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Zehntes Kapitel.
Überfall

Als Ferris Mance eines Morgens aufwachte, war er noch der einfache Ferris Mance mit ungefähr hundert Freunden und Bekannten aus seinem Geschäft, aber als die Sonne an diesem Tage unterging, prangte sein Name in den Schlagzeilen der Zeitungen und flog auf den Drähten weit und breit durchs Land.

Alle vierzehn Tage Freitags ließ die Plutarch Transportgesellschaft eine Summe von ungefähr 5000 Pfund von der Bank holen. Zwei Angestellte holten die Summe im Auto, und ein bewaffneter Detektiv der Firma begleitete sie. Sie wurden durch einen Seiteneingang der Bank eingelassen, denn es war noch eine halbe Stunde vor Beginn der Kassenstunden, doch die Gesellschaft hatte mit der Bank ein Abkommen getroffen, wonach sie am Zahltag ihr Geld am frühen Morgen bekommen konnte.

Die Summe wurde in Gegenwart der beiden Zähler, der zwei Angestellten und des Hausdetektivs ausgezahlt, dann kehrten die Männer in das wartende Auto zurück, zwischen sich eine lederne Tasche mit zwei Griffen, die das Geld enthielt.

Als die Männer an dem fraglichen Tage in das Gebäude der Plutarch Transportgesellschaft zurückkehrten, reichten sie Ferris Mance, der die Kasse verwaltete, die Tasche über den Hauptzahltisch hinüber. Er faßte gerade die Handgriffe und wollte seinen Kollegen rufen, der ihm helfen sollte, die Tasche herüber zu heben, als plötzlich ein Mann hereinstürzte, ihm eine Handvoll Pfeffer in die Augen warf und die schwere Tasche vom Zahltisch herunterriß.

Ferris Mance strauchelte zurück, die Hände vor den Augen. Es vergingen einige Sekunden, bevor er wieder sehen und ein paar Worte stammeln konnte.

Es war ein zweiter Mann hinzugekommen, beide hatten die Tasche schnell zwischen sich genommen und waren durch die Drehtür des Gebäudes entkommen. Die Korridore waren um diese Zeit ganz leer. Den erstaunten Wächter hatten sie beiseite gestoßen.

Ferris Mance, der noch halb blind war, sprang über den Tisch, als sich die Tür hinter den beiden schloß, rannte den Korridor entlang und schrie: »Haltet den Dieb!«

Das große Gebäude wurde lebendig, von allen Seiten kamen Angestellte herbei, aber kostbare Sekunden waren verloren, und die beiden Diebe hatten schon die Straße erreicht.

Draußen sprangen sie in ein gelbes Auto, das sofort mit großer Geschwindigkeit davonschoß. Mance erreichte die Straße gerade noch zur rechten Zeit, um die Richtung zu sehen, die es einschlug. Das Auto, mit dem die Angestellten von der Bank gekommen waren, stand noch vor dem Hause, wie sich aber später herausstellte, war der Schofför in einen Zigarettenladen auf der anderen Seite der Straße gegangen, er kam gerade heraus, als Ferris Mance ohne Hut in den Wagen sprang. Der Schofför kam über die Straße gelaufen.

»Folgen Sie dem gelben Wagen,« rief Mance ihm zu, »sie haben das Geld geraubt!«

Glücklicherweise lief der Motor noch, und der Schofför verlor keine Zeit mit unnötigen Fragen. Der gelbe Wagen hatte jedoch einen großen Vorsprung und war in diesem Augenblick kaum noch sichtbar.

»Lassen Sie den Wagen laufen,« rief Ferris Mance, als der Schofför nach der Kupplung griff, »kümmern Sie sich um nichts, das werden wir für Sie nachher schon regeln!«

»Nun gut,« sagte der Mann und freute sich, daß er zeigen konnte, was sein Wagen leiste, wenn er sich nicht um die Vorschriften zu kümmern brauchte. Er sauste die Straße entlang wie eine Rakete. Sofort kam der gelbe Wagen näher, außerdem schien ihm eine Verkehrsampel aufzuhalten.

»Wir bekommen sie,« rief Ferris Mance. Als sie näher herankamen, war der Wagen für einen Augenblick im Gewirr des Verkehrs verschwunden. Aber sie fanden ihn bald wieder, wie er in mäßigem Tempo dahinfuhr. Das kam ihnen beiden sehr sonderbar vor. Die beiden Insassen schienen es mit der Flucht nicht sehr eilig zu haben.

Beim nächsten Verkehrsabschnitt hatten sie die Ausreißer eingeholt, und der Schofför fuhr dicht an den gelben Wagen heran.

