Theodor Wolff
Spaziergänge
Theodor Wolff

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Die toten Hündchen

(Bologna)

Die Bologneser Hündchen sind tot. Die Rasse dieser feinen, viel verhätschelten Tierchen ist in Bologna ausgestorben. Vielleicht, daß fern von der Heimat, in dem Boudoir einer koketten Schönheit, noch manch ein Nachkomme dieses edlen Geschlechts auf seidenen, parfümierten Kissen ruht, der degenerierte, müde Sprößling einer gefeierten Familie – aber der alte Glanz bleibt erloschen. Andere Hunde sind in die Mode gekommen, andere Hunderassen beherrschen die Welt. Es ist hier wie anderswo. Auf das zarte Aristokratengeschlecht der Bologneser Hündchen folgte der dicke Mops des Bürgertums – und nun bellt der unfrisierte Proletarierhund nach dem Knochen. . . .

Welch ein Rauschen stolzierender Pracht, welch ein Paradieren gezierter Moden, welch einen Tanz von Grazie und Anmut, welch einen Lärm übermütiger Streiche mag es hier gegeben haben, damals, als die feinen Hündchen noch lebten! Der Reichtum und die Festlust saßen als Herrscherpaar auf den Thronsesseln der Stadt und spendeten den Bewohnern diesen bunten Kotillon, wo Überraschung von Überraschung, 70 Lustbarkeit von Lustbarkeit abgelöst ward, wo die Farbenglut der Umzüge das Auge blendete, wo die Musik der silbernen Trompeten das Ohr betörte, wo Keckheit und Laune jedes Abenteuer wagten und unter der Oberfläche dieser Festwogen flüsternd die süßesten Geheimnisse lebten. . . . Hier hielten die Päpste und die Kaiser ihre Zusammenkünfte ab, hierher zog sich das reformationsfeindliche Tridentinische Konzil zurück, hier saß auch – eine herbe Erinnerung in all dem Glanz – König Enzio gefangen. Und wie ein Zeugnis dafür, daß die Glückssonne, die Lebenslust dieser Stadt selbst bis in die Kerker drang, klingt die Geschichte von jener schönen, verliebten, mutigen Lucia Vendagoli, die dem blonden Enzio Seele und Sinne, ihre Tränen und ihre Küsse weihte.

Noch sieht man an den alten Palästen, in denen einst die aristokratischen Hündchen auf Purpurpolstern gehegt wurden, die steinernen Wappen. Aber das Leben in den meisten dieser Paläste scheint erloschen, und die leeren Fenster starren auf die Straße, wie die seelenlosen Augen eines Toten.

Und doch braucht gerade diese Stadt die Buntheit des Lebens. Nicht einmal in Venedig hat man eine solche Sehnsucht nach ein wenig von dieser leuchtenden Farbe der Vergangenheit, nicht einmal in den Kanälen, im Angesicht des geflügelten Löwen von S. Markus, vermißt man so trübselig die Prunkgestalten der alten Nobili, all die in die Winde zerstreute, vom Hammer der Zeit zerschlagene Kostbarkeit. Der Gedanke an die vergangene, erloschene Größe ist in Venedig beinahe ein bitter-pikanter, poetisch-schmerzlicher Reiz mehr. Aber 71 ganz anders in Bologna. Die steinernen Bogengänge, die in allen Straßen, meist auf beiden Seiten, an den Häuserfassaden hingehen, erscheinen heute dumpfdrückend, wie kalte und feuchte Grabgewölbe, sie engen die Straße ein und versperren dem blauen Himmel den Einblick in das Leben. Und man spürt den fast quälenden Wunsch, hier lachende Farben, helle Gewänder, luftige Seiden, buntgrüßende Federn zu sehen, man empfindet, wie die einförmig-lustlose Tracht der Modernen das Bild noch drückender, kränklicher macht, und man möchte die geputzten Herren, die steifseidenen Damen, die zierlichen Gecken, die ausgelassenen Studenten verendeter Jahrhunderte aus ihren Gräbern beschwören. . . .

