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III.

Man rühmt den Hellblick der Liebe, welcher ein Moment genügt, um unter so vielen, die scheinbar alle dieselben Ansprüche an sie erheben können, mit untrüglicher Sicherheit das eine, unvergleichliche Wesen zu entdecken und eine Entscheidung für das Leben zu treffen. Aber auch in der Freundschaft müssen ähnliche geheimnisvolle Kräfte walten, oder die tiefe Innigkeit des Verhältnisses zwischen dem Oberst und mir von dem ersten Tage an, daß sein Auge mich, mein Auge ihn erblickt, wäre ein unerklärliches Phänomen. Hatte auf das empfängliche Gemüt des Knaben die ritterliche Erscheinung des Mannes in jener Stunde, als er zu dem Vater in die Werkstatt trat, einen unauslöschbaren Eindruck gemacht, so war umgekehrt wieder das Kind, das er dort hatte sitzen und mit wundernden Augen zu ihm aufblicken sehen, dem Manne sofort und für immer ans Herz gewachsen. An ein Herz, das zu jener Stunde von dem jähen Verlust des einzigen heißgeliebten Sohnes zerrissen war. Wie gern hätte er das fremde, das dem verlorenen so ähnlich sah, nie wieder von sich gelassen! Und hatte es nun doch lassen müssen, um ein anderes vereinsamtes, liebebedürftiges Herz nicht jäh zu zerreißen, welches noch dazu – was für den Zartsinnigen schwer ins Gewicht fiel – in der Brust eines armen Mannes schlug, der auch wohl kaum Hilfsquellen des Geistes besaß, aus denen er Trost und Beruhigung hätte schöpfen können.

So war er still-bescheiden in seine Einsamkeit zurückgekehrt; aber das Bild des fremden Kindes, welches ihm doch wie sein eigenes war, hatte ihn begleitet. Oft und oft hatte er sich gefragt: wie mag es sich entwickelt haben? was mag aus ihm geworden sein? aber er hatte sich nicht, was er ja leicht gekonnt, selbst davon überzeugen mögen: er hatte seinem Herzen nicht getraut. Und dann der Schmerz, wenn es nicht gehalten hätte, was es versprach; dem Suchenden ein roher, ungefüger Knabe entgegengetreten und die schöne Illusion, die er schon nicht mehr entbehren mochte, für immer verloren gewesen wäre! Da sollte ich ihm nun doch wieder begegnen, ganz der, wie ihn seine Phantasie ausgebildet hatte: das Ebenbild der erhöhten Traumgestalt seines verstorbenen Sohnes. Und abermals hatte er den Kampf durchkämpfen müssen zwischen seiner Sehnsucht nach Kinderliebe und der Achtung fremden Herzenbesitzes und hatte sich abermals überwunden, diesmal insofern leichter, als er in einen Krieg zog, aus dem er nicht wieder zurückzukehren glaubte. War doch sein ganzes Soldatentum eine einzige lange Vorbereitung für diesen Krieg, und wäre doch der Tod in dem Entscheidungskampfe für ihn die Erfüllung seines Lebens gewesen! Es hatte nicht sein sollen; es hatten ihm die Bitternisse nicht erspart werden sollen, die ihm jetzt von denen zu kosten gegeben wurden, welche in ihm einen Abtrünnigen sahen, weil er die Aufgaben des Staates anders auffaßte, als sie.

Nun war er wieder in der Heimat, in seiner alten Garnison, und seine ersten Erkundigungen hatten mir gegolten. Aber ich war verschollen und blieb für ihn verschollen. Von meinem kurzen Aufenthalte am herzoglichen Hofe hatte er erst viel später, als er nach Berlin und in das Kriegsministerium versetzt wurde, durch den Kammerherrn gehört; auch bei der Gelegenheit gewisse Andeutungen, denen er nur ein halbes Ohr geschenkt, da er die böse Zunge des Mannes kannte und wußte, daß dieselbe nie böser war, als wenn sie auf den Herzog zu sprechen kam. Und endlich, nachdem er die Hoffnung, mich je wieder zu sehen, vernünftigerweise längst hätte aufgeben müssen und sie trotzdem im stillen Herzen weiter und weiter gehegt hatte, die Erfüllung seiner Sehnsucht über das denkbare Maß hinaus. Wie hätte er auch denken können, daß die Aehnlichkeit des fremden Kindes mit seinem verstorbenen Kinde mehr sei, als ein Spiel des Zufalls? daß es kein fremdes, daß es von seinem Stamme war, und der Gleichklang der Seelen aus den innersten geheimnisvollen Tiefen der Natur herauszutönen schien?

