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Zwei Kameraden.

Die Wiesen ergrünten. Die Tausendschönchen mochten ihre Hälse noch so strecken, die Grashalme wuchsen ihnen über die Köpfe.

Um die lilafarbenen Wiesenschaumkräuter, die gelben Löwenzahnblüten und Schmalzblumen gaukelten allerlei Schmetterlinge, Bienen summten und Hummeln brummelten von Blüte zu Blüte.

Da waren auch schon die Schwalben da und machten Jagd auf die Falter und Fliegen. Und richtig hatten sich auf der hohen Ulme bei der Ziegelei die Störche eingefunden und hatten bei ärgerlichem Schnabelgeklapper an ihrem zausigen Neste herumgebessert. Dann wurde die Störchin seßhaft, und wie es die Großmutter vorhergesagt hatte, trug ihr Mann ihr unermüdlich Futter zu. Und als die fünf Jungen ihre Hälse und Schnäbel über den Nestrand reckten, hatten Mutter und Vater immerfort zu tun, um die hungrige Brut zu sättigen. Aber auch Storch und Störchin mußten satt werden, wieviele Mäuslein und Fröschlein, wieviel Schlangen, aber leider auch junge Vögel mußten da ihr Leben lassen! Einmal sah Koja gar, wie ein Storch ein zappelndes Häschen zu Neste trug; ein anderesmal beobachtete er, daß derselbe Storch beim Spazieren auf der Wiese Bienen von den Blüten wegschnappte, klapp-klapp, klapp-klapp. Da verjagte er ihn mit lautem Schelten, und der Räuber im schwarzweißen Frack zog mit langen Flügelschlägen ab. Das waren für Koja Erlebnisse, die er am liebsten der Mutter erzählt hätte, aber die war weit. Und nur selten kam von ihr Nachricht. Jedesmal weinte die Großmutter, wenn sie einen ihrer Briefe las, und auf Agis wie auf Kojas Fragen, was denn die Mutter geschrieben hätte, gab sie nur die eine Antwort: »Arme Kinder, arme Kinder!«

Aber der Frühling ringsumher brachte Tag für Tag neue Gaben, er ließ die Geschwister nicht merken, daß sie arme Kinder waren. Schon konnte Agi, die von der Großmutter in der schulfreien Zeit fleißig zum Stricken und Flicken angehalten wurde, unter der Linde in der Gartenecke sitzen, wo auf eingerammten Pfählen ein Tisch und zwei Bänklein standen. In der Linde summten die Bienen und in den hohen Kronen der Ulmen, deren Gezweig die Linde streifte, plauderten die Schwarzplättchen bei ihren Bruten. Finken riefen ihr »pink, pink«. Ein Star, der sein Häuschen am Stamm der nächsten Ulme von Sperlingen besetzt gefunden hatte, war nach Hinauswurf der unwillkommenen Mieter wieder Herr in seinem Haus und hielt mit einem Starenfräulein Zwiesprache, es sollte zu ihm ziehen. Und auf dem höchsten Wipfelzweig des uralten Birnbaumes, der die Schmiede überragte, pflegte morgens und abends ein Amselmännchen sein Lied zu pfeifen. Von den Spitzen der Telegraphenstangen an der Königgrätzer Straße herab riefen die Ammern ihr Zi–zi, zi–zi–ziii! Im Garten prangten ganze Nester weißer Narzissen, überragt von hochstrebenden Lilien, deren noch steile Knospen schon schwollen. Vor den Bienenständen war ein heller Streifen fleischrot blühenden Klees, der Tausende von Köpfchen zum Prangen bereit hielt. Auch die kleinblütige Rankrose an der Hausmauer trug ihre Knospen empor; sie wurzelte in einem schmalen Beet, wo die Würzkräuter der Großmutter wundersame Düfte brauten: Es waren Majoran und Minze, Salbei und Basilgen.

