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Die Familie van Este und ihre Schicksale.

Auf dem Kastell Baumhove bei Gent in Flandern wohnte seit seiner Verheiratung der junge Kavalier Peter van Este, ein braver Junker, der mit seiner Gemahlin, einer Flamländerin aus dem alten Geschlechte der van der Werre, ein glückliches Leben führte. Peter, ein erfahrener Kriegsmann, hatte sich aber seit mehreren Jahren an keinem Feldzuge mehr beteiligt; obschon überall der Krieg tobte, widmete er sich nur der Bewirtschaftung seiner Güter. Er war ein wohlwollender Herr und sorgte für die ihm zinspflichtigen Bauern wie ein Vater, weshalb er auch bei Alt und Jung beliebt war; ebenso seine Gemahlin, die tugendhafte Agnes, welche eine rechte Freundin und Ratgeberin der Armen und Kranken war, die sie selbst in ihren Hütten aufsuchte und für deren Bedürfnisse sie in liebevollster Weise sorgte. Zwei Kinder, Peter, ein munterer und aufgeweckter Knabe von 12 Jahren, und ein allerliebstes sechsjähriges Mädchen, namens Maria, waren das Glück und die Freude der Eltern. Peter van Este war ein stattlicher Mann von 35 Jahren, seine Gemahlin um zwei Jahre jünger. Er war lebhaften, feurigen Temperaments, dabei kühn und edel. Sie eine ernste sittsame Frau, voller Milde und Herzensgüte. Sie liebte nur ihre stille Häuslichkeit und widmete sich neben der Führung des Haushaltes ausschließlich der Erziehung ihrer Kinder.

Es war an einem Abend im November des Jahres 1632, als die Familie im Wohnzimmer beisammen saß. Peter erzählte den Kindern Märchen, und beide lauschten mit gespannter Aufmerksamkeit. Frau Agnes spann ihren Flachs, und der Kachelofen verbreitete eine angenehme Wärme in dem behaglich eingerichteten und reich mit Jagdtrophäen ausgeschmückten Zimmer. Indem der kleine Peter von der Stuhllehne, die er erklettert hatte, herabrutschte, sagte er:

»Aber, Vater, es ist doch merkwürdig, wenn die verzauberten Prinzessinnen von einem Königssohn befreit werden, heiraten sie sich, und dann sind die schönen Stückchen aus!«

Die Eltern mußten über den Einfall des Knaben lachen, und der Vater gab zur Antwort: »Ja, das ist eine dumme Sache mit diesen Prinzessinnen: Sobald der Zauber gebrochen ist, haben sie nichts Eiligeres zu tun als zu heiraten und so der schönsten Geschichte ein Ende zu machen!«

»Vater,« bat der lebhafte Junge, du wolltest uns ja auch von dem bösen Lindwurm erzählen, der das Land verheerte und nicht bezwungen werden konnte. Erzähle das noch, bevor wir schlafen gehen.«

»Nein, Väterchen,« schmeichelte die Kleine, »erzähle uns von dem Miekchen Miekchen. Niederländische Bezeichnung für Mariechen., welches in ein Täubchen verzaubert war.«

»Vater, das tue nicht,« bat Peter. »Das haben wir ja schon so oft gehört; vom Lindwurm erzähle, das ist schöner!«

»Hört Kinder,« sagte der Vater, »heute wollen wir vom Lindwurm erzählen und morgen vom Täubchen; dann geht ihr schlafen, nicht wahr, Mariechen?«

Diese war's zufrieden und der Vater begann:

»Vor vielen, vielen Jahren wohnte in einer großen Höhle bei Breda ein Drache oder Lindwurm. Dieser holte jedes Jahr zu einer bestimmten Zeit aus Breda eine Jungfrau, die, mit einem weißen Kleid angetan, sich auf den Markt hinstellen mußte. Unter den Jungfrauen wurde gelost, und diejenige, welche das unglückliche Los zog, wurde geopfert. Bekam der Lindwurm sein Opfer nicht, so spie er Feuer und steckte die ganze Stadt in Brand Ein flämisches Volksmärchen.. Schon viele Jahre hatte der Drache sich sein Opfer auf dem Markte geholt und war dann auf und davon geflogen. Von den fortgeholten Jungfrauen sah und hörte man nie mehr etwas. Nun war wieder einmal die Zeit gekommen, wo gelost werden mußte. Das Los fiel diesmal auf die Tochter einer armen Wäscherin, ein braves Mädchen namens Else. Diese sollte nun in demselben Jahre mit einem jungen Waffenschmied aus Breda vermählt werden. Mutter und Tochter zerflossen in Tränen, und der Bräutigam hätte die ganze Welt zerreißen mögen, um seine liebe Braut vor dem sichern Tode zu retten. Bald nahte der 1. Mai heran, an welchem Tage der Drache sein Opfer holen sollte. Am vorletzten Tage kam Paul, der junge Waffenschmied, zu seiner Braut und blieb die ganze Nacht mit dieser und der Mutter in der Wohnstube. In der Morgendämmerung warf er seinen Rock aus, und nun stand er da in spiegelglatter Rüstung. Drei scharfe Dolche staken im Gürtel und ein kurzes Schwert hing an seiner Seite. Er zog das weiße Kleid an, puderte sein gebräuntes Gesicht und setzte sich den Kranz auf den Kopf. In diesem Zustande stellte er sich an Stelle seiner Braut auf dem Markt, um den Drachen zu erwarten. Mutter und Tochter lagen auf den Knien und beteten zu Gott um die glückliche Befreiung des tapfern Bräutigams. Plötzlich hörte man das gewaltige Rauschen und das krächzende Geschrei des Untieres, welches nahte, um sein Opfer holen zu kommen – –«

Starkes Klopfen gegen das Tor machte der Erzählung ein Ende.

»Wer mag denn da noch Einlaß begehren?« sagte der Vater, indem er aufstand. Die Tür öffnete sich gleich nachher, und herein trat ein Mann im gleichen Alter wie der Junker. Er trug einen dunklen Bart und war mit einem Jagdanzuge bekleidet. »Grüß Gott, Peter!« sagte er, dem Hausherrn die Hand reichend.

»Ach, Karl, du bist es?« sagte Peter, die dargebotene Hand kräftig schüttelnd. »Ich hätte dich beinahe nicht wiedererkannt?«

»Gott zum Gruß, Frau Agnes!« sagte der Fremde, sich zu der Hausfrau wendend. Agnes stand auf und begrüßte den Gast auf das freundlichste, auch die Kinder reichten ihm die Hand.

»Du hast da ein paar prächtige Kinder, Peter,« sagte dieser. »Der Junge scheint aber nicht gut gelaunt zu sein, er macht ja ein ganz bitterböses Gesicht. Was fehlt dir denn, Kerlchen?« wandte er sich an den Knaben.