Ob ich Dich freilich ohne das minder lieb haben würde, ist mir sehr zweifelhaft, sagte er. Du würdest darum doch nicht weniger mein Sohn sein. Aber es ist mir ganz recht so. Wenn es dem Sohn – was Gott verhüten wolle – einmal einfallen sollte, dem Vater die Liebe zu kündigen, den Onkel wird der Neffe immer respektieren müssen.

Ach, er hatte leicht dazu zu lächeln! Er wußte, daß ich ihm die Liebe niemals kündigen würde!

Wir waren übereingekommen, daß unser verwandtschaftliches Verhältnis der übrigen Familie gegenüber Geheimnis bleiben solle. Hatte sich meine Mutter von mir losgesagt, so meinte auch er, würde es mir nicht anstehen, eine Verwandtschaft geltend zu machen, zu der ich mich nicht bekennen konnte, ohne die Mutter, falls sie je nach Europa zurückkehrte, bloßzustellen. Hier wäre nur der eine Ausweg gewesen – eben der, welchen Adele im Auge hatte – daß meine Mutter sich zu mir bekannte. Und ich weiß nicht, sagte der Oberst, – ganz abgesehen davon, daß ich es für unmöglich halte, da ja zu dem Zweck in Deiner Mutter eine völlige Umwandlung vor sich gehen müßte – ob wir es auch in Deinem Interesse wünschen dürfen. Wäre es denkbar, daß Dir Deine Mutter ihr Herz zurückbrächte, nun, wie eifersüchtig ich auch auf Deine Liebe bin, ich würde es mit Freuden begrüßen, denn die Natur wäre dann wieder zu ihrem heiligen Rechte gekommen, und ein unauslöschbares Sehnen Deines Herzens gestillt. Aber ein Schritt weiter – der Schritt in die Oeffentlichkeit – würde sie und Dich in ein unabsehbares Wirrsal stürzen. Dann müßte alles zur Sprache kommen, wofür die Welt keine andere hat, als eine, die für den Besprochenen peinlich, kränkend und beleidigend ist. Ich weiß, Deine Schwester denkt darüber anders; nur fürchte ich, durch die Publizität, welche ihr Verhältnis zu dem Herzog bereits erlangt hatte, ist ihre sonst so zarte Empfindung gerade in diesem Punkte etwas beeinträchtigt. Ich wünsche, daß Du bleibst, was Du bist: der einfache Lothar Lorenz, des obskuren Handwerkers Adoptivsohn, der über das Gemunkel seiner wahren Abstammung väterlicherseits ruhig sein Haupt erheben kann, da keiner wagen wird, ihm ins Gesicht zu sagen, wozu er sich selbst weder direkt noch indirekt bekennt. In einer Zeit, wie die unsre, in der sich alle Bande lockern, die sonst die Welt zusammenhielten, alles nach Umformung und Neugestaltung drängt, hat auch die Blutsverwandtschaft einen guten Teil des Wertes, den sie früher hatte, an die Wahlverwandtschaft abtreten müssen. Das Gewicht meiner ganzen anderen Verwandtschaft schnellt in die Luft, wenn ich in die andere Wagschale meine Liebe zu Dir lege, den ich liebe, nicht weil er, sondern, ich möchte fast sagen: trotzdem er mein Verwandter ist.

Das war und klang herber, als es wohl sonst aus diesem wohlwollenden Herzen, von diesen milden Lippen kam und deutete auf eine Tiefe in seiner Seele, in die er selbst mich noch nicht hatte blicken lassen, und auf die Quelle des Kummers, die da sickerte, Tropfen um Tropfen, wie das Blut aus einer tiefen, tödlichen Wunde rinnt.

Und ich glaubte, die Kummerquelle doch zu kennen; vielmehr, ich kannte sie. Es konnte kein Zufall, es konnte nur das Siegel auf dem Grabe einer Hoffnung sein, die einst zauberreich für ihn geblüht und geduftet hatte und jetzt verwelkt und gestorben war: daß er nie von seiner Tochter, daß er nie von Ellinor sprach.