An regnerischen Tagen suchte die Großmutter die Kinder in der Küche zu halten. Sie überließ ihnen einen alten Kalender zum Schulspielen. Und Agi, die statt des spanischen Rohres einen umgedrehten Kochlöffel als Abzeichen der Schulmeisterschaft handhabte, ließ Koja die Monatbilder begucken, fragte ab, was es da zu sehen gab, las mit ihm die Monatsnamen und schrieb sie ihm vor. Koja bekritzelte die leeren Seiten des Kalenders mit den mehr oder weniger gelungenen Abschriften; dann war die Schreibstunde aus. Im Rechenunterricht fiel Agi aus der Rolle des Lehrers und wurde Krämer. Sie verkaufte die von der Großmutter bezogenen Zuckerstücke, Kaffeebohnen, Töpfe, Messer, Gabeln, Wollknäuel, Spagatschnüre u.a.m., und Koja zahlte mit den von der Großmutter erborgten Silbergulden, Zehnerln, Zwanzigern, Vierkreuzerstücken und Kreuzern. Am meisten fesselte ihn der Leseunterricht. Da knieten die Geschwister auf dem Fensterbankerl und stützten die Ellbogen aufs Fensterbrett. Sie steckten die Köpfe zusammen und Agi las aus dem alten Märchenbuche vor, das noch von der Kindheit der Mutter bei der Großmutter geblieben war. Und weil Agi sehr langsam mit dem Zeigefinger von Silbe zu Silbe weiterrückte, während sie las, gingen Kojas Augen mit und er suchte der Schwester im Erkennen der Silben zuvorzukommen. Lispelnd las er meistens nach, manchmal mit und noch seltener vor. Die Neugier, wie es weiterginge, lockte. Und sein heißer Wunsch, bald alles lesen zu können wie die Großen, gab ihm Ausdauer. Aber bei solchem Lesen blieb ihm der Sinn des Märchens halb verschlossen, voll genoß es der Bub erst, wenn die Großmutter für die Kinder Zeit hatte. Da gab sie der Agi den Strickstrumpf in die Hände, sie selbst spann. Koja aber sollte die Geschichte erzählen, die zuletzt gelesen worden war. Das ging aber so spießig, daß Agi sich seiner erbarmte und dreinhalf, bis sie unvermerkt selber ins vorlesen Kam. Dann aber griff der kleine Gernegroß gerne nach dem Buch und las die Geschichte wieder. Er entzifferte leicht, was er verstand und las manches zwischenhinein, was gar nicht gedruckt war. Und er wurde im Lesen flügge. Denn sein Selbstvertrauen wuchs.

Manchmal spielten die Kinder Strickschule. Agi war das Strickfräulein, Koja war ein Mädel. Ein geblumtes Kopftüchlein verdeckte seine kurzen Haare, eine Schürze, die auf den Hüften überbunden war, reichte ihm mit ihrem Faltensaum bis unter die Knie. Und Agi war eine gute Lehrerin. Mit dem Häkeln fing sie an, und es wurde Koja leicht, ein Kettel zu häkeln, das er, wenn er dann wieder Bub geworden wäre, als Peitschenschnur brauchen konnte.

Schwieriger war das Stricken. Kojas linker Zeigefinger spannte den Faden Krampfhaft, seine rechte Hand bohrte die Nadel zu tief in die Masche oder er zerspießte den Faden. Und die wenigen Reihen, die er an den neuen Hosenträgern für sich selbst strickte, wurden grau vom Schweiße und vom Staub seiner Hände. Am lustigsten aber war ihm das Mustersticken mit farbigen Wollfäden. Sorgsam die Kreuzelstiche zählend, brachte er schöne Rosenknospen zustande. Aber allzulange hielt er die Lernerei nicht aus. wenn er es satt hatte, Mädel zu sein, warf er Kopftuch und Schürze von sich, zog Schuhe und Strümpfe aus und stürmte hinaus auf die Straße, wenn's auch regnete, lief er im ausgefahrenen Wagengleise dahin; wo die Pfützen am tiefsten waren, stapfte er am stärksten hinein, daß Wasser und Kot weit auseinanderspritzten.