»Ei,« gab der Knabe zur Antwort, »ich hätte gewünscht, daß Ihr ein wenig später gekommen wäret. Der Vater hörte gerade in der Erzählung auf, als sie am schönsten wurde.«

»So, ist es das!« lachte Karl. »Das habe ich nicht gewußt. Dann soll dein Vater aber die Geschichte jetzt weiter erzählen.«

»Ich denke, wir warten bis morgen, denn der Onkel ist müde und hungrig, und wir müssen uns jetzt um ihn bemühen.«

»Ach, Vater,« bat der Kleine, »du kannst doch den tapfern Bräutigam nicht die ganze Nacht bis morgen abend auf dem Markte stehen lassen. Ich könnte darüber nicht schlafen. Bitte, erzähle die Geschichte aus.«

Der Vater gab dem Drängen nach und erzählte weiter:

»Als der Drache herangekommen war, erfaßte er mit seinen Krallen die bauschige Kleidung der vermeintlichen Jungfrau, nahm sie mit in die Luft und flog seiner Höhle zu. Unser Waffenschmied hielt sich mit der linken Hand am Schwanze des Ungetüms fest und stieß demselben seinen Dolch mehrmals tief in den Leib. Der Drache suchte den Waffenschmied zu zerreißen, aber die Krallen drangen nicht durch den Stahlpanzer hindurch. Vom Blutverlust ermattet, sank der Drache nicht weit von seiner Höhle zur Erde, und der Waffenschmied sprang geschickt zur Seite, damit er nicht von dem Feuerstrome getroffen wurde, den der Drache auszuspeien begann. Dann zog er sein Schwert und hieb ihm einen Kopf nach dem andern ab, denn der Drache hatte sieben Köpfe. Als das Untier verendet war, begab sich unser Held in die Höhle und fand dort große Schätze an Gold und Silber. Dieses nebst dem verendeten Drachen brachte er auf einem Wagen, mit vier Pferden bespannt, nach Breda. Hier wurde er auf das festlichste empfangen; alles war voll Jubel und Freude, daß das schreckliche Tier erlegt war. Der Waffenschmied heiratete bald darauf seine Braut, und sie lebten herrlich und in Freuden, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie wohl heute noch.«

»Wenn ich einmal groß bin, möchte ich auch so ein Ungetüm besiegen und eine Jungfrau befreien,« sagte der kleine Peter.

»Dazu könntest du vielleicht einmal Gelegenheit haben – wer weiß?« sagte van Este gedankenvoll und hob den Knaben auf seine Knie. »Inzwischen mußt du aber noch tüchtig essen, damit du stark wirst und das Schwert führen kannst!«

Die Mutter entfernte sich jetzt mit den Kindern, um sie zu Bett zu bringen. Während ein Diener das Abendessen auftrug, plauderten die beiden Männer weiter.

»Wo kommst du denn eigentlich her?« fragte Peter seinen Gast.

»Ich komme aus Paris,« antwortete dieser, »und will dir auch gleich den Zweck meiner Herkunft mitteilen. Ich bin nämlich gekommen, um dich mitzunehmen. Voilà! Du sollst wieder ins Heer eintreten.«

»Das wird doch wohl Scherz sein, Karl. Glaubst du ich könnte mich so von meiner Familie losreißen? Nein, das geht nicht. Das gibt meine Agnes nicht zu.«

»Es muß gehen. Überlege es dir. Gerade im Interesse deiner Familie mußt du mit. Du sollst sehen, die Deutschen werden in unser gutes Flandern eindringen und alles verwüsten, wenn unsere Truppen es nicht schützen.«

»Wenn die Deutschen hereinbrechen, dann werde ich mein Haus und meine Familie am besten schützen können, wenn ich hier bin.«

»Du hast recht und unrecht. Ob du jedoch allein in der Lage sein wirst, deine Familie zu schützen, ist eine große Frage; andererseits mußt du auch an die Allgemeinheit denken und bereit sein, dem Vaterland ein Opfer zu bringen. Aber wie dem auch sei: in Deutschland dauert der Krieg fort und vor 14 Tagen ist der große Schwedenkönig Gustav Adolf gefallen. Die Kaiserlichen haben tüchtige Feldherren, Wallenstein, Tilly und außerdem einen ganz verwegenen Reitergeneral Jan van Werth. Du sollst sehen, die machen uns noch etwas zu schaffen. Ich habe daher den Auftrag, tüchtige Offiziere zu sammeln und sie zum Heere Frankreichs zu bringen, damit es stark wird.«

»Lieber Karl, du hast weder Weib noch Kind, für dich ist der Krieg eine schöne Sache. Bist du denn auch schon etwas geworden? Warum trägst du keine Uniform?«

»Weil ich ungeniert reisen wollte; ich bin Oberst.«

»Ach! Ich gratuliere! Da werde ich auch wohl noch von einem General reden hören, der deinen Namen trägt. General Guébriant – das klingt nicht übel!«

»Nun ja, das kann noch werden. Höre, lieber Junge, ich bleibe noch vierzehn Tage in Gent, und bis dahin wirst du dich hoffentlich entschlossen haben, mitzugehen. Du willst doch hier nicht versimpeln!«

Jetzt trat Frau Agnes ein und nahm an dem Abendessen teil, erhob sich aber zeitig und ließ die Männer allein. Bei einer Flasche Bordeaux plauderten diese dann weiter.

»Sage einmal, lieber Karl, hast du nichts von meinem Bruder Otto in Paris gehört?«

»Von Zeit zu Zeit. Er verkehrt in vornehmen Zirkeln und gilt als der erklärte Liebling der Damen. Seine galanten Abenteuer machen ihn zum Löwen der Gesellschaft. Er wohnt in einem feinen Hotel, hat Bediente und Reitpferde, kurz, er ist ein nobler Herr. Ich traf ihn vor acht Tagen, da sagte er mir, er würde dich einmal in kurzer Zeit aufsuchen.«

»So, das ist mir lieb. Ich weiß aber nicht, wovon er sich das alles leisten kann. Er bezieht von mir ein gutes Jahresgehalt, welches ihm erlaubt, standesgemäß zu leben. Das ist aber auch alles. Ein großes Haus kann er damit nicht halten. Diese noblen Passionen gefallen mir nicht. Er sollte lieber in den Heeresdienst treten. Da er ein gewandter Fechter ist, könnte er sich da nützlich machen und es auch zu etwas bringen.«

»Dazu scheint er keine Lust zu haben, Peter. Er hätte längst Karriere machen können. Hat er gar kein Vermögen mehr?«

»Nein. Unsere Eltern sind früh gestorben, und unser Onkel Ludwig van Este nahm uns zu sich. Er setzte mich als den Erstgeborenen zum Erben des Kastells ein mit der Bedingung, daß Otto ein Jahresgehalt und zwei Bauernhöfe bekommen sollte. Die Höfe hat er gleich verkauft, ist fortgegangen und hat sich auch in acht Jahren nicht mehr hier sehen lassen. Er ist einige Jahre jünger als ich und war stets ein leichtlebiger Patron. Ich hoffte schon immer, er werde heiraten und einen Hausstand gründen, oder aber ins Heer eintreten, aber er tut keines von beiden. Wenn er nur nichts Schlechtes treibt; daß er auf so großem Fuße lebt, beunruhigt mich Karl!«

»Ach was, Peter, laß dir deswegen keine grauen Haare wachsen! Er hat reiche Freunde, denen es nicht auf eine Hand voll Goldstücke ankommt.«

»Aber wie erbärmlich, von der Gunst anderer zu leben! Jedenfalls beunruhigt mich das Treiben meines Bruders. Ich will nicht hoffen, daß er unsern alten ehrlichen Namen in Unehre und Schande bringt.«

»Das glaube ich nicht, Peter, denn soviel Ehrgefühl wird er trotz seines Leichtsinns doch noch wohl im Leibe haben.«

