Träume mit einem Schauplatz fernab vom Raume, der unser Leid sah. Es ist keine Möglichkeit, gerade das Motiv des Schmerzes oder der Wonne in den Traum aufzunehmen, weil schon im Wachen tausend Gedanken und Willensimpulse den Ausgleich seiner seelischen Spannkraft übernehmen: das Gewaltige, das uns lebhaft Interessierende, steht zu sehr mitten in der Welt der Realität, als daß die Seele unter Hemmung der Realität im Schlafe sich mit ihm befassen könnte. Mich fragte einst ein Kind in den Tagen erster, schwerer Trauer weinend: »Warum erscheint mir Mutter nie im Traum?« Und Väter, die ihre ganze Hoffnung begruben, sinnen wohl nach, warum das erbarmungslose Geschick die liebe Gestalt des Sohnes nicht einmal im Traume wiedergibt. Der immer wühlende Schmerz verzehrt alle Spannkraft der Seele und hat kein Echo mehr. Und doch, wie mild von der Natur, daß nicht des Tages Weh auch noch hineinlangt in den kurzen Waffenstillstand, den der Schlaf uns gönnt, bis der Tag zum Kampfe mit den Leiden ruft! Der Mörder träumt nicht von seiner Tat; und das liegt nicht nur an seiner Gemütsroheit, sondern hat allgemein psychomechanische Gründe. Was im Brausen des Tages aber an flüchtigen Eindrücken vorüberschwebt, wie ein Falter an einem offenen Fenster, das verfängt sich im Netz der Seele doch und hebt, vom hellen Licht des Tages verscheucht, in der Nacht die Schwingen und läßt uns erkennen, wie bunt sie gezeichnet sind. Denn in Wirklichkeit gibt es in der Natur weder Klein noch Groß, alles hat sein spezifisches Bedeuten, auch für unsere Seele, und was das Bewußtsein nicht registriert, das ist deshalb doch da und wirkt zu seiner Zeit seinen Ausgleich. So gleicht der Traum einer Welle, die sich zur Zeit des Wogenganges in einer Vertiefung des Sandes verliert, die unsichtbar ist unter den wallenden Schleiern der Flut. Wenn aber nachts die Brandung schweigt, steigt sie als Nebeldunst empor und beginnt mit dem Wind nächtlichen Reigen. Das Traummotiv ist wie eine vergessene Goldmünze im Portemonnaie des Studenten; so lange es gefüllt war, versteckte sie sich leicht und unbeachtet in einer Falte, nun aber die Nacht der Schulden da ist, ist eine hohe Freude über ihren ungeahnten Wert. Wenn also empfindsame Menschen mit Pathos bekräftigen, dies oder jenes habe einen so tiefen Eindruck auf sie gemacht, daß sie »immer«, die »ganze« Nacht, davon träumen müßten, so ist das meist eine sentimentale Lüge: man träumt nicht vom Geliebtesten, – auch nicht davon, was uns so »furchtbar nahe« geht. Die Erinnerung als Bild, neben der Straße der Gedanken einherziehend, hat, genau wie der Traum, etwas Zusammenhangloses, Unlogisches und Unerzwingbares an sich. Erinnerungsbilder setzen, im Gegensatz zum Gedächtnis, plötzlich, unvermutet, verblüffend ein. So taucht plötzlich beim Kartenspiel unsere liebe Großmutter im Dorfe vor den Blicken auf, wie sie ihren »roten Dendron« begießt, oder mitten im Spiel einer ungarischen Rhapsodie stehen wir am Sarg einer Tante, die an der Cholera gestorben ist. Die gleichen willkürlichen, unvermuteten und unvorbereiteten Paradoxien zaubert das Kinematoskop des Traumes vor unsere geistige Netzhaut, und in beiden Fällen sind es Nebenströme, induzierte elektrische Ströme, wie die Technik sagt, die sie veranlassen. Die mosaikartige Bildchen gruppierenden Funken springen da über, wo sie den geringsten Widerstand finden, der von Puls und Blutwelle, Organreflexen und unbewußt gebliebenen Reizungen der Welt um uns, die nicht schläft, abhängig ist. Ich war einst in einer Versammlung von Ärzten, und wir sprachen vom Traum: das stets bereite Thema vom Traum des noch nicht erledigten Abiturientenexamens kam aufs Tapet. Ich sagte voraus, daß alle schon davon geträumt haben würden, nur die nicht, die einmal durchgefallen seien, und zur großen Verblüffung aller waren