War das Wetter günstig, dann hielt die Großmutter die Kinder nicht in der Stube. Sie sollten im Hof und Garten spielen in Seh- und Rufweite. Aber den unternehmungslustigen Koja zog der Wald unwiderstehlich an. Dort oben, wo die Ackerbreiten die Lehne hinanreichten bis zum Sanddorf, begann für ihn »unser« Wald. Koja wußte nicht, daß des Vaters Gut längst einen andern Herrn hatte. Aber die Großmutter war nicht zu bewegen, mit ihm in den Wald zu gehen; solange es noch keine Schwämme gab, hätte das keinen Sinn. Kojas Einwand, sie könnten ja Holz klauben wie der rote Peter, wies sie in ihrem Bauernstolz zurück. Und nur zögernd gab sie die Erlaubnis, Koja dürfe den Peter begleiten. Am sonnigen Morgen eines Donnerstags, der wie alle Donnerstage schulfrei war, marschierten die beiden aus. Peter mit einem vielfach geflickten Leinensack und Koja mit einem alten Ledertäschchen, das ihm die Großmutter als Wandertasche über die Schulter gehängt hatte; darinnen waren Butterbrote und eine Flasche Kaffee. Als sie zum verlornen Vaterhause Kojas kamen, das Peter wohl kannte, lugte Koja unterm hohen Torbogen in den weitläufigen Hof. Da rief ihn ein fremdes Weib barsch an: »Was suchst denn da?« Die Stimme traf den Knaben wie ein Rutenhieb, er lief davon und zog seinen Kameraden am Ärmel nach die Lehne hinan.

Zwischen zahllosen Baumstümpfen, die von Riedgräsern, rot blühenden Weidenröslein und gelbem Besenginster umwuchert waren, kamen die beiden zu einer weiten Sandgrube, in deren fast weißem, grießfeinen Sand die Füße bis zu den Knöcheln einsanken. Stille war der Ort; die Mittagssonne brütete auf dem spärlich bewachsenen Grund. Einem tiefen Wagengleise nachgehend, kamen sie zu einer frischabgegrabenen Wand. Darunter sahen sie eine Menge Röhrenknochen und Knöchelchen auf einem Haufen beisammen, mitten darunter drei Totenschädel ohne Unterkiefer. An manchen Knochen hafteten weiße Brocken. »Das ist Kalk,« sagte Peter, indem er ein weißes Klümpchen zwischen den Fingern zerkrümelte. »Menschenknochen!« sprach er vor sich hin. Die Knaben standen staunend und ihre Augen irrten über die senkrechte Fläche der sandigen Wand, aus der einzelne Knochen in die Luft ragten. »Da! – Da! – Die sind aus dem Preußenkrieg,« vermutete Peter. »Die sind aus der Cholerazeit,« ließ sich eine tiefe Stimme hinter den Knaben vernehmen. Erschrocken drehten sie sich um; da sahen sie einen alten Mann in Bauerntracht hinter sich stehen, dem eine einläufige Flints von der Schulter hing. – Peter kannte ihn wohl, »Wann war das, Herr Heger?« fragte er. »Das war einige Jahre vor dem Preußenkrieg. Ich war damals Jungknecht da unten in dem Bauernhof, der mit seinen braunen Ziegeldächern mitten unter den Schindeldächern so groß herausschaut. Damals sind an der Cholera viel Leut gestorben.« »Cholera? was ist das?« fragte Koja dazwischen. »Eine böse Krankheit im Gedärm. Manchen hat's in zwei Tagen umgebracht. Da war kein Haus, aus dem nicht ein paar Leut herausgestorben wären; in unserm Hof bin nur ich übergeblieben und Vinzenz, der kleine Bub des Bauern, zehn Jahr war er damals alt. Heut ist er Wirt in Daschitz. Und da waren so viel Leichen und so wenig gesunde Leut zum Fuhrwerk und zur Arbeit, daß wir die Toten nur in seichte Gruben gelegt haben, mit Kalkmilch überschüttet und mit Sand gedeckt. – Ja. – Jetzt werden die Knochen auf den Kunietitzer Friedhof überführt.« Der alte Mann wandte sich zum Gehen. »B'hüt euch Gott, Kinder.« – Peter erwiderte seinen Gruß. Dem Koja aber schnürte etwas die Kehle zusammen. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Trotz seiner Jugend hatte er den Zusammenhang erfaßt. Er stand am Grabe seiner Großeltern väterlicherseits; und sein Vater hatte als kleiner Bub Mutter und Vater verloren. Nachdenklich nahm Koja einen Totenschädel auf; der war vielleicht von seiner Großmutter väterlicherseits. Stille legte er ihn zurück. – Ein Grauen, als hafte an dem gebleichten Gebein noch etwas von der mörderischen Krankheit, trieb ihn fort; Peter folgte ihm schweigend. Als sie aber in den wirklichen Wald kamen, wo das Himmelslicht durchs Gezweig der hohen Föhren auf die saftiggrünen Moospolster des Bodens niedersickerte, fiel die Wehmut von den Knaben; Peter, der als armer Bub gewohnt war, jedes Stück Holz, jeden Föhrenzapfen aufzuklauben und heimzutragen, begann morsches Reisig zu brechen. Er stopfte Holz und Zapfen in seinen Sack, den er über die Schulter warf. Ohne auf die Richtung zu achten, kamen sie zu der breiten Waldstraße, die von hellgelb leuchtendem Besenginster gesäumt war und schnurgerade emporführte zur Ruine Kunietitz. Sie, überquerten die Straße und stöberten weiter am Nordhang gegen Osten vordringend. So kamen sie auf einen alten Holzschlag, dessen Boden mit zahllosen Erdbeerstauden bedeckt war; da gab es mitten unter den weißen Blütensträußen schon einzelne halbreife Früchte. In einer seichten Bodenmulde trat eine stille Quelle zutage, die bald wieder im Sande versickerte. Sie war umwuchert von kriechendem Pfennigkraut, dessen hellgelbe Blüten mit dem zarten Blau der Vergißmeinnichtstauden gar lieblich zusammenstimmten. Hier bildeten üppige Brombeerbüsche dunkle Lauben; und hohe Stauden von Goldschopf, Dosten und Spierstauden waren umgaukelt von großen gelben, schwarzgepunkteten Schmetterlingen, deren Flügel auf der Unterseite grünsilberige Streifen hatten. In der Luft war ein Klingen vom fernen Grillengezirpe und ein Summen von ungezählten Bienen. Heiliger Friede ringsum.