Sie reichten sich die Hand und suchten dann ihr Lager auf. Am andern Morgen wurde eine Jagd auf Wölfe veranstaltet, und Peter hatte einige Dutzend Treiber aufgeboten. Mit seinem Verwalter Kunz und seinem Jäger sowie dem Oberst zu Pferde brachen sie auf. Es war ein heiterer Herbstmorgen, als der Jagdzug mit lustigem Hörnerklang dem nahen Walde zusprengte. Agnes sah dem Zuge nach. Ihr war so beklommen ums Herz, gleich als ob ein Unglück bevorstände. Als der Zug verschwunden war, ging sie ihrer Gewohnheit nach in die Dorfkirche, um sich im Gebet von den trüben Ahnungen zu befreien. Die beiden Kinder knieten neben ihr und falteten fromm die Hände. Nach der heiligen Messe kniete Agnes dann noch vor dem Bilde der schmerzhaften Mutter, um von dieser Trost zu erbitten und ihr das teure Leben des Gemahls, welches sie in Gefahr glaubte, zu empfehlen. Zu Hause wieder angekommen, gab sie, wie an jedem Morgen, ihren Kindern Unterricht. An diesem Tage war Peter nicht bei der Sache. Er gab zerstreute Antworten, denn seine Gedanken waren auf der Jagd. Die Mutter blieb gegen ihre Gewohnheit beim Unterricht ernst, nur das heitere Geplauder der kleinen Maria brachte mitunter ein Lächeln auf ihre Lippen. Abends, als die Hörner lustig ertönten, und der fröhliche Zug auf den Hof sprengte und neun schwere Wölfe mitbrachte, da war Agnes glücklich, daß ihre Ahnung unbegründet gewesen war. Ein fröhliches Mahl schloß sich an den glücklichen Jagdzug, und alle waren in der heitersten Stimmung. Der Oberst war sehr lustig, denn er hatte allein drei Wölfe getroffen, und meinte, wenn er einige Zeit dort zubringen könnte und so tüchtige Leute bei sich hätte, so würde er schon bald mit den Wölfen aufgeräumt haben. Es wurde tüchtig gegessen und getrunken, wie sich das für Jäger ziemt, und erst spät trennten sich die Jagdgenossen. Am andern Morgen ritt Peter mit seinem Freunde nach Breda und versprach seiner Frau, zeitig abends zurück zu sein. Als er dann in der Dämmerung zurückkam und auf dem Schlafzimmer seiner Frau schon Licht erblickte, überkam ihn eine bange Ahnung. Er schwang sich vom Pferde, ließ dasselbe auf dem Hofe stehen und sprang die Treppe hinauf. An der Gesindestube vorbeikommend, hörte er eine durch den Türspalt lugende Magd sagen: »Ach, der arme Herr! Die armen Kinder!« Er eilte in das Schlafgemach und fand seine Agnes dem Tode nahe auf dem Lager liegen, ihr Haupt trug einen weißen Verband der noch mit frischem Blute gefärbt war. Ein alter Arzt aus dem Dorfe und der Pastor nebst einem Mädchen umstanden ihr Lager.

»Was ist geschehen?« fragte Peter den Pfarrer in höchster Erregung.

Der alte Mann ergriff seine Hand und sagte flüsternd: »Faßt Euch Herr. Schweres ist über Euch hereingebrochen. Gott gebe Euch die Kraft es zu ertragen! Aber ich bitte Euch, macht der Kranken das Herz nicht schwer!«

»Sagt mir doch um Gotteswillen, was geschehen ist!« bat der geängstigte Mann und trat nahe an das Lager der Frau.

»Gleich sollt Ihr alles erfahren,« sagte leise der Pfarrer, nur jetzt nicht; nur hier laßt uns davon schweigen.«

Jetzt kehrten die Lebenszeichen langsam zurück. Agnes erwachte aus einer tiefen Ohnmacht. Matt schlug sie die Augen auf und blickte die Umstehenden fragend an. Ein schmerzliches Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie ihren Gemahl erblickte. Sie reichte ihm mühsam ihre weiße, fast durchsichtige Hand und flüsterte: »Hab Dank, Peter, daß du gekommen bist. Wir sehen uns zum letzten Male!«

»Agnes, meine Agnes!« rief der Junker verzweifelt aus, »Oh sprich es nicht aus! Du kannst und darfst nicht sterben! Du kannst die Deinen nicht verlassen! Ich schicke den Reitknecht mit unserm besten Renner nach dem berühmten Doktor Vermeulen, derselbe muß sofort kommen und – –«

Die Kranke unterbrach ihn und winkte mit der Hand: »Laß sein, Peter. Bei mir ist menschliche Kunst zu Ende. Höre, ich habe die Sterbesakramente empfangen und fühle es, mir bleiben nur noch wenige Augenblicke. Rasch ereilt uns das Unglück, fasse dich. Es ist Gottes Wille, Peter! Da oben will ich für dich beten, – mein Gemahl – leb wohl! – Lebe ewig – wohl! Dort oben sehen wir uns wieder!« Kaum hörbar hatte sie diese Worte gelispelt und sank nun wieder zurück in die Kissen. Dann seufzte sie leise: »Heilige Mutter Gottes – – bitte für mich – – Amen! – –«

Peter sank neben dem Bett auf die Knie, ergriff die Hand seiner heißgeliebten Gattin, und ein Tränenstrom entquoll den Augen des plötzlich so hartgeprüften Mannes. Jetzt betete der Priester laut die Sterbegebete. Feierlich klangen die Worte durch das Totenzimmer: »Fahre hin, christliche Seele, zu Gott dem Vater, der dich erschaffen, zu Gott dem Sohne, der dich erlöset, zu Gott dem heiligen Geiste, der dich geheiligt hat!« Andächtig und tief erschüttert lauschten alle den frommen Worten, welche der Seele einer christlichen Schwester das Geleite gaben zum Throne Gottes. Die Stunde des Todes ist für den gottlosen Menschen der Inbegriff alles Schreckens; der gläubige Christ aber blickt ihm ruhig ins Auge und sieht hoffnungsfroh seiner Auflösung entgegen. – Die Gebete waren zu Ende. Noch einen letzten Blick auf das bleiche Antlitz der teuren Entschlafenen werfend, schickte sich Peter an, das Totenzimmer zu verlassen und schritt, auf den Arm des greisen Pfarrers gestützt, der Bibliothek zu. Der starke Mann war gebrochen, denn der Schlag war zu plötzlich gekommen.