Noch Reise-Tagebücher aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts schildern Bologna als eine Stadt des beweglichen, eleganten Lebens, als die Stadt der Daseinsfreude, als die Stadt einer mit allen modernen Genüssen vertrauten Gesellschaft. Ich bin mehrmals und zu verschiedenen Jahreszeiten in Bologna gewesen und habe vergeblich diese Eleganz, diese Beweglichkeit, diese Daseins- und Genußfreudigkeit gesucht. Es scheint, daß die Stadt gerade in den letzten Jahren spießbürgerlicher, kleinlicher, vielleicht solider und vernünftiger geworden ist. Es sieht alles nach Einschränkung, nach Knappheit der Mittel aus. In wenigen italienischen Städten hat man so wie hier die Empfindung, in dem Lande des andauernden finanziellen Mißgeschicks zu sein.

In Italien kann man aus der Zahl der Equipagen, die man beim täglichen Korso sieht, niemals auf den Reichtum der Stadt schließen. Denn sonst müßte zum 72 Beispiel Neapel die wahre Millionärstadt sein. Wenn man aber irgendwo sehr wenig, auffallend wenig Fuhrwerk antrifft, dann kann man ganz sicher sein, daß hier die Dinge schlecht stehen. In den öffentlichen Anlagen vor Bologna, wo am Nachmittag eine Militärkapelle Straußsche Walzer und Verdi-Potpourris spielt, lenkte diesmal nur ein einziger parfümierter Lebemann seinen schweren Traber auf und ab. Freilich – und das ist immerhin ein mildernder Umstand – die Saison war vorbei; aber doch nicht so ganz, denn der Juni war kalt, mit manchem rauhen Regenwetter zwischen Sonnenschein und manchem grauen Wolkenhimmel, und die Villenbesitzer blieben hübsch in den Städten.

Man kann in Bologna ein paar neue, moderne Straßen sehen, die vernünftigerweise nicht nur im alten Stadtstil, dem Kolonnadenstil, sondern auch breit und luftig angelegt sind; die meisten davon liegen zwischen dem Bahnhof und jenem berühmten, wunderlich malerischen Hauptplatz, dessen feinen, verwitterten, wie mit einer Patina überzogenen Rahmen die unvollendete, in ihrer Größe doch graziös wie ein Altarschrein gedrechselte Fassade von S. Petronio, der Palazzo del Podesta, der Palazzo Publico und die alte Kaufmannskolonnade Portico de Banchi bilden. Im Bezirk dieser Straßen liegen die behaglich altmodischen Hotels, die Cafés – keine »europäischen« Cafés, wie man sie in Rom, Florenz und Mailand findet, sondern kahle, auf den italienischen Spukgeist eingerichtete Räume –, und von diesem Bezirk strömt das Leben aus, anscheinend ein gedämpftes, bedachtsames, nicht gerade langweiliges, aber auch gewiß nicht überschäumendes Kleinstadtleben.

73 Aber an einer Straßenecke sah ich einen großen Kreis von Menschen. Da standen die Bologneser, die nichts zu tun hatten, die Offiziere der Garnison, die Kaufleute, die aus ihren Läden herausgetreten waren, die Mädchen, die nach der hiesigen, im Volk noch gepflegten Mode das schwarze Haar auf der Stirn und vor den Ohren in unzähligen kleinen künstlichen Ringellöckchen festgelegt hatten. In der Mitte des Kreises stand ein großer Kerl mit langem Bart, deklamierte wie Salvini, fuchtelte mit den Armen wie ein Volkstribun und zeichnete mit einem Stück Kreide rund um sich herum, wie ein Nekromant, krause Beschwörungsfiguren auf das Pflaster. Dann zog er mit plötzlichem Griff einen kleinen Knaben, der noch die Schulmappe unter dem Arm hielt, aus dem Kreis des Publikums heraus und stellte ihn mitten zwischen die Zeichen. »Hier dieses unschuldige Kind wird es beweisen,« rief er mit der Stimme des siegesbewußten Propheten – »durch ein unschuldiges Kind soll es sonnenklar werden . . .« Und dann kam es an den Tag, was durch das unschuldige Kind bewiesen werden sollte – der Mann mit dem langen Bart war ein Verkäufer von Putzpulver, und die nekromantischen Zeichen, die Deklamation und das unschuldige Kind waren nur die Arabesken um die Putzpulverempfehlung, die Ausruferschnörkel, welche die Aufmerksamkeit des Publikums fesselten. Ich habe kaum jemals einen geschickteren, liebenswürdigeren Marktschreier gesehen. Und dieses Vielwortemachen um ein Nichts, dieses Drumherum- und Darüberweg-Tändeln, diese Leichtigkeit, dieses Schwelgen im leeren Wort, das alles ist auch so echt, so liebenswürdig, nur in Italien zu finden. – –