Gegen die wieder sichtbar gewordene Burgruine zu stieg ein kahler Hügel an, von rotblühendem Heidekraut gesäumt und von ausgedehnten Rasenpolstern blühenden Thymians bedeckt. Der duftete gar würzig in der Sonnenwärme und lud zu wonnigem Rasten ein. Da lagerten sich die beiden Waldläufer, Koja teilte dem Peter und sich je ein Butterbrot zu und ließ den Kameraden aus der Kaffeeflasche trinken. Dabei schweiften ihre Blicke in die Runde, wenige Schritte vor sich gewahrten sie auf einem flechtenbewachsenen Felsbrocken eine graue Eidechse, die ihren Leib flach an den sonndurchwärmten Stein gedrückt hielt. Meisen und Ammern, die in den Baumwipfeln des tiefer liegenden Waldes zwitschernd ihr Wesen trieben, lenkten die Aufmerksamkeit der Knaben von der Eidechse ab. Zwischen den hohen Föhren aber zog sich ein breiter Schlag den Berg hinab, dessen Baumstrünke von schlanken Himmelbrandstauden mit lichtgelben Blüten überragt waren. Darüber hinaus war der Blick frei in die tief unten grünende Ebene, wo sich als silberig glänzendes Band die Elbe hinschlängelte, gesäumt von schmalen Baumbeständen und kleinen Ortschaften.