»Nun faßt Euch, lieber Herr!« sagte tröstend der Pfarrer, als sie allein waren. »Der Tod Eurer lieben Gemahlin ist nicht das einzige Unglück, das Euch widerfährt ...«

»Verhehlt mir nichts, Herr Pfarrer,« sagte Peter, »Ihr seht, ich bin auf alles gefaßt.«

»Nun denn,« begann der Pfarrer wieder, »dann vernehmt das Traurige. Heute Morgen, nachdem Eure verblichene Gemahlin mit den Kindern der heiligen Messe beigewohnt hatte, und durch den Park dem Kastell zuschritt, begegnete ihnen ein Mädchen von acht bis neun Jahren, das sehr zerlumpt aussah und die gnädige Frau um ein Almosen bat. Diese nahm das Kind mit ins Haus und ließ dasselbe mit Essen und Trinken sowie mit neuer Kleidung versorgen und schickte dann einen Knecht mit, der das Kind auf die richtige Heerstraße nach Breda bringen sollte. Das Mädchen war aus Gent. Es hatte in kurzer Zeit Vater und Mutter verloren und wollte einen Onkel in Breda aufsuchen bei dem es bleiben konnte. Dies erzählte mir die gnädige Frau nachher, als ich sie im Garten traf und sie freute sich, daß das Kind noch jemand hatte der für es sorgen wollte. »Hoffentlich,« sagte sie, »wird die Kleine es gut haben bei diesem Onkel!« Dann flog es wie ein Schatten über ihr Gesicht und sie setzte traurig hinzu: »Ach, wenn ich denke, daß meine eigenen Kinder einmal als arme Waislein durch die Welt ziehen und betteln müßten ...!« Ich mußte lächeln über diese plötzliche Besorgnis die mir völlig grundlos erschien. »Gnädige Frau,« tröstete ich sie, »dann wird der liebe Gott, der für die Blumen des Feldes und die Vögel des Himmels sorgt, auch ihrer nicht vergessen und sie ebenfalls gute Menschen finden lassen, die sich ihrer erbarmen!« Die kleine Maria hüpfte unterdessen spielend durch Garten und Park, wo überall Leute beschäftigt waren. Jetzt kam sie auf uns zugelaufen und bat die Mutter um das Vogelnetz, welches sie auch erhielt. Dann nahm sie einen Teller Hafer mit, um die Hühner und Tauben im Walde zu füttern. Die Mutter rief ihr nach, sie solle nicht zu nahe an den Fluß gehen, der von den Regengüssen der letzten Tage stark angeschwollen war. Als die Mittagsglocke läutete, war Mariechen noch immer nicht zurück. Die Mutter wurde unruhig und schickte Leute aus, um das Kind zu holen. Ich schloß mich diesen an. Der Teller mit dem Hafer wurde in der Nähe des Flusses gefunden; die Brücke, die über den Fluß führt, war eingebrochen und zum Teil fortgeschwemmt. Das Hütchen des Kindes hing an einem Weidenstrauch. Es ist nicht anders anzunehmen, als daß das Mädchen mit der Brücke in [den] Fluß gestürzt und ertrunken ist. Der ganze Fluß ist stundenweit abgesucht, aber von dem armen Kinde bis jetzt nichts gefunden worden.«

Der Junker war bei den letzten Worten aufgesprungen und vor den Pfarrer hingetreten. »Wie, mein Kind ertrunken – sagt Ihr? – Tot? Nicht möglich! – Nein, es [ist] nicht möglich!« stieß er mühsam hervor. Mein Gott, mein Gott, welche Trübsale schickst du mir? Oh, das ist zu viel!« und von dem Gehörten zermalmt, sank er in seinen Lehnstuhl zurück. Der Pfarrer überließ ihn seinem Schmerze. Nach einigen Augenblicken sagte der Junker: »Herr Pfarrer, ich danke Euch für Eure schonenden Mitteilungen, danke Euch auch, daß Ihr meiner armen Agnes im Tode beigestanden und sie getröstet habt. Aber sagt an: Ist das zu fassen! Ist das zu ertragen!«

»Mut, Herr, Mut und Gottvertrauen!« tröstete der Pfarrer, indem er die Hand des Junkers ergriff. »Was Gott tut, das ist wohlgetan, und wäre es auch noch so hart. Wir kurzsichtige, armselige Menschen sehen es nur nicht ein, daß Gott immer nur unser Bestes will. Doch hört weiter wie alles gekommen ist. Die gnädige Frau befand sich mit uns im Parke bei der Felsengrotte. Als man ihr die traurige Kunde brachte, stieß sie einen Schrei aus und stürzte jählings zu Boden wobei sie mit dem Kopfe so unglücklich auf eine Steinkante schlug, daß sich eine klaffende Wunde bildete. Bewußtlos wurde sie ins Kastell getragen und der Arzt herbei geholt, der einen schweren Schädelbruch mit Gehirnerschütterung konstatierte und die Sache für sehr bedenklich hielt. Leider sollte er recht behalten denn unserer armen gnädigen Frau hat's den Tod gebracht.« Der Pfarrer schwieg einige Augenblicke und fuhr dann mit bewegter, fast feierlicher Stimme fort:

»Ja, es ist Gottes Wille gewesen, lieber Herr, und in Seinem heiligen Willen ergab sich Eure Gemahlin mit jenem Vertrauen und jener heiteren Zuversicht, die den Kindern Gottes eigen ist. Sie starb beruhigt nachdem ich ihr die hl. Sakramente gespendet und sich ihr Wunsch, den geliebten Gatten vor ihrem Ende noch einmal zu sehen, erfüllt hatte. Die Erde hat nun eine Gerechte weniger, der Himmel eine Heilige mehr – denn, wie eine Heilige ist sie aus diesem Leben geschieden in dem sie sich so viele Freunde erworben hatte. Ach, wie viele Arme und Notleidende werden jetzt um sie trauern und klagen, für die sie soviel getan hat! Wie wird man sie vermissen, die jederzeit und für jedermann so hilfsbereit war! Fürwahr: ihnen wird sie unvergeßlich sein und wir, die wir sie am meisten verehrt und geliebt haben, werden ihr Andenken stets in unserm Herzen tragen; in unserm Herzen wird sie fortleben ...!«

Van Este schluchzte fassungslos. Ob er sie geliebt hatte? Oh, das empfand er in diesem bitteren Augenblick, wo er sie für immer verloren, und er schämte sich seiner Tränen nicht. Ach, sie war es wohl wert, daß er um sie weinte! Nie hatte etwas in seinem Leben ihm eine Träne entlocken können. Wie oft hatte er in blutiger Feldschlacht der Gefahr gegenüber gestanden und dem Tode ins Auge gesehen! Aber an diesem Tage, wo das Unglück über ihn hereingebrochen und ihm sein Liebstes geraubt, das er auf Erden besaß – da überwältigte es den starken Mann und er weinte. Es waren die Tränen, die der Gatte um die teure Gattin, die der Vater um sein geliebtes Kind vergießt ...!

Dann richtete er sich auf. »Wo ist mein Sohn Peter?« fragte er.

»Der ist heute Morgen von den beiden Söhnen des van der Nelken zur Eichhörnchen-Jagd abgeholt worden. Er soll erst morgen zurückkommen.«

»Also weiß der arme Junge noch von nichts?«

»Nein, er ist nach dem Frühstück schon aufgebrochen. Er war nicht wenig stolz, als er, mit dem Bogen und dem kurzen Jagdmesser bewaffnet, mit seinen Kameraden zum Walde gehen durfte.«

»Ach, was wird der Knabe morgen sagen, wenn er die Mutter tot findet! Wenn er sich nur nicht mit den anderen Burschen zu weit in den Wald gewagt hat, denn es sind viele Wölfe dort.«

»Sie werden sich schon hüten; übrigens ist der Franz schon 18 Jahre alt, und der Karl 16, die werden schon sehen, daß er sich nicht zu weit vorwagt. Sie wollten ja auch nur im Brandwalde jagen, wo fast gar keine Wölfe angetroffen werden.«

»Nein, dort ist es jedenfalls nicht gefährlich. Dennoch wünschte ich, er wäre wieder zu Hause,« setzte er mit einem Seufzer hinzu.