74 Wenn man von dem großen Platz aus durch viele Straßen gewandert ist, wo man auf den Säulen der offenen Hallen manch schönes Kapitäl, über den Kolonnaden manch deliziöse Palastfassade entdeckt, wo überall, nach einem in Bologna einmütig herrschenden, nicht genug zu lobenden Brauch, rötlichbraune, distinguierte Rouleaus die Fensterhöhlen verdecken – wenn man so durch lange Straßen gewandert ist, so kommt man schließlich zur Accademia delle Belle Arti. Man steigt hinauf und spaziert durch die Korridore und Säle, zunächst mit einer gewissen zagen Scheu, mit jener blassen Furcht, das Urteil nicht zu übereilen, dann mit einer wachsenden Unruhe, zuletzt mit einer nervösen Ermattung. Man sieht die riesigen Bilder der Maler des 17. Jahrhunderts, der Bologneser »Nachblüte«, diese prunkhaften Madonnenkrönungen, diese raffinierten Martyriumsszenen, diese affektierten Anbetungen, sieht diese Bildtafeln, auf denen jedes Empfinden zur Pose erstarrt ist, wo jeder Ausdruck vorgeschrieben scheint, wo die Gesten und Mienen der Frömmigkeit, des Leidens und der Freude, einstudiert scheinen, wo der heilige Sebastian immer wieder den körperlichen Schmerz mit geknickten Knien markiert, wo die fromme Innigkeit durch ein Seitenneigen des Kopfes, die himmlische Verzücktheit durch einen komödiantischen Augenaufschlag dargestellt wird. Man sieht die Bilder der Francia, der Domenichino, der Guido Reni und Lorenzo Costa und empfindet das alles wie ein Theater, aber wie das Theater einer innerlich armen, Gefühl und Seelenwärme heuchelnden Zeit.

Es ist unbegreiflich, daß ein in aller barocken Launenhaftigkeit doch so feinblickender Amateur wie Stendhal 75 sich zum Verteidiger dieser Bologneser Malerei aufwerfen konnte. Ist es nur, weil er in den Salons von Bologna, wo die kleinen aristokratischen Hündchen damals noch an die zierlich beschuhten Füßchen schöner Herrinnen sich schmiegten, sich so wohl bekunden hat? Er blieb immer der Pariser Aristokrat, suchte das Parfüm der Boudoirs und Opernlogen, konnte Florenz keinen Reiz abgewinnen, weil das Leben dort nicht die lächelnde Eleganz und den Esprit des Mailänder Gesellschaftslebens hatte, und fuhr durch Siena durch, ohne sich umgesehen zu haben, weil er einen Mailänder traf, der weiter wollte, und mit dem er unterwegs von den Begebnissen der Mailänder Welt plaudern konnte.

Die Heiligenmaler des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts waren gewiß keine schlechten Maler; warum langweilen ihre Bilder? Ah, sie langweilen nicht nur, sie wirken abstoßend. Im vierzehnten und auch noch im fünfzehnten Jahrhundert war ein Teil der Heiligenmaler in einem wirklichen religiösen Ernst, ein anderer wenigstens in einem sentimentalen Empfinden, einem romantischen Gefühlsschwelgen befangen gewesen, und dieser Ernst, dieses Empfinden haben sich in den Bildern ausgedrückt. Als die Renaissance die religiösen Anschauungen modelte, trat an die Stelle jenes Ernstes eine festliche Heiterkeit, und eine Kunst erstand, welche diese Heiterkeit, diese Festesfreude tausendfach wiederspiegelte. Jetzt war aber auch die Heiterkeit erstorben. Nichts blieb mehr übrig, als ein bißchen Raffinement. Die fromme Sehnsucht der Heiligen, der körperliche Schmerz der Märtyrer, die Verzücktheit der Frommen wurden für die Maler nur Mittel, um die Nerven und 76 die Sinne ihres übersättigten Publikums zu erregen. Sie fühlten sich verpflichtet, zu malen, was ihre Vorgänger gemalt, und merkten gar nicht, daß jene damit wirklich die eigenste Persönlichkeit und den Charakter ihrer Zeit ausgedrückt hatten, während sie, die Nachkömmlinge, sich mühselig die Effekte zusammensuchten. So kommt es, daß auch Maler wie Annibale Carracci und Allori, deren profane Bilder noch heute jeder mit Vergnügen sieht, in ihren religiösen Prunkstücken unerträglich sind.