Peter wies in die flimmernde Ferne, wo Kirchtürme und Fabrikschlöte aus einem zarten Dunstschleier aufragten. »Dort liegt Königgrätz; und wenn die Luft sichtiger wäre, müßte man dahinter Berge sehen; immer höher und höher hinauf bis zum Riesengebirg, wo der Berggeist Rübezahl haust.« Schon öffnete Koja den Mund, um vom Kameraden vielleicht ein neues Märchen vom Rübezahl zu erfragen, als Peter ihn mit der Linken am Handgelenke faßte und mit der Rechten auf einen hoch über den Baumkronen kreisenden Vogel zeigte; der kam jetzt im Gleitflug näher, die langen schmalen Flügel regungslos ausgebreitet: »Ein Falk! Ein Falk!« Eine Kette Rebhühner schwirrte vom Feld unten heran, fiel ins Heidekraut ein und barg sich darin bis auf einen Nachzügler, der mit hastigen Schlägen seiner bereiten kurzen Flügel folgte. Schon hatte das Rebhuhn den Boden berührt, da stürzte der Falke mit zurückgelegten Schwingen auf sein Opfer nieder, breitete plötzlich über ihm die Flügel aus und schlug seine gestreckten Fänge in den Rücken des Huhnes. Gleichzeitig sprangen die Knaben auf und eilten schreiend dem Rebhuhn zu Hilfe. Da ließ der Räuber von seiner Beute und strich nach rechts hin ab; er flog auf das hochragende Gemäuer der Burgruine zu und verschwand in einer Mauerlücke des Turms. Mit gestreckten Beinen lag das Rebhuhn zuckend auf dem Boden und schlug mit dem Kopfe hin und her, während sich der Sand unter ihm vom rieselnden Blute färbte. Peter faßte es mit sicherem Griff unter den Flügeln und preßte ihm die Brust zusammen. Koja wollte ihm wehren. Das Huhn öffnete den Schnabel weit, daß die Zunge sichtbar wurde, streckte den Hals und rührte sich nicht mehr. »Je geschwinder es stirbt, desto besser,« sagte Peter und steckte die willkommene Beute zu den Föhrenzapfen und dem gesammelten Bruchholz in den Sack. Im Weitergehen wurde er immer fröhlicher, immer gesprächiger. Er freute sich, daß der Falke für ihn gejagt hatte und erzählte Koja, in alten Zeiten hätten die Ritter da droben auf der Burg zahme Falken gehalten, die für sie jagten.