»Er wird sich schon wieder einstellen, verlaßt Euch darauf,« sagte der Pfarrer. »Und nun, lieber Junker, Gott befohlen! Möge Er Euch den Trost spenden, dessen Ihr bedürft um Euer Leid zu überwinden. Ich wünsche Euch nach dem traurigen Tage eine geruhsame Nacht. Morgen sehen wir uns wieder.« Er reichte dem Junker die Hand und verließ das Kastell, um sich nach der Pfarrwohnung zu begeben.

Im Kastell war es ganz stille. In einem großen Gemach, wo die Familienmitglieder derer van Este in Lebensgröße an der Wand hingen, hatte man die Leiche der gnädigen Frau aufgebahrt. Zwölf silberne Leuchter mit Wachskerzen standen um dieselbe herum und erhellten das Gemach. Knechte und Diener hielten abwechselnd die Totenwache. Die Bilder der Ahnen schauten traurig auf die bleiche Frau hernieder und die abergläubigen Knechte meinten sogar, leise Seufzer und Klopftöne aus den Wänden und alten Möbeln zu hören. Der Schloßherr ging die ganze Nacht aufgeregt in dem Bibliothekzimmer auf und ab, denn zu Bett gehen wollte er nicht, da der Schlaf ihn floh. Am andern Morgen, als kaum der Tag graute, kam Jan van der Nelken und fragte nach ihm, der sich noch in der Bibliothek befand. Er hatte gehört, in welche Trauer das Haus van Este versetzt worden war und kam, um den Schloßherrn seiner herzlichsten Teilnahme an dessen tiefem Schmerze und unersetzlichem Verluste zu versichern. Peter dankte dem Nachbarn und lud ihn zum Sitzen ein.

»Ich bin so früh hierhergeritten,« hub Herr van der Nelken an, »um dich zu bitten, mir deinen Jäger mitzugeben. Gestern sind meine Jungen Franz und Karl mit deinem Peter in den Brandwald gegangen, um Eichhörnchen zu jagen. Bis heute Morgen ist noch keiner zurückgekommen. Ich glaube zwar, daß sie zu meinem Bruder, der dort in der Nähe wohnt, gegangen sind, habe aber keine Ruhe und möchte hintereinander durch den Wald und dann zu meinem Bruder hin, um zu sehen, wo die Jungen geblieben sind.«

»Weiß Gott! Nachbar, mich plagt die gleiche Sorge!« rief van Este erschrocken aus. »Die ganze Nacht hatte ich das Gefühl, als ob mir noch ein weiteres Unglück bevorstünde. – Ich werde sofort das Nötige veranlassen und mit dir aufbrechen.«

Er befahl, eiligst die Pferde zu satteln, und in einer halben Stunde standen sechs Pferde bereit. Peter sowie der Jäger und einige Knechte saßen auf und sprengten dem Walde zu. Kein Horn erklang aus dem Zuge, welcher lautlos dahinsprengte, denn aller Reiter bemächtigte sich das Gefühl, als ob sie auch heute noch Trauriges erleben sollten, als ob dem jungen Herrn etwas zugestoßen sein könnte. Der Brandwald, durch den mehrere Straßen führten, wurde nach allen Richtungen hin durchkreuzt, ohne jedoch die geringste Spur von dem Knaben zu finden. Gegen Mittag fand sich die ganze Gesellschaft bei Kob van der Nelken ein. Dieser bewohnte hart an dem großen Walde ein kleines Gut; seine einzige Beschäftigung war die Jagd. In dem herrlichen Hochwalde gab es Wild in Menge, und Kob holte sich manch schönes Stück aus demselben.

»Das ist eine schlimme Sache, ihr Herren!« sagte Kob, als er gehört hatte, um was es sich handelte. »Wenn die Burschen nirgendwo eingekehrt sind, und die Nacht im Walde haben kampieren müssen, dann sind sie entweder von den Wölfen zerrissen worden oder erfroren, denn die jetzigen Nachtfröste im Spätherbste können einen jungen Menschen ums Leben bringen. Doch kommt, nehmt Platz, meine Frau hat ein Reh am Spieß, das soll uns vortrefflich munden. Wenn wir uns gestärkt haben, brechen wir auf. Wir nehmen einen leichten Wagen mit, damit, wenn die Jungen gefunden werden, wir sie betten können.«

Jetzt wurde das Reh aufgetragen, jedoch wollte es keinem so recht schmecken. Nachdem Peter van Este einige Bissen gegessen hatte, fragte er Kob, ob denn in der Nähe des großen Waldes keine menschlichen Wohnungen seien.

»Doch,« sagte Kob, »es gibt da drei kleine Blockhäuser, worin Waldwärter wohnen. Wenn sie dort nicht zu finden sind, dann finden wir sie auch nicht, wenigstens nicht lebend.«

»Nun, ich will hoffen, daß wir sie doch noch finden. Denn, daß ich auch noch diesen Knaben, den letzten meiner Familie verlieren soll – dieses Opfer kann Gott nicht von mir verlangen! Kommt Freunde, ich habe keine Ruhe noch Rast,« sagte der Junker.

Alle eilten darauf auf den Hof und ritten hinaus. Der Teil des Waldes bis zur Waldhütte wurde abgesucht. Aber im Walde sowohl wie in der Hütte wurde nichts gefunden, auch hatte keiner etwas von den Jungen gehört. Wohl meinte der alte Enders, er habe gestern zwei schwache Schüsse, wie aus einer kleinen Flinte, gehört, welche aus der Tiefe des Waldes zu kommen schienen. Enders ging mit, doch es fand sich keine Spur. Plötzlich vor der zweiten Waldhütte hob Kob einen Tuchfetzen auf und zeigte ihn seinem Bruder.

Der alte van der Nelken betrachtete einen Augenblick den gefundenen Tuchfetzen und rief dann: »Der ist von meines Sohnes Rock.« Sie gingen dann zur Waldhütte und fanden darin Franz, der am Morgen von dem Waldhüter halb erfroren und bewußtlos aufgefunden war. Er war eben wieder zu sich gekommen. »Wo sind Karl und Peter,« fragte der Vater und der Junker zugleich.

»Ich weiß es nicht,« sagte Franz kopfschüttelnd, der sich überhaupt des Vorgefallenen gar nicht entsinnen konnte und nicht wußte, wo er sich eigentlich befand. Er verlor auch sogleich wieder die Besinnung. »Wir werden nicht viel aus dem Jungen herauskriegen,« sagte Kob, »denn er ist zu schwach.«

In dem Zimmer des Blockhauses, welches als Wohn-, Arbeits- und Schlafraum diente, und wo einige Kühe und ein zahmes Reh neugierig hineinlugten, war die kleine Familie des Waldwächters versammelt, und alle blickten erstaunt auf die fremden Leute.

»Jan,« fuhr Kob den Wächter an, »wo sind die Knaben? Erzähle schnell.«

»Wir hörten gestern abend einige schwache Schüsse«, berichtete Jan. »Ich ging mit meinem Sohne hinaus, und wir schritten in der Richtung, woher wir die Schüsse vernommen, in den Wald hinein. Nach kurzer Wanderung fanden wir den jungen Herrn auf der Erde liegend. Sein kleines Gewehr lag neben ihm. Er war besinnungslos. Wir machten eine Bahre von Baumstämmen und brachten ihn nach Hause. Hier fiel er von einer Ohnmacht in die andere, und wir konnten über das Vorgefallene nichts erfahren.«

Van der Nelken setzte sich an das Lager des Kranken und goß ihm einige Tropfen Wein in den Mund. Endlich erwachte Franz, und auch das Gedächtnis kehrte langsam zurück.