Da mag es denn nicht wunder nehmen, wenn ich selbst noch nicht wieder von ihr gesprochen habe, trotzdem das Gedenken an sie mich nie verließ, ihr Bild mich immer umschwebte, wie ich es auch zu bannen suchte, indem ich eifrig meinen neuen Pflichten oblag und ebenso die Freundschaft der lieben Menschen pflegte, welche auf so wunderbare Weise nun wieder in den Kreis meines Lebens getreten waren: Adeles und ihres Gatten, Adalberts, Marias. Ich sah sie alle jetzt oft und – wenigstens die ersten drei – meistens in dem Hause des Oberst, wo sie sich an Abenden versammelten, zu denen ein anderer keinen Zutritt hatte. Natürlich kannte der Oberst die Geschichte des Grafen (der übrigens für die Dienerschaft Kapitän Smith blieb) und ebenso Adalberts politische Stellung. Er war sich der Verantwortung, die er mit einem für ihn verpönten Umgange auf sich nahm, voll bewußt; aber das tiefe, fast leidenschaftliche Interesse, welches ihm die beiden, jeder in seiner Weise merkwürdigen Männer einflößten; die persönliche Teilnahme an dem Gatten meiner Schwester; die Erinnerung der innigen Freundschaft, welche ihn einst mit Adalberts Vater verbunden hatte, überwogen jede andere Rücksicht, von der er ohnehin überzeugt war, daß er sie nicht lange mehr werde zu nehmen brauchen. Auch machten ihm der Graf und Adalbert seine militärische Pflichtverletzung leicht, indem sie das Eingehen auf gewisse, noch bestehende Differenzen mit einer Geflissentlichkeit vermieden, die mir oft zu weit getrieben, ja als pure Heuchelei erschien und als ein Spiel, in welchem zwar der Oberst mit offenen, sie aber mit verdeckten Karten spielten. Ich sagte es Adalbert auf den Kopf zu und daß ich dem Oberst meine Entdeckung hinsichtlich der Autorschaft jener famosen Broschüre mitteilen würde. – Beruhige Dich, sagte Adalbert. Einmal sollte es mich wundern, wenn ein so kluger Mann nicht schon von selbst dahinter kommen sollte; und zweitens gebe ich Dir mein Wort, daß ich ihm binnen kurzem das durchsichtige Geheimnis selbst enthüllen werde. Uebrigens, lieber Freund, verzeihe mir die Bemerkung, daß ich Deine Haltung in der Sache nicht verstehe, oder doch nur verstehen würde, wenn Du gegen uns wärest. Bist Du aber für uns, wie ich doch annehmen muß, nun: für die gute Sache ist das beste eben gerade gut genug, unter anderm der Oberst, der allerdings der besten einer ist. Auch ist das Opfer, das er uns jetzt bringt, nicht groß: sein Fall ist besiegelt; wir schöpfen aus absolut sicheren Quellen. Restierte also nur das dritte, daß Du für und gegen uns wärest – zu gleicher Zeit! Aber ich denke, dergleichen überlassen wir den Frauen mit ihren auf die Schaukelbewegung eingerichteten Köpfen und Herzen. Deiner Schwester und, ich glaube, beim Himmel, auch Marias Segen hast Du, wenn Du ein Revolutionär und ein Vogtriz in einer Person sein willst, meinen nicht. Und, was ich sagen wollte: hast Du etwas an Deinen Bruder auszurichten; ich komme heute in seine Gegend.

Ich hatte nichts an Otto auszurichten. Seine Verhältnisse waren schon längst durch die Freigebigkeit des Oberst und mit Adalberts Hilfe, der die verwickelte Sache in seine feste Hand genommen, völlig geordnet, und es war Fürsorge getroffen, daß sie so leicht nicht wieder in Unordnung kamen. Der gefährlichen Nachbarschaft des Trau-schau-wem-Mannes entrückt, wohnte er jetzt im Osten der Stadt in gesunder und auch für sein Geschäft viel günstigerer Gegend. Er hatte hinreichend zu thun für sich und für einen neuen Gesellen. Die Kinder gediehen; seine Frau hatte in der neuen Thätigkeit die letzten harten Schicksalsschläge schneller überwunden, als ich es für möglich gehalten; und legte auch sonst eine ihr früher ganz fremde freudige Zuversicht an den Tag, von der sie behauptete, daß sie dieselbe einzig und allein mir verdanke. – Ich durfte also mit den Zuständen dort völlig zufrieden sein, und wenn Otto es nicht war und zu seufzen fortfuhr, so konnte dem Aermsten, der sich selbst nicht zu helfen wußte, eben kein Gott helfen, geschweige denn ein Mensch.