Er schwatzte flüsternd fort und ließ seine Augen herumgehen, als gäb's jetzt und jetzt wieder irgendeine Beute mitzunehmen. Die Knaben überschritten den Kamm des Höhenzuges und gingen langsam den bewaldeten Hang hinunter heimzu. Manchmal brachen sie durch den lockeren Sandboden ein, der von Kaninchenbauten unterhöhlt war. Peter musterte jede Einschlupfröhre, ob sie befahren oder verlassen sei; er hatte das Jagdfieber. Er erzählte dem aufmerksam zuhorchenden Koja vom Ausgraben der Hamster in den Feldern, das er mit dem Vater zur Winterszeit an frostigen Tagen betrieb, wenn die Hamster schliefen. Da gab's nicht nur Fleisch und Fett, sondern auch Kornvorräte, die von den Hamstern zusammengetragen waren, ein Hühnerfutter, das nichts kostete. Die Hamsterfelle aber kaufte der Kürschner in Pardubitz und zahlte sie gut, weil es haltbare Winterbälge waren. So kamen die Knaben in eine verlassene Sandgrube, in deren fester Böschung Kaninchenlöcher waren; sie zählten deren sieben. Beim Näherkommen gewahrten sie ein sandfarbiges Kaninchen, das mit dem Kopfe in der Röhre stak, als wollte es gerade einschliefen. Peter ließ seinen Sack sachte zu Boden gleiten, drückte mit ausgestrecktem Arm gegen Kojas Brust, er solle Zurückbleiben, und schlich sich ganz leise an. Mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem achtete Koja auf jede Bewegung des Kameraden. Jetzt war er nur noch zwei Schritte vom Ziel, jetzt bloß einen, aber wenn das Kaninchen nur einen Ruck tat, war es ihm entschlüpft. Das schien indessen den Feind nicht zu hören. Da neigte sich Peter vor; mit einem Griff hatte er das Tier bei den Hinterläufen und riß es empor. Das Kaninchen rührte sich nicht, zappelte nicht. – »Das – ist – ja – tot!«–Peter mußte hell auflachen. Er wendete das Kaninchen hin und her und zeigte dem Kameraden das angetrocknete Blut im Felle der linken Rückenseite. »Das hat g'wiß ein Wilderer angeschossen, wohl in der Nacht; da ist es ihm entwischt und ist vor der Röhre eingegangen.« Er beroch es und ließ es in den Sack gleiten. »So ein Glück! Die Mutter wird eine Freud' haben. Die wird's in die Beiz legen wie einen Feldhasen und am nächsten Sonntag in einer langen, langen Soß auf den Tisch bringen mit Semmelknödeln.« Er schmatzte in der Vorfreude des Schmausens. Wenn Peter auch nur einen toten »Hasen« mit der Hand gefangen hatte, Koja konnte nicht umhin, ihn anzustaunen. Der Holzklauberbub aber hatte bei der Geschichte kein reines Gewissen. Er trachtete aus dem Walde hinauszukommen. Nach allen Seiten horchend, ob nicht etwa der Heger oder der Revierförster unterwegs sei, eilte er den Hang hinunter bis inmitten eines Jungholzes der Blick in die Ebene wieder frei wurde. Das war schon herüben, wo das Pardubitzer Schloß und der »Grüne Torturm« aus der Ebene grüßten. Hier ließ er aufatmend den Sack zu Boden gleiten, »Was bist denn so gerannt?« fragte Koja, »Pst, nicht so laut, die Jäger brauchen's nicht zu wissen, was ich im Sack hab'. Sie täten mir's wegnehmen.« – »So?« fragte Koja. Peter aber raunte ihm zu: »Sei doch still!« Sein scharfes Auge hatte schon wieder etwas erspäht, das ihn reizte. Er deutete mit der Hand nach einer Föhre am Waldrand jenseits des Jungholzes. Da gewahrte Koja auf dem untersten Ast ein dunkelbraunes Eichhörnchen, das ein Männchen machte und herüberspähte. Peter warf dem Kameraden den Sack über die Schulter und ging gegen den Baum vor: »Ich fang's!« – »Das gibt's doch nicht!« wendete Koja ungläubig ein. Das Eichhorn setzte sich in Bewegung. Es lief bis zum dünnen Ende des Astes und schwang sich in flachem Bogensprung zum Aste des Nachbarbaumes hinüber. Und so immer weiter den Hang abwärts, während die Knaben ihm folgten. Und wenn es auf einem Aste stillestand, brachte Peter es wieder in Bewegung, indem er mit einem aufgelesenen Stein an den Stamm schlug.

Einmal warf er darnach, traf aber daneben. Da wurden die Bewegungen des geängstigten Tieres immer hastiger. Außer Atem langten die Verfolger am unteren Waldrande an, wo schon die grüne Ebene hereinschimmerte. hier standen die Bäume einzeln und waren schwächer; das Eichhorn mußte lange Sprünge durch die Luft wagen, um die nächste Baumkrone zu erreichen. Wären nicht die Buben hinter ihm gewesen, es wäre sicher umgekehrt. Da, ein Sprung, und es landete in der mageren Krone einer kaum armdicken Birke; es lief bis zum äußersten Ende eines Zweiges, der sich unter seiner Last niederbog, und zögerte, ob es den weiten Sprung zum nächsten wagen oder umkehren sollte. Da erschütterte Peter mit beiden Handflächen das Stämmchen. Das Eichhorn fiel zu Boden. Ehe es sich zur Flucht aufraffte, war Peter schon dabei und bedeckte es mit seinem Filzhut.

Koja, der vom Jagdeifer des Kameraden mitgerissen war, stolperte über einen Baumstrunk und purzelte mit seinem Sack hin. Nun kroch er auf allen vieren zu Peter, der ihn mit triumphierendem Lächeln empfing: »Ich hab's!« Während er mit der Linken den Hut niederdrückte, schob er die Rechte unter dessen Rand. Da huschte das Eichhörnchen hervor. Peter aber erwischte es bei einem Hinterfuß. Mit ärgerlichem Pfauchen und Murren krümmte es sich zusammen und verbiß sich im Handgelenk des Angreifers so, daß er es mit einem gellenden Schmerzensschrei losließ. Die Buben sahen dem Hörnchen nicht nach, wohin es verschwand. Denn aus Peters Wunde schoß ein Blutstrahl hochauf wie ein Springborn. Es nützte nichts, daß er sich einen Ärmel vom Hemde riß und mit Kojas Hilfe um das Handgelenk wand; das Blut quoll unaufhörlich darunter hervor. Nach wenigen Schritten taumelte der verwundete und setzte sich ins Heidekraut. Koja kniete zu ihm hin und weinte laut in seiner Ratlosigkeit.