zwei, die nie jenen Traum gehabt hatten: sie waren wirklich durchgefallen. Die Erklärung ist einfach. Das vielgequälte Primanergehirn erhält eine Examensfurche von Qual und Schrecken, die das bestandene Examen, der kurze Moment der Freude, nicht ausgleicht. Diese verrauscht schneller als die Jahre lange Spannung. Ist man aber regulär durchgefallen, nun, so ist kein Rest mehr da; die Lösung war betrübend zwar, aber logisch, den psychischen Ausgleich hat das Leben selbst übernommen. Daraus können wir entnehmen, daß erstens psychische Erwartungsspannungen länger haften als gehabte Freude oder Schmerz und daß zweitens sorgende Qualen mehr Erinnerung hinterlassen als frohe Stunden. Unser Gehirn ist also von Natur zur Undankbarkeit geneigt. Jedenfalls aber erscheinen solche Gemütserregungen, wenn überhaupt, oft erst viele Jahre nach ihrem Eintritt als Traummotive wieder: sie müssen erst abklingen, erst untersinken auf den Grund des Bewußtseins und gleichen dann eben den übertönten Motiven, über die das tägliche Leben rücksichtslos dahinflutet. Mit dem Traum ist es wie mit den mitschwingenden Obertönen in der Musik, man hört sie über dem Pianoton deutlicher als im Forte. Auch der erwähnte Examenstraum taucht erst lange nach überstandenem Examen auf. Sonderbar ist, daß manche Menschen periodische Wiederholungen bestimmter Arten von Träumen erleben; sie träumen eine Zeitlang immer dasselbe. Das hängt wohl mit periodischen Störungen der Körperorgane, die nächtlich gleiche oder ähnliche Stromschwankungen in der Seele auslösen, zusammen.

Wir haben bisher nur Traumformen betrachtet, bei denen die Region, in der die Luftgebilde schweben, sich innerhalb der Zone rein psychischen Geschehens hält. Es vermag aber namentlich bei unruhigem, gestörtem Schlafe leicht auch die unterbewußte Spannung im Bestreben, restlose Äquivalente zu schaffen, auf das muskuläre Gebiet überzuzucken, eventuell wie beim Nachtwandeln ganz in die Zone der unbewußten Muskeltätigkeit auszustrahlen. Das sind schon gewissermaßen Schlafkrankheiten, denn je tiefer an sich und je energischer die Hemmung der Sinne im Schlafe ist, desto weniger vermag die Sphäre der Phantasie Anregung aus jenem Gebiet der Wirklichkeit zu beziehen, desto traumloser ist der Schlaf. Je labiler aber die Wage zwischen Hemmung und Erregbarkeit des Außenweltsinnes eingestellt ist, desto leichter vermögen auch Funken auf Muskeldrähte überzuspringen. So sehen wir Träumende lächeln, ja, wir hören sie lachen; sie weinen, sie stöhnen, sie schreien. Abwehrbewegungen, flehende Gesten, ja selbst Spazierbewegungen auf flachem Bette sind zu beobachten; also nicht nur die Hunde, die im Traum bellen, traben im Schlaf über eine ideelle Wand, die senkrecht zur Erdoberfläche zu stehen scheint. Ganz allgemein aber erlischt der Traum mit Vorliebe in einem deutlich fühlbaren Ruck aller, namentlich der Rückenmuskeln, – dem Schluß irgendeines geträumten Absturzes aus großer Höhe. Ist es nicht sonderbar, daß dieses Muskelzucken, das doch der Anfang des Erwachens ist, zeitlich genau und logisch konsequent der natürliche Schluß eines bestimmten Traumes ist? Die schlagartige Muskelzuckung paßt ganz genau in das Traumesereignis. Ahnt die Phantasie den Zitterschlag der Muskeln? Hier liegt meiner Meinung nach eine interessante psychische Täuschung vor, die für viele Träume charakteristisch sein dürfte. In Wirklichkeit liegen nämlich die Dinge zeitlich umgekehrt: das erste ist der Muskelreiz, und in der Zeit zwischen seiner Einschaltung und deutlichen Bewußtseinswahrnehmung liegt die blitzschnell verlaufende Traumperzeption; die Zuckung, die sich vorbereitet, ist schon das Motiv des in einer Sekunde abblitzenden Traumes. Die Sinneswahrnehmung des Kanonenblitzes geht auch der Wahrnehmung ihres Knalles voran, und doch ist es derselbe