Ich aber suchte mir zu helfen von der Not, in die mein Herz verstrickt war und sich immer tiefer zu verstricken schien trotz der verzweifelnden Anstrengungen, die ich machte, es zu lösen. Mit einer Art von Wut warf ich mich in Studien, die mir sonst recht fern gelegen hatten, und deren Resultat auch nur dem Oberst zu gute kommen sollte. – Ich muß mich auf die Zukunft eines alten a. D. vorbereiten, sagte er; und so hatte er eine Arbeit, die er bereits vor Jahren begonnen, wieder aufgenommen: eine militärisch-kritische Darstellung der Feldzüge Hannibals, den er für den größten aller Strategen erklärte, welche jemals gelebt hätten – den ersten Napoleon nicht ausgenommen. Da galt es nun in alten und neuen Quellen nachzuforschen, Exzerpte zu machen, die verschiedenen bereits vorhandenen Darstellungen auf ihre Brauchbarkeit hin zu prüfen, zu vergleichen; und ich war stolz, mein Latein und Griechisch nicht vergessen zu haben und überglücklich, als mich mein Lehrer und Meister versicherte, daß ich, wenn es mit der Poesie, wie ich behaupte, nimmer gehen wolle, das Zeug zu einem leidlichen Gelehrten in mir habe. Er war ein wirklicher Gelehrter; und indem ich die unendliche Fülle seines Wissens in den verschiedensten Disziplinen, seinen Scharf- und Tiefblick, die plastische Kraft seiner Phantasie, seine geniale Kombinationsgabe von Tag zu Tag mehr bewundern lernte, wurde es mir immer klarer, wie dieser scheinbar so konservative Geist sich auf die Dauer in den engen Kreis der militärischen Fachwissenschaft nicht hatte bannen lassen und die Schranke des Autoritätsglaubens überspringen mußte.

Es waren meine schönsten Stunden, wenn ich ihm des Abends bei dem Schein der zwei großen Lampen mit den grünen Schirmen an dem mächtigen Arbeitstisch in seinem Studierzimmer gegenübersaß, jezuweilen von meiner Schreiberei oder Lektüre zu ihm hinüber blickend, nur, um mich an der herrlichen Klarheit seiner Stirn zu erquicken, aus dem gesammelten Ernst seiner klassisch schönen Züge neue Freudigkeit für meine Arbeit zu schöpfen.

Die liebe alte Jugendzeit schien dann zurückgekehrt. War es doch wieder eine Werkstatt, in der mich alles wundersam anheimelte, und ich unter Anleitung des Meisters und mit seinem freundlichen Zuspruch schüchterne Versuche in seinem Metier machte, nur daß der Meister keine Särge baute, in die er seine toten Künstlerentwürfe legte, sondern Gedankenpaläste, durch deren weite Marmorhallen die Geister der Jahrhunderte majestätischen Schrittes wandelten.

Aber auf wie verschiedenen Höhen menschlichen Wissens ich diese beiden auch sah – den einen wie auf Geierflügeln über der Breite des Lebens schwebend, in das der andere nur aus seinem Lerchennest wundernde Blicke hatte werfen können; den einen mit Feuerdrachen kämpfend auf demselben Plan, welcher dem anderen nur eine blumige Wiese gewesen, – in einem glichen sie sich doch: in der keuschen Reinheit ihrer Herzen, die, wie das Gletschereis alles wüste Gestein und Geröll ausscheidet, so jeden niedrigen Gedanken, jede gemeine Regung fern von sich wies.

Und noch in einem anderen.

Daß sich jezuweilen, ohne daß sie sich dessen bewußt wurden, ihr Auge verdüsterte und ihre Stirn umwölkte bei dem Gedanken eines Teuersten, das lebte, nur nicht für sie. Und wenn dem einen dieses Teuerste, Lebendig-Tote eine Gattin gewesen, dem anderen eine Tochter war – ein Herz, das verlieren und dem Verlorenen nachtrauern kann, hat der Mensch doch nur, und die Größe des Verlustes ist allein zu messen an der Leidensfähigkeit des Herzens.

Diese beiden aber konnten leiden, wie sie lieben konnten – grenzenlos.


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