Zu ihrer Überraschung war außer dem Fahrer niemand in dem Wagen, dieser machte auf den Anruf Ferris Mances ein erstauntes Gesicht.

»Wo haben Sie die Männer abgesetzt, die mit Ihnen fuhren?« fragte Mance ohne lange Einleitung.

»Wer sind Sie denn eigentlich, und was wollen Sie?« antwortete der entrüstete Fahrer des gelben Wagens.

Ferris Mance erzählte ihm so kurz wie möglich, was passiert sei.

»Nun, das ist eine andere Sache,« sagte der Mann, »ein langer gelber Wagen? So sieht meiner ja aus. Aber mit mir ist niemand gefahren. Haben Sie sich nicht die Nummer gemerkt?«

Ferris Mance schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte er mutlos.

»Das ist schade, es hätte die Sache erleichtert. Wir stören hier den Verkehr, dort kommt schon der Polizist. Am besten, Sie erzählen es ihm. Ich möchte nicht gern in die Geschichte verwickelt werden, wenn es irgend möglich ist. Ich meine,« setzte er hastig hinzu, »ich möchte nicht in den Verdacht kommen, hier meine Hand im Spiele zu haben; denn was Sie sagen das stimmt nicht.«

Auf den hutlosen, gestikulierenden Ferris Mance aufmerksam geworden, kam der Polizist, um sich zu erkundigen, was passiert sei. Die Wagen wurden aus dem Verkehr herausgenommen, und Ferris erzählte kurz seine Geschichte.

»Ich heiße Comstock,« antwortete der Mann in dem gelben Wagen auf eine Frage, »der Wagen gehört mir, aber ich vermiete ihn sehr oft.« Er gab seine Adresse an, und der Polizist notierte sie.

»Alles andere können Sie auf dem Revier feststellen, wenn Sie es wünschen,« sagte Comstock, »Sie haben ja meine Adresse und meinen Ausweis, und hier ist der Wagen, der Ihnen beweist, daß ich die Wahrheit spreche. Wünschen Sie sonst noch etwas von mir?«

Ferris Mance fragte: »Wo kommen Sie her, und wo fahren Sie hin?«

»Ich komme aus der Garage, wo mein Wagen ungefähr eine Stunde gestanden hat,« erklärte Comstock bereitwillig, »und ich fahre zu meinem Freunde nach Chalk Farm.«

»Ich fürchte, Mr. Comstock, Ihr Freund wird etwas warten müssen,« sagte der Polizist verbindlich.

»Das ist alles in Ordnung,« unterbrach Ferris Mance den Polizisten ungeduldig, »ich bin vollkommen davon überzeugt, daß Mr. Comstock die Wahrheit spricht. Meinetwegen brauchen Sie ihn nicht aufhalten. Aber ich möchte vorher noch eine Frage stellen.«

Er wandte sich an Comstock: »Haben Sie vielleicht während der Fahrt einen gelben Wagen gesehen, der dem Ihren ähnlich war?«

Comstock dachte nach. »Ich kann es nicht beschwören,« antwortete er, »aber mir ist so, als ob ein Wagen, der meinem ähnlich war, vor mir fuhr und in die Oxford Street einbog. – Es kann aber auch sein, daß ich mich irre. Sie sahen ja, ich kam –.« Er beschrieb den Weg von der Garage bis zu der Stelle, wo Ferris Mance ihn angehalten hatte. Am Schluß nickte Ferris und wandte sich an den Polizisten. »Ich halte es für das beste, daß ich ins Büro zurückkehre und höre, was sie dort sagen. Vielleicht würden Sie auch besser mitkommen.«

»Ja, es ist vielleicht besser, Mr. Mance,« sagte der Polizist. Ein Kollege, der gerade herankam, übernahm den Posten.

Er sah unschlüssig auf Comstock, und Ferris Mance glaubte, seinen Blick richtig zu deuten.

»Oh, mit Mr. Comstock ist alles in Ordnung,« sagte er, »ich bin vollkommen zufrieden.«

»Ich nicht,« sagte der Polizist. »Wenigstens,« setzte er schnell hinzu, »wenn nachher etwas nicht stimmt und ich ihn gehen lasse, habe ich Unannehmlichkeiten.« Comstock selbst rettete die Situation. »Machen Sie sich um mich keine Sorge,« sagte er freundlich, »ich komme gern mit Ihnen zurück und werde alles tun, um zu beweisen, daß ich nicht der Gesuchte bin und daß es sich nicht um meinen gelben Wagen handelt.«

»Ich danke Ihnen,« sagte Ferris Mance warm; denn das Anerbieten des andern hatte ihn aus einer unangenehmen Situation gerettet.