Das, was die italienische Malerei damals hätte retten können, fehlte den Malern, weil es dem italienischen Wesen überhaupt fehlt: der intime Zusammenhang mit der Natur, die Fähigkeit des Tiefblickens, die von allem Pathetischen losgelöste Gabe der Beobachtung. So trat der Norden mit seinem Naturgefühl, seinem Sich-Versenken-Können, an die Stelle des im Prächtigen schwelgenden pathetischen Südens, Ruysdael malte seine Landschaften, und die Poelenburg und Terborch, die Brouwer und van Mieris, die Schalken und Steen, die Wouwermann und Ostade schilderten das Leben, wie es ist. Die italienische Malerei aber war tot, tot in dem Moment, wo sie glaubte, sich nicht mehr entwickeln zu sollen. Es gibt allerdings keinen Fortschritt über ein gewisses Maß hinaus, das heißt, über das Genie hinaus. Aber es gibt eine Entwickelung der Form, die mit dem Genie gar nichts zu tun hat, eine Zeitgemäßmachung der Kunst.

Nur einen einzigen Italiener gab es, der um jene Zeit all das besaß, was den andern fehlte – die Behauptung des eigenen Ich gegenüber den Satzungen 77 der Schulen, den Zusammenhang mit der Natur, das unpathetische Sich-Selbst-Geben-Können. Und dieser eine, einzige, war Correggio. Die unbegrenzte Dankbarkeit gegen den göttlichen Geist, die aus der gesunden Schönheit seiner Bilder spricht, war seine Frömmigkeit. Unbekümmert um die Regeln der Akademien und Ateliers, ließ er seine Natur, die zugleich die Natur seines Volkes war, heiter, sinnlich, daseinsfreudig in seinen Werken sich spiegeln. Wie der Verkündiger der lebendigen Liebe, Boccaccio, zu dem blassen Deklamator Petrarca, wie der das Wirkliche in den Fingerspitzen spürende Watteau zu dem steifen Theatraliker Poussin, so stellt sich Correggio zu den Bolognesen. Er ist voll von einem unendlichen Lebensgefühl, und in einer Zeit, wo die kleinen Hirnchen in engen Mauern mit Theorien sich quälen, findet er allein den Weg hinaus in die lachende Sonnenfreiheit der Natur.


Und wie nah verwandt der Geist des Correggio seinem Lande ist, wie er gleichsam aus diesem Boden aufgesprossen ist, das sieht man erst, wenn man im Frühsommer das oberitalienische Tal- und Höhenland durchstreift, in der Eisenbahn, in der Postkutsche, im Wagen oder zu Fuß. Wenn es gar ein Juni ist wie dieser, wo die Sonne keine sengende Schärfe hat, wo sie leuchtet, ohne wehe zu tun, wo kein weißgrauer Staub die spitzen Pyramiden der Zypressen umzieht, dann genießt man, wie in keinem anderen Monat des Jahres, den duftdampfenden Segen des Landes. Auch wer die unscheinbare, aber innerliche Herbheit der nordischen 78 Landschaft liebt, wie ich sie liebe, wird in den Hügeln Toskanas die jubelnde Lebensfülle wie die reichste Offenbarung der geheimnisvollen Kybele empfinden, aber neben dieser Lebensfülle, dieser Pracht der Fruchtbarkeit wird er vielleicht noch etwas wie eine harmonische milde Melancholie in dieser Landschaft ahnen, gleichsam die zweite Seele, die bisweilen in den feinsten Werken der altitalienischen Kunst unter dem heiteren Glückslächeln zu dämmern scheint. 79

 


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