»Aber, Franz,« sagte van der Nelken, »was habt ihr denn um Gotteswillen angefangen? Wo ist Karl und der junge van Este?«

»Ich weiß es nicht,« sagte Franz mit schwacher Stimme. »Wir haben im Buchenwalde Eichhörnchen gejagt und wollten schon nach Haus aufbrechen, als plötzlich ein junges Reh an uns vorbeisprang. Peter van Este schoß auf dasselbe und muß das Tier am Bein verletzt haben, denn es stürzte, sprang wieder auf, und hinkte mühsam, aber doch rasch weiter. Karl und Peter liefen hinter ihm her. Ich folgte ihnen, verlor sie aber aus den Augen. Der Abend war schon hereingebrochen, und in der Dunkelheit stürzte ich über eine Baumwurzel und verstauchte mir den Fuß, so daß ich nicht mehr zu gehen vermochte. Ich hörte das Geheul der Wölfe, und es ergriff mich eine namenlose Angst. Auf der kalten Erde liegend, schoß ich dann öfters mein Gewehr ab, um die Wölfe abzuhalten, schließlich wurde ich bewußtlos. Von dem sonst Vorgefallenen weiß ich nichts.«

Der Junker ging aufgeregt durch den Raum auf und ab. »Schrecklich, schrecklich!« rief er aus, »gebt acht, wir finden nicht einmal die Leiche meines Sohnes!«

»Bei St. Hubertus, unserm Schutzpatron, das sieht schlimm aus,« meinte Kob. »Kommt, Leute! Jan, du gehst auch mit, wir müssen sehen, daß wir die Spuren der Knaben finden. Nimm deine Hunde mit,« sagte er zu dem Sohne des Waldhüters. Dieser kettete die Hunde los und trat mit den übrigen Männern ins Freie. Nachdem man eine halbe Stunde den Waldweg entlang geschritten, wurde der Weg schmaler, und man mußte den Wagen mit den Pferden zurücklassen. Jetzt wurde der Wald nach allen Richtungen hin durchstreift. Man feuerte Schüsse ab, hörte aber nichts als das schreckliche Geheul der Wölfe. Als die Männer wieder zusammen kamen, hatte keiner eine Spur von den Knaben gefunden.

»Wir sind hier in der Nähe des dritten Blockhauses,« sagte Kob. »Wir wollen auch hier einmal Nachfrage halten.«

»Ist nicht nötig,« sagte ein junger Mann, der sich in diesem Augenblicke näherte, »Ich bin der Waldhüter, hörte die Schüsse und wollte einmal nachsehen, was los sei.«

»Gut, daß wir dich treffen, Bert,« sagte Kob. »Hast du gestern oder heute nicht zwei junge Jäger hier im Walde gesehen?«

»Nein«, erwiderte Bert, »aber gestern sind offenbar einige Menschen von den Wölfen zerrissen worden, denn ich habe heute Morgen Kleiderfetzen und auch eine Armbrust sowie eine kleine Flinte gefunden.«

»O Gott!« riefen van Este und van der Nelken zugleich aus.

»Das werden die armen Knaben gewesen sein,« meinte Kob, »doch komme schnell zu deiner Hütte, Bert, wir müssen die Sachen sehen.«

Bald waren die Jäger in der Wohnung des Waldhüters angekommen, und die beiden Väter erkannten denn auch in den Fetzen die Reste der Kleider ihrer Söhne. – –

»Das ist zu arg,« sagte Kob, »das ist zuviel des Unglücks!«

»Ich danke euch, meine Freunde,« sagte van Este mit mühsamer Fassung, nachdem er wie vernichtet auf einen Stuhl niedersank, »daß ihr mir so getreu beigestanden habt. Bleibt hier bis morgen, der wackere Bert wird euch wohl ein bescheidenes Nachtlager geben können, ich habe keine Ruhe mehr und muß nach Hause. Kob, du wirst mir wohl den Wagen zur Verfügung stellen!« Dieser war sofort dazu bereit und warnte van Este noch, ja vorsichtig zu sein, da ihm die Wölfe noch viel zu schaffen machen könnten. Dann bat Peter seinen Freund van der Nelken, ihm morgen Bescheid zu bringen, ob noch etwas von den Knaben gesehen worden sei, und begab sich in Begleitung dreier Knechte zu dem Wagen, der bald im schärfsten Tempo dahinsauste. Zuerst bekam man keinen Wolf zu Gesicht, nur hörte man das seltsame Pfeifen, welches die hungrigen Bestien bei großer Kälte ausstoßen. Als der Wagen jedoch an einer steilen Erdwand, die mit Gesträuch bewachsen war, vorbeifuhr, stürzten plötzlich zwei riesenhafte Wölfe heulend auf diesen zu. Die geängstigten Pferde flogen wie rasend dahin. Van Este drehte sich um und sagte zu einem der Knechte: »Gerd, die Gewehre zur Hand. Nimm du den rechts, ich nehme den andern. Feuer!« – – Die beiden Bestien wälzten sich am Boden. »Sofort wieder geladen«, rief van Este. Vier Gewehre waren in kurzer Zeit schußbereit. »Noch eine gute halbe Stunde,« sagte der Rosselenker, »dann sind wir in Sicherheit.« Ein Geheul von mehreren Wölfen war die Antwort. Weit ließ sich der beschneite Weg übersehen. Lautlose Stille herrschte. Nur das heisere Geheul der wütenden Bestien störte das tiefe Schweigen des Waldes. Ein dunkler, großer Knäuel zeigte sich weit hinter dem dahinfliegenden Wagen. In rasender Eile rissen die geängstigten Pferde aus. Angst und Schrecken überkam die Knechte, und sie hatten wohl Ursache dazu. Der anhaltende kalte Herbst, der nur dann und wann einige Regentage gebracht, hatte die Wölfe hungrig und wütend gemacht.

Kaltblütig stand Peter auf und sah das Rudel näher kommen. »Sie sind erreichbar,« sagte er zu den Knechten. »Schießt, aber vorsichtig, nicht zu hoch.« Vier Schüsse krachten, und ein furchtbares Geheul bewies, daß sie gut getroffen hatten. Ehe jedoch wieder geladen war, kamen zwei der Bestien ganz an den Wagen heran. Einer der Wölfe sprang mit den Vorderpfoten auf den Wagen. Der Knecht Gerd hieb blitzschnell mit dem Jagdmesser auf das Tier ein und schlug ihm die Pfoten ab. Dann versetzte er dem zweiten Wolfe, der ebenfalls an dem Wagen heraufsprang, einen Schlag. Aber dieser Wolf hatte den sich aus dem Wagen beugenden Knecht am Wams erfaßt, und ehe die Insassen wußten, was geschehen war, lag der Knecht aus dem Wagen auf der Erde, und die Wölfe fielen über ihn her.