Mit Comstocks Wagen vor ihnen, bahnten sie sich einen Weg durch den Verkehr zurück nach dem Gebäude der Plutarch Transportgesellschaft.

»Ich freue mich, daß wir ihn nicht gehen ließen,« sagte der Polizist während der Fahrt.

»Oh, ich denke, er hat nichts damit zu tun. Haben Sie jemals Pfeffer in den Augen gehabt?«

»Nein, ich sehne mich auch nicht danach.«

Ferris Mance lachte. »Es ist auch nicht sehr angenehm. Wenn man die ganze Sache betrachtet, sieht es aus, als ob alles von Anfang bis zu Ende wohl überlegt war. Die Räuber kannten ganz genau die Zeit, wo das Geld von der Bank kommt. Sie raubten die Tasche in dem Augenblick, als sie mir übergeben werden sollte und ich sie noch nicht an mich genommen hatte. Die Angestellten waren in ihren Raum gegangen, und ich hatte mich umgewandt, um meinen Kollegen zu rufen, als sie mir den Pfeffer in die Augen streuten. Das hatte doppelten Zweck: für den Augenblick war ich erledigt, und außerdem konnte ich nun meine Angreifer auch nicht erkennen.«

»Ich finde es sehr leichtsinnig, daß Sie mit den Augen voll Pfeffer die Verfolgung aufnahmen. Die Augen sehen noch ganz böse aus.«

»Ich glaube, ich habe gar nicht die ganze Ladung bekommen. Das meiste fiel mir auf den Rock.«

Dabei schüttelte er eine Wolke ab, so daß der Polizist heftig niesen mußte.

Im Hause der Plutarch Transportgesellschaft wurde durch Mances Ankunft die Verwirrung durchaus nicht beseitigt. Sein Vorgesetzter lief in großer Aufregung umher und suchte jemand zu finden, der ihm den genauen Hergang erzählen konnte. Er atmete erleichtert auf, als er seinen Untergebenen erblickte, und überhäufte ihn mit Fragen.

Mance erzählte ihm genau, was sich ereignet hatte.

»Und die Räuber sind entkommen?«

»Ich fürchte, ja,« sagte der andere, »haben Sie übrigens die Polizei benachrichtigt? Ich habe zwar einen Polizisten hier, aber ich glaube, daß ist ein Fall für Scotland Yard. Je eher sie benachrichtigt werden, desto besser.«

»Das ist bereits geschehen,« sagte Hume, »sie haben versprochen, sofort einen Mann zu schicken.«

»Gut. Sah jemand die Räuber genauer?«

»Sie scheinen nicht früher bemerkt worden zu sein, als bis sie mit der Tasche hinausrannten, und dann sah man nur ihren Rücken. Selbst der Pförtner hat sie nur flüchtig gesehen. Einer der Angestellten hat den Eindruck gehabt, daß es zwei große Männer waren, doch ein anderer versichert, daß der eine klein und kräftig und der andere etwas über Mittelgröße gewesen sei. Was können wir also tun? Welchen Wert haben derartige Beschreibungen, kann man daraufhin etwas unternehmen?«

»Nicht den geringsten Wert,« nickte Mance zustimmend, »und ich glaube, wir werden einen Ansturm von Reportern zu bewältigen haben.«

»Sagen Sie ihnen gar nichts,« meinte Mr. Hume ärgerlich.

Ferris Mance schüttelte den Kopf. »Das wäre ganz verkehrt,« sagte er ruhig, »geben Sie ihnen alle Einzelheiten! Es kann nichts schaden, aber oft kann es zum Vorteil sein. Eine Hand wäscht die andere. Sie können nicht wissen, wann Sie sie einmal brauchen.«

Detektiv Pagson von Scotland Yard kam und betrachtete in sachkundiger Art den Schauplatz. Er stellte schnell und geschickt seine Fragen.

»Tatsache ist,« sagte er, »daß mir niemand die Räuber beschreiben kann. Der einzige Anhaltspunkt ist der gelbe Wagen, den Sie sahen. Doch geben Sie mir Zeit, und mit der nötigen Geduld werde ich das Rätsel schon lösen!«

»Was denken Sie denn über den Fall?« fragte Mance interessiert.

Detektiv Pagson kniff die Augen zusammen, bevor er antwortete.

»Ich bin überzeugt, daß ein Angestellter dahintersteckt,« sagte er offen.

Ferris Mance nickte: »Ich freue mich, daß das Ihre Meinung ist, ich glaube es auch. Wer den Plan ausarbeitete, wußte genau mit allen Gepflogenheiten Bescheid.«


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