physische Vorgang, der beide auslöst. In dem Augenblick, in dem die Überladung der psychischen Zentren gleichsam den Damm gegen das Muskelgebiet einreißt, wird mit einem Schlage die Hemmung aus dem ganzen breiten Felde der Seele zurückgezogen, einen Augenblick ist das ganze Gebiet frei von jedem elektrischen Engagement, das einfallende Strahlenbüschel kann über den ganzen Horizont in einer Sekunde dahinrasen, genau wie das Wetterleuchten über den Abendhimmel. Wie viel Bilder können da entstehen in einer Sekunde! Das ist genau dasselbe, wie wenn wirklich Abstürzende in den wenigen Sekunden des Falles, während dessen in einer Art hypnotischer Lähmung des Hemmungsapparates alle Drähte unbesetzt sind, ganze Jahre der Erinnerung zu durchleben glauben, Beobachtungen, zu denen die Bergkraxelei, diese bewußten Selbstexperimente über Absturz und Tod, reichlich Gelegenheit gegeben haben, denn einige Bergsteiger bleiben ja wirklich am Leben, so sehr sie sich um Beisetzung in Gletscherspalten bemühen. Man kann als sicher annehmen, daß auf diesem Mechanismus des »Traumblitzes« während der Sekunde des halbbewußten Erwachens gut die Hälfte aller Träume beruhe. Ich erinnere mich eines langen Schülertraumes, in dem ein Rabe und ein Ring, weißgekleidete Jungfrauen und weiße Thronhimmel eine große Rolle spielten; und als ich, von irgendeiner Macht ins Nichts gejagt, irgendwohin abstürzte und aufwachte, sah ich am Fenster eine Krähe den dichten Schnee verstäuben. Damals hielt ich das für ein merkwürdiges Problem – den Raben, das Weiß im Traum und in der Wirklichkeit – ; jetzt glaube ich zu wissen, daß die Dinge zeitlich umgekehrt lagen: ich sah im Erwachen den frischgefallenen Schnee und die Krähe, und beide wurden das Motiv eines Traummärchens.

Wird der Außenweltreiz, der die zentral verbarrikadierten Sinnesleitungen trifft, durch pathologische Anlage direkt auf die Willensimpulse und ihre Muskelanschlüsse unter Überspringen der Bewußtsein vermittelnden Zonen übergeleitet, so entsteht jene eigentümliche Form des Traumes, die man Nachtwandeln nennt. Das der Sonne ja entliehene Licht des Mondes scheint tageshell ins Fenster und lockt und trügt die besonders empfängliche Seele des Schläfers. Der Mond suggeriert ihm gewissermaßen den Sonnenimpuls des Aufstehens, aber die Hemmung der Sinneszentren, der Vermittler der Orientierung in der Umgebung, ist völlig übersprungen von den betrügerischen Mondstrahlen und fest genug, um trotz der instinktiven Bewegungsfähigkeit das Bewußtsein für Ort und Zeit ausgeschaltet bleiben zu lassen während des Umhertastens des wandelnden Leibes, der gleichsam nur mit den Muskeln fühlt, das heißt: die Orientierung allein dem Muskelgefühl überläßt. In gewissem Sinne gehen in der Tat Somnambulen sicherer über gefährdete Stellen; aber sie können nicht mehr als andere, weder an Wänden hinaufklettern noch auf Fahnenstangen Ballett tanzen. Allerdings ist bei ihnen mit der Orientierung für den Moment auch das Bewußtsein der Gefahr ausgeschaltet, und es mag schon sein, daß ein Somnambuler, der im Fenster sitzt, angerufen und plötzlich die Situation wahrnehmend, im ersten lähmenden Schreck herabstürzt; meist aber kriechen sie mit einem charakteristischen, scheuen Wesen, gleichsam als schämten sie sich, so monddumm gewesen zu sein, zurück in ihr Bett. Meiner Beobachtung nach kommt Somnambulismus auch beim Hunde vor. Die größere Sicherheit der unhemmbaren koordinierten Muskelbewegung ist bekannt von der Zielsicherheit des Trunkenen und von der automatischen Virtuosität der Künstler, die leicht durch ein voreiliges Einmischen reeller Wahrnehmung verwirrt werden. Der produzierende Künstler gleicht in etwas den Somnambulen: Saal und Publikum als Umgebung verschwinden, nur die Muskeln jagen und greifen in schwindelerregender Ordnung durcheinander.