»Halte den Wagen an!« schrie van Este dem Kutscher zu. Der Kutscher riß die Zügel an und rief den Pferden zu, jedoch die Tiere gehorchten nicht mehr und waren nicht zum Stehen zu bringen. Der Wagen flog pfeilschnell dahin. »Der Unglückliche ist den wütenden Tieren preisgegeben,« sagte van Este, »es ist eine Schande, das wir ihm nicht helfen können.« Die letzten Augenblicke des armen Knechtes waren kurz aber schrecklich. In das Geheul der hungrigen Bestien mischten sich die gellenden Todesschreie des Unglücklichen, der im Nu zerfleischt und zerrissen war. Dann stürzten die Wölfe wieder dem Wagen nach, der jedoch einen so großen Vorsprung gewonnen hatte, daß die Tiere ihn nicht mehr erreichen konnten. Endlich war Kastell Baumhofe erreicht, und die Geretteten waren glücklich, zwischen den sichern Mauern zu sein. Peter begab sich in das Sterbegemach und betete lange Zeit am Totenlager seiner Gattin.

Am andern Morgen kam der Pfarrer und hörte, was dem jungen van Este zugestoßen war. Er war so erschüttert, daß er kaum wußte, was er sagen sollte.

»Der Himmel prüft Euch hart, Herr,« rief er aus. Aber soll denn keine Hoffnung mehr sein, daß das Kind wiederkommt?«

»Nein, Herr Pfarrer, es ist fast nicht möglich.«

»Das kann man nicht sagen, möglich ist es immerhin.«

»Nun ja, möglich schon, doch nicht wahrscheinlich und ich rechne eher damit, daß mir mein grausames Schicksal auch noch diesen Knaben geraubt hat. Oh, es ist schier zum verzweifeln!«

Van Este stöhnte laut auf und sank in einen Sessel. Dann fuhr er plötzlich empor und sagte: »Eines verstehe ich nicht, Herr Pfarrer, nämlich, daß mein Töchterchen ertrinken konnte ohne daß jemand einen Schrei oder das Einbrechen der Brücke gehört hat, und Ihr sagt, es seien so viele Leute dort gewesen.«

»Gewiß, im Parke waren verschiedene Leute beschäftigt, dürres Holz von den Bäumen abzuhauen, das für die Armen bestimmt ist. Wahrscheinlich ist in der Nähe der Brücke niemand beschäftigt gewesen, als die Kleine dort mit ihrem Vogelnetz umherlief.«

»Aber was wollte sie denn jetzt im Herbste mit dem Netz beginnen? Doch keine Schmetterlinge fangen?«

»Wenn die Kleine den Tauben und den Hühnern das Futter brachte, so stellte sich immer eine Menge hungriger Finken und Sperlinge ein, und von diesen versuchte sie immer einen mit dem Netze zu fangen. Das ist ihr auch einmal mit Hilfe eines Knechtes gelungen. Sie brachte der Mutter vorige Woche einen Spatz, den sie mit dem Netze gefangen hatte, und von nun an wollte sie das Netz immer mitnehmen.«

»Ich weiß nicht, warum das Unglück mich so verfolgt? Gestern abend ist zudem noch der Gerd, unser Knecht, ohne daß wir ihm beistehen konnten, von den Wölfen zerrissen worden. Seid so freundlich und teilt dieses seiner armen Mutter im Dorfe mit, aber so schonend wie möglich. Ich werde für die arme, ihrer einzigen Stütze beraubten Frau sorgen und sie vor Mangel schützen.«

»Wie, der Gerd auch tot? Schrecklich! Der lebensfrohe, brave Junge! Das tut mir leid für den Burschen und für die arme Mutter, die nun allein in der Welt steht.«

»Ich werde sofort Befehl geben, daß die Leute mit dem Wagen in den Wald fahren und nach dem Unglücklichen Umschau halten.«

»Das ist gut, wir können dann wenigstens zum Troste der Mutter die Ueberreste bestatten.«

Der Pfarrer begab sich ins Dorf, und van Este fertigte einen reitenden Boten nach Breda an seinen Freund Guébriant ab, der demselben die Unglücksbotschaft überbringen sollte. Nachmittags kam van der Nelken mit seinen Leuten an. Man hatte nichts gefunden. »Peter,« sagte er mit tonloser Stimme zum Junker, »wir müssen uns gegenseitig trösten, unsere Kinder sind zwar eines schrecklichen Todes gestorben, aber sie sind in einer bessern Welt. Mein Bruder Kob will jetzt Tag für Tag mit verschiedenen Jagdfreunden auf die Wolfsjagd gehen und einmal ernstlich mit dem Raubzeug aufräumen.«

»Das hätten wir eher tun sollen, dann wäre uns vielleicht dieses Unglück erspart geblieben.« Van der Nelken fuhr traurig nach Hause. Die ausgeschickten Leute fanden von dem Knechte Gerd nur ein paar Kleiderreste, die Schuhe und einige Knochen. Diese wurden in einen Sarg gelegt und am andern Tage unter großer Beteiligung der Dorfbewohner beerdigt. Die alte Mutter war untröstlich über den Tod ihres Sohnes und mußte fast mit Gewalt von dem frischen Grabhügel fortgebracht werden. Am folgenden Tage fanden sich die edlen Geschlechter der ganzen Umgegend und fast alle Dorfbewohner ein, um der Frau Agnes das letzte Geleite zu geben. Sie beweinten in der guten Schloßfrau die treusorgende Mutter, die sich ihrer stets so liebevoll angenommen und nun für immer von ihnen gegangen war. Auch Guébriant hatte sich eingefunden, um dem Freunde sein herzlichstes Beileid auszudrücken. Die harten Schicksalsschläge, die diesen getroffen, hatten ihn tief erschüttert. Diese allseitige Teilnahme hätte dem Schloßherrn ein Trost sein können, aber das tiefe Leid, das er trug, hatte ihn apathisch und gleichgültig gemacht. Die ganze Trauerfeierlichkeit ging wie ein Traum an ihm vorüber. Er dankte für die vielen Beileidsbezeugungen, und schloß sich mit seinem Freunde in die Bibliothek ein. Die Bewirtung der vielen Gäste überließ er seinem Hausverwalter Kunz. Nachmittags sprengte ein Reiter in den Hof. Es war ein junger Mann von 30 Jahren in feiner französischer Kavalierkleidung. Er wurde auf Verlangen zum Schloßherrn geführt. Als die Türe der Bibliothek sich öffnete, stürzte er diesem in die Arme und rief: »Mein armer Bruder, wie beklage ich dich!«

»Ach, Otto, du bist's!« sagte Peter traurig. »Also du hast mein Unglück schon vernommen?«

»Ja,« erwiderte er, »ich hab's leider erfahren. Aber, was seh' ich – Herr Guébriant? Wer sollte Euch denn hier vermuten!? Sagt Euch Paris nicht mehr zu?« setzte er mit maliziöser Betonung hinzu.