Da stand plötzlich wie aus dem Boden geschossen der Waldheger mit seinem braunen Jagdhund vor den Buben: »Wer hat da so geschrien?« – »Der Peter – ein Eichkatzel hat ihn gebissen.« – Der Jagdhund beschnupperte den Boden. Jetzt erst sah der Heger das rieselnde Blut. »Da muß eine Schlagader durch sein.« – Eilig nahm er das Zündhütchen vom Schloß seiner Flinte, ließ den Hahn niederschnappen und legte die Waffe ins Gras. Dann beugte er sich über den armen Peter, zog ihm die Jacke aus und knöpfte die Hosenträger los, die aus Hanfgurten bestanden. Damit umwand er den entblößten Unterarm oberhalb der Wunde und knotete den verband. Er schnitt einen daumendicken Pflock aus einem Eichenbusch und steckte den Pflock unterhalb des Knotens durch den Verband, unbekümmert um das Stöhnen des verwundeten. Dann drehte er ihn einmal herum, daß die Gurten straff angezogen wurden und band den Pflock der Länge nach an den Arm. Jetzt erst nahm er den ersten Verband ab. Die Wunde wurde sichtbar. Es waren zwei schmale Schnitte einander gegenüber, aus denen das Blut nur noch sickerte. Er holte aus der Westentasche einen Lappen Feuerschwamm, in den er seinen Stahlbügel und Feuerstein gewickelt hatte, riß davon die Hälfte ab, legte sie auf die Wunde und band sie mit der Rebschnur fest. Dann hob er Peter, der wie schläfrig zusammengeklinkt und ganz bleich geworden war, empor, setzte ihn sich auf den linken Oberarm, daß ihm dessen Kopf auf die Schulter zu liegen kam, warf den Holzsack hinter einen Busch und wandte sich zum Gehen. Dem Koja gab er den Befehl: »Du trägst mir die Flinte; die tät mich irren.« – Während der Heger auf einem Feldrain einem Fahrweg zustrebte, folgte ihm Koja; alle Angst um den Kameraden war von ihm gewichen. Er kam sich sehr wichtig vor und war so stolz wie noch nie in seinem Leben. Ein Traum des kleinen Gernegroß war in Erfüllung gegangen. Er trug nun eine richtige Flinte wie ein Jägersmann, und die war schwer, daß er unter ihrer Last bald zu schwitzen begann. Was hatte er heute alles erlebt! Seine kindliche Seele war voll der Ereignisse und er freute sich schon aufs Erzählen daheim, plötzlich wandte sich der Heger um. Er pfiff dem Hund, der schnuppernd beim Sack zurückgeblieben war. »was der Hund dort spüren mag?«

Vertrauensselig begann nun Koja dem freundlichen Alten zu erzählen, was Peter im Walde erbeutet hatte. Als der Heger die Geschichte vom Falken vernahm, sagte er verächtlich vor sich hin: »Unsereins tat kein Hendl essen, das ein Falk geschlagen hat; es gehört schon ihm! Die Leute in der Ziegelei sind nicht heikel.« – Anders äußerte er sich übers Kaninchen: »Eigentlich sollt' ich ihm's wegnehmen. Aber ich denk, der Jagdherr tät ihm's schenken, weil der Bub in der nächsten Zeit ein ordentliches Essen braucht. Er hat viel Blut verloren.« – Das Hetzen des Eichhorns erregte aber seinen Unwillen. Ein Lausbub ist er, der Peter! Gierig ist er aufs Wild, ein richtiger Wild-Fang! Kannst ihm's ausrichten, wenn er wieder zu sich Kommt. In den Wald darf er mir nimmer; wenn er größer wird, schon gar nimmer; er könnt' sich das Wildern angewöhnen.« – Da begann Peter, der nur matt aber nicht bewußtlos gewesen war und alles mit angehört hatte, zu wimmern: »Ich rühr' kein Wild mehr an, ich bitt...« – »Ah, du willst sagen, du hast heut genug gekriegt! – Flenn jetzt nicht; wir zwei reden ein andersmal darüber.« – Da verlegte sich Koja aufs Bitten: »Darf ich ihm den Sack nachbringen zu seinen Leuten?« – »Meinetwegen; er ist ja ein Verwundeter.«