Interessant ist die Notiz Karl Loewes, des Balladenkomponisten, in seiner Selbstbiographie über sein Erwachen aus somnambulischen Promenaden, zu denen ihn zeitweilige Überarbeitung disponierte, in dem Augenblick, wo er sich selbst bemerkte, die geliebte Tabakspfeife in den Mund nehmend. Er pflegte zu diesem Zweck absichtlich die Tabakspfeife neben sich auf den Nachttisch zu legen: ein hübsches Beispiel dafür, daß im unruhigen Schlaf Sinneseindrücke geleitet werden können, ohne dem Bewußtsein assoziiert zu werden. Daß geistige Arbeit aber den Schlaf unruhiger macht, ist leicht begreiflich: sie überreizt die Ganglienaktion gegenüber der Hemmung, daher ist bei Nervösen oft kurz vor dem Einschlafen Zucken der Muskeln zu bemerken, – der Ausdruck der Entladung des Gehirnes von überschüssiger Spannkraft, die die sich zusammenziehende Hemmung auspreßt: ein Analogon zum Gähnen und Strecken vor dem Einschlafen. Halten wir die Fähigkeit, uns an Träume zu erinnern, zusammen mit der Tatsache, daß im Traum so leicht etwas vor dem ungestörten Ablauf der Walze innerer Ereignisse sitzt, so begreifen wir leicht, wie der Traum zu dem Problem der Bedeutung für die Zukunft kam. Wir haben ein Gefühl dafür, mit welcher Leichtigkeit Assoziationen der Phantasietätigkeit mit den durch die Erfahrung eingeschleiften Sinnenbahnen vor sich gehen; diese gleichsam rhythmisierten Themen des Erlebten übermitteln das Gefühl des schon Vergangenen. Wie ja perspektivisch unser Auge sich auch gewöhnt hat, das Kleine fern, das Große nah zu deuten, so verknüpfen wir mit dem Gefühl leichten, ungehinderten Anschlußrhythmus das Vergangene, Erlebte, schon Erfahrene; mit der Empfindung des Anschlußwiderstandes aber das Problematische, Kommende, Werdende. Nebenbei gesagt, ist das der wahrscheinliche Grund, warum uns eben vorhandene Situationen »schon einmal dagewesen« erscheinen: der durchlebte Moment schließt frühere Traumesbilder in leichtem, flüssigem Rhythmus an das eben Wahrgenommene automatisch an, und nun erscheint uns auch das reale Bild des Augenblickes mit im Wirbel vergangener Spiegelungen. Dann kehrt sich die Kontrolle des Zeitlichen um, und die Gegenwart scheint der Vergangenheit anzugehören.