»Ich war schon einige Tage hier, Herr van Este,« versetzte der Angeredete mit gemessener Höflichkeit. »Der Aufenthalt in Paris war mir nachgerade verleidet worden durch die unaufhörliche Folge von Einladungen zu Festlichkeiten, denen ich mich nicht entziehen konnte. Das ist nichts für mich. Ein solches Leben erschlafft und entnervt. Ich muß mich wieder betätigen und habe daher beschlossen, von neuem ins Heer zu treten, wo man mich jetzt gut gebrauchen kann.«

Peter ließ Wein bringen und bald befand man sich in angeregter Unterhaltung. Im Laufe des Gesprächs sagte Peter zu Guébriant: »Ich habe mir die Sache überlegt und mein Entschluß ist gefaßt. Ich werde mit dir gehen und zwar je eher je lieber. Hier ist meines Bleibens nicht mehr. Ich bin bereit, mit dir ins Heer einzutreten.«

»Das freut mich, Peter,« sagte Guébriant, »obschon ich die Veranlassung zu diesem Schritte sehr bedauere.«

»Dann werde ich wohl abreisen müssen, wenn du nicht mehr hier bist,« bemerkte Otto. »Ich gedachte einige Zeit hier zu bleiben ...«

»Wie, abreisen –! Wo denkst du hin, Otto?« erwiderte Peter. »Es wäre mir im Gegenteil sehr lieb, wenn du recht lange hier bliebest; denn siehe, gerade dir möchte ich während meiner Abwesenheit die Verwaltung des Kastells übertragen. Ich muß hier jemand zurücklassen, der nach dem Rechten sieht, und wer könnte mein Interesse besser wahrnehmen als du, mein allernächster Verwandter! Auch ist es um Lebens- und Sterbenswillen ... Natürlich hoffe ich,« setzte er ernsten Tones hinzu, »daß mein Bruder das Vertrauen, das ich in ihn setze, rechtfertigen wird. Im Uebrigen schalte und walte hier nach deinem Gutdünken und berichte mir von Zeit zu Zeit über das, was vorgeht. Solltest du irgendwie in Verlegenheit kommen und nicht wissen, wie du dich zu verhalten hast, so wende dich an den Ortspfarrer. Er ist der vertraute Freund unserer Familie und wird dir mit Rat und Tat zur Seite stehen.«

»Ich danke dir für deine Güte und dein Vertrauen«, erwiderte Otto im höchsten Grade überrascht und sah seinen Bruder erstaunt an. Dann beugte er sich rasch über sein Glas, denn er fühlte, wie Guébriant seinen forschenden Blick auf ihn heftete, gleich als ob er in seinen Gedanken lesen wollte. Und indem er demselben einen verstohlenen Gegenblick zuwarf, nahm er sein Glas und leerte es in einem Zuge. Hierauf sagte er zu seinem Bruder gewandt: »Du kommst mir da in der Tat sehr entgegen, denn auch ich sehne mich jetzt nach irgend einer Beschäftigung. Herr Guébriant hat recht: das Leben in der Hauptstadt hat etwas Aufreibendes und ein längerer Aufenthalt hier auf dem Lande wird mir zweifellos gut tun.«

Guébriant war das triumphierende Lächeln nicht entgangen, das blitzschnell über Ottos Züge glitt und er glaubte aus seinen letzten Worten einen leisen Hohn herauszuhören. Er begriff nicht, wie sein Freund in seinem Vertrauen so weit gehen konnte, diesen leichtsinnigen Kumpan allein im Hause wirtschaften zu lassen. Der würde ja das Unterste zu oberst kehren! Seine Augen ruhten daher eine Weile mit tiefem Ernst und stiller Sorge auf dem blassen, verlebten Gesichte des jungen Edelmanns.

Daß Peter van Este seinen charakterschwachen, verschwenderischen Bruder als Verwalter seines Gutes zurückließ, hatte vielleicht seinen Grund in der augenblicklichen Niedergeschlagenheit und völligen Gleichgültigkeit Peters gegen alles, was ihn umgab. Was lag ihm noch an seinem Besitze, nachdem er diejenigen verloren, um deretwillen sein Leben noch Zweck und Inhalt hatte! Auch gedachte er vielleicht seinem Bruder auf diese Weise einen Halt zu geben und ihn zu einem seßhaften Leben zu bringen.

Am nächsten Tage ordnete Peter seine Angelegenheiten, beriet lange mit dem Pfarrer und am darauffolgenden Morgen, nachdem er sich von Otto und der Dienerschaft verabschiedet hatte, ritt er mit seinem Freunde nach Breda und von da nach Paris. Er sowohl wie die andern Offiziere, die auf Veranlassung Guébriants ins Heer eingetreten waren, wurden vom König wohlwollend aufgenommen und sollten, wie sie das auch sehnlichst wünschten, sofort einem Truppenteil zugewiesen werden, um mit nach Deutschland zu marschieren.


Nach ungefähr zehn Jahren, in denen der Krieg fortwährend wütete, finden wir Guébriant als General am Niederrhein, und Peter van Este als Hauptmann in Gladbach wieder, wo er im Hause des Vit Nachtquartier mit seinen sechs Franzosen genommen hat. Van Este hatte von seinen Kindern nichts mehr gehört. Die wildbewegten Zeiten hatten den unglücklichen Mann hin- und hergeworfen. Im Getümmel der Kämpfe und Schlachten hatte er die gesuchte Ablenkung von seinen traurigen Gedanken gefunden und es gab Augenblicke, wo er sein großes Leid vergessen konnte. Dennoch hoffte er immer, daß eine Kugel seinem Leben, das ihm zur Last geworden, ein Ende machen würde. Aber der Tod schien ihn zu meiden, denn abgesehen von einigen leichten Verwundungen war er bisher unversehrt geblieben.

Die als tot betrauerte Maria van Este war indes, wie der freundliche Leser wohl schon erraten hat, nicht tot, sondern geraubt worden. Der Räuber hatte das Kind ergriffen und geknebelt, hatte dann die morsche Brücke zusammengetreten und war in den Wald geflüchtet, nachdem er den schwarzen Hut und die wollenen Ohrenklappen an einen Weidenstrauch gehängt, damit man glauben solle, das Kind sei ertrunken. Dadurch hielt er etwaige Verfolger von sich ab. Er setzte sich mit dem Kinde in einen im Walde verborgenen Wagen und brachte es der alten Kathrin, die in der Nähe von Muslikes in einer Waldhütte wohnte. Die alte Kathrin war Bettlerin, bereitete und verkaufte aber auch allerlei Pülverchen und Tränklein. Sie war als Hexe verschrien die sich mit Zauberei befasse und mit dem Teufel im Bunde stehe. Die arme Maria hatte bei der alten Frau sehr vieles auszustehen. Häufig wurde die Kathrin verfolgt, weil sie Geld erschwindelt und im Verdachte stand, Vieh behext zu haben, und dann flüchtete sie und suchte einen andern Schlupfwinkel auf. Das Kind wurde von Anfang an Eva genannt und hatte seinen richtigen Namen schließlich ganz vergessen. Die Kathrin wollte zwar nicht haben, daß Wilm sie mißhandle, denn das Mädchen sollte gesund und stark werden um für die Kathrin später Geld zu verdienen. Sie wollte es für ihre Zwecke gebrauchen. Nachdem nun das mißhandelte Mädchen von Brocksittard bei der alten Hexe weggelaufen war, und von Meister Jakob bei Gangelt gefunden wurde, hatte für das arme Kind ein anderes Leben begonnen und bei der liebevollen Behandlung in Meister Jakobs Hause hatte es sich zu einem hübschen Mädchen entwickelt. Kathrin schimpfte, und verwünschte Wilm, daß er das Kind fortgetrieben. Dieser schwur die kleine Kröte, wie er das Kind nannte, wiederzuschaffen, koste es was es wollte. Er war ja ärgerlich über sich selbst und hatte nie daran gedacht, daß das Kind einmal ausreißen könnte. Mutter und Sohn hielten es aber auch diesmal für geraten, bald aus der Gegend zu verschwinden und sich anderswo niederzulassen.


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