Nach einer halben Stunde Weges langten die drei vor der Hütte des Besenbinders an, der, seine Pfeife zwischen den Zähnen, damit beschäftigt war, Birkenreiser in einem Trog einzuwässern, die ihm sein Weib zureichte. Der hatte kaum erfahren, was geschehen war, als er seinen Schubkarren aus dem Schuppen zog, den armen Peter draufsetzte und ihm Stroh unter den Nacken schob. Dann warf er sich das Scheibbandl über den Nacken. »Ich bring den Buben nach Pardubitz zum Doktor. Im Vorbeifahren sag ich seinen Leuten, was los ist.« – »Und nehmen S' ihnen gleich die Angst; wenn der Bub richtig verbunden wird und dann ein paar Wochen gutes Futter kriegt, wird ihm der Aderlaß nix machen. Daß der mir kein zweitesmal dem Wild nachgeht, des bin ich sicher.«

Koja winkte dem Gefährten nach, aber Peter dankte ihm nur mit einem schwachen Lächeln. Als der Heger seine Flinte wieder an sich genommen hatte, legte er die Rechte auf Kojas Schulter: »Richt' der Großmutter einen Gruß von mir aus; und ich laß ihr sagen, sie soll sich um einen anderen Kameraden umschaun für dich. Du könntest vom Peter mehr lernen als ihr lieb wär.« – Der Bub nickte. Dann setzte er sich in Trab, um den Eltern Peters den Sack zu bringen.

Als Koja in der Schmiede anlangte, bekam er zunächst von der Großmutter ein halbes Dutzend Rutenstreiche dafür, daß er so lange über Mittag ausgeblieben war, dann erst wurde das Essen für ihn gewärmt. Bei der späten Mahlzeit, die er mit Heißhunger verzehrte, vergaß er die Hiebe und kam ins Erzählen. Das Letzte zuerst, schilderte er alle Vorgänge, und hätte vielleicht auch des Hegers Warnung wiedergegeben. Aber die Großmutter kam ihm zuvor: »Merk' dir's, ich duld' es nimmer, daß du mit dem roten Peter herumstreichst. Der macht ja keinen Unterschied zwischen Mein und Dein.« – Als Koja den armen Kameraden heimlich besuchte, wußten seine Leute nicht, ob er am Leben bleiben werde. Und es war ihr Einziger. Sein bleiches Gesicht war noch flacher, seine Nase spitzer, seine Sommersprossen auffälliger, seine Lippen schmäler wie sonst. Viel Milch sollte er trinken, und sie waren doch nur arme Ziegelofenarbeiter. Das erzählte Koja der Großmutter, und sie zankte nicht, daß er den Kranken besucht hatte. Sie hatte Erbarmen mit dem Schlingel und schickte ihm von da an durch Koja täglich einen Topf Milch. – Und das half.

Ehe drei Wochen vergingen, war Peter so weit, daß er wieder zur Schule trabte.

Und nach einer weiteren Woche war er wieder ganz der Alte, zu dummen Streichen wieder aufgelegt wie vordem. Und schon freute er sich auf die Kirschenernte. Koja erbettelte bei der Großmutter die Erlaubnis, ihn zum Pflücken einzuladen, wenn die Schwarzkirschen reif würden.

»Meinetwegen,« entschied die Großmutter. »Was ganz oben hängt an den Wipfelzweigen, soll dafür ihm allein gehören, von uns käm' ja ohnedies niemand so hoch hinauf.«


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