Die Erinnerung an das zeitlich zusammenhanglos gefühlte Traumbild legt uns aber das Gefühl einer Lösung in der Zukunft nahe. So sind wir alle mehr oder weniger geneigt, Traumesbedeutungen und Traumhellseherei für möglich zu halten. Der Traumzustand der Seele hat mediumistischen Charakter an sich, und wenn die Ähnlichkeit, die der Vergleich eines Somnambulen mit einem Hypnotisierten ergibt, vielleicht nur äußerlich ist, so ist das Unterbewußtsein, d.h. die Form des Bewußtseins unterhalb der sinnlichen Wahrnehmung, ein viel zu unerforschtes, eben erst entdecktes Gebiet, als daß sich hier gewisse wunderbare psychische Tatsachen so ganz von der Hand weisen ließen. Der Spiritismus und Okkultismus gleicht vielleicht der Alchimie, in beiden war viel Humbug, Selbstbetrug und Konfusion. Aber man vergesse nie, daß aus dem Chaos der Alchimie sich eine so stolze, reale Wissenschaft wie die Chemie herauskristallisiert hat; möglich doch, daß aus dem Nebel des Spiritismus sich einst noch helle Lichtpunkte der Erkenntnis losringen. Man sollte keine weit verbreitete psychische Neigung für wunderbare Dinge der ernsten Untersuchung und des objektiven Abwartens für unwert halten; alle aprioristische Weisheit kommt in Sackgassen, und der Kathederdogmatismus wäre doch in arge Verwirrung geraten, wenn die X-Strahlenwahrheit Röntgens zuerst in spiritistischen Händen gewesen wäre. Unsere Seele mag auch Y- und Z-Strahlen wahrnehmen auf jeder Sinnesbahn, deren Existenz doch, wie die der X-Strahlen auch, wirksam gewesen sein könnte, ehe es der Wissenschaft gelang, sie in das Licht der Beobachtung zu rücken. In dieser Welt der Wunder, in der zu jeder Zeit die Unbegreiflichkeiten größer sein werden als die Summe dessen, was wir zu verstehen glauben, soll man recht vorsichtig sein mit dem Bannfluch der Verachtung und Lächerlichkeit. Man braucht nicht an das Traumbüchlein für zwanzig Pfennige oder an Wahrsagerinnen zu glauben und kann doch meinen, daß in der Seele Mechanismen tätig sind, von denen wir vorläufig gar nichts aussagen können, weil hier vielleicht ganz unentdeckte Transformationen von Kraft vor sich gehen. Deshalb braucht der Traum noch kein prophetisches Element zu enthalten. Könnte man die Zahl der nicht erfüllten Träume mit in Anschlag bringen, so würde vielleicht die Zahl der »Erfüllungen« in ein mit den Wahrscheinlichkeitsformeln ganz in Einklang zu bringendes Verhältnis zusammenschrumpfen. Beim »Traumeintreffen« wird aber, wie bei allen Vorbedeutungen, von der leisesten Ähnlichkeit ein großes Geschrei gemacht, während von den Millionen Träumen ohne jede Erfüllung in der Zukunft keine Silbe verlautet. Auf Ungebildete macht deshalb ein scheinbares Wunder einen so tiefen Eindruck, weil sie keine Empfindung haben für das Problematische und Wunderbare selbst des Alltäglichen; für die meisten Menschen ersetzt die Gewohnheit vollständig die Erklärung.

So gibt es in der Welt der Phantasie, nicht minder als in der durch die Sinne gespiegelten Zone der Wirklichkeiten, ebenfalls erkennbare Gesetzmäßigkeiten, wenn sie auch vorläufig nur der logischen Hypothese und Analogie erreichbar sind. Ich bin mir wohl bewußt, daß die von mir versuchte Methode mechanistischer Betrachtung immer nur eine Seite der Probleme aufzulösen vermag, aber unstreitig hat jeder Vorgang auf Erden und am Himmel einen vielleicht erkennbaren Mechanismus. Möglich sogar, daß dasjenige, was wir Erkennen nennen, nichts ist als die Zurückführung auf einfachere, erfahrungsgemäße Mechanismen durch Analogieschlüsse, es ist sogar denkbar, daß der Menschengeist erkenntnistheoretisch nie über rein mechanische Vorstellungen hinausreichen wird. Der Mechanismus als Weltanschauung, wie ich ihn damit fasse, ist aber durchaus idealistisch: er weiß, daß mit der Durchforschung der Gehirnkraft diese selbst nicht erklärt ist. Und wenn die Seele einige erkennbare mechanische Seiten hat, so ist das Wunder darum nicht geringer, das diese Innenwelt umschwebt und durchflutet. Seiner Erhabenheit kann aber auch diese Feststellung einfachster Gesetzmäßigkeiten keinen Abbruch tun. Die Schönheit einer Beethovenschen Symphonie verliert wahrhaftig nicht durch Kenntnis ihrer harmonischen Gesetzmäßigkeiten. Wir bestreiten niemand das Recht, von ganz anderen Voraussetzungen und mit ganz anderen Methoden denselben Stoff zu beleuchten. Er ist ergiebig genug, um jede Behandlungsweise zu vertragen.

Was aber alle Forschungsrichtungen einigen sollte, das ist die Anerkennung der menschlichen Unzulänglichkeit gegenüber den letzten, entscheidenden Rätseln. Wahre Bildung des einzelnen richtet sich nach dem Maß der Ehrfurcht, deren er fähig ist, im Angesicht der Erhabenheit und der rings vorhandenen Wunder